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Mit Dragon Kiss und den Nachfolgebänden Dragon Dream, Dragon Touch und Dragon Fire hat die Autorin G.A. Aiken (“… verbringt die meiste Zeit mit Schreiben und dem Versuch, ihren Hund daran zu hindern, sich von der Leine loszureißen.”), nicht nur die Qualitäten des Drachenliebhabers für uns erschlossen, sondern auch aufgezeigt, welche literarischen Dimensionen sich durch den phantastischen Einschlag in einer nur scheinbar simplen Liebesgeschichte eröffnen. Aus der Inhaltsangabe:

Eigentlich ist die Kriegerin Annwyl zäh und widerspenstig. Bis sie dem Drachen Fearghus über den Weg läuft und zu Wachs in seinen Klauen wird. Denn er ist groß, gut aussehend – und absolut tödlich. Und er hat bisher noch nie Widerworte bekommen …

Wir freuen uns, eine renommierte Expertenrunde begrüßen zu dürfen, die Aikens Werk für uns unter die Lupe nimmt: Mag.erl, Dr. gastropodicus Fremdling, MU (Master of the Universe), MWA (Master of Wobbling Antennae), Frau Dr. phil. brüll. Colophonius Stilblüt-Schnatterheimer, Dr. botanicus Bohn, Magistra des losen Mundwerks, Dr. Ulfilas Sans-Merci und als Gastgeberin Dr. rer. sterc. Scarabäus, Hohebibliothekarin des literarischen Misthaufens.

Dr. rer. sterc. Scarabäus: Der Drache als Objekt der Begierde ist ein Gesichtspunkt, der bei der bisherigen Abhandlung der Konstellation Drache-Jungfrau stets vernachlässigt worden ist. Inspiriert von allerhand glitzernden, haarig-mondsüchtigen und sonstigen paranormalen Liebhabern wird der subtilen Symbolik des Drachen nun dieser innovative Ansatz abgewonnen und eine Leerstelle behoben, die uns allen schon immer sauer aufstieß, oder nicht?

Mag.erl, Dr. gastr. Fremdling, MU, MWA: Es geht einem ja oft so, dass einem manche Dinge erst fehlen, nachdem man sie einmal gehabt hat. Nachdem ich also nun in den Genuss dieser Perspektive gekommen bin, kann ich sagen: Dieses Buch hat mir Momente verschafft, die ich wohl nie wieder vergessen (können) werde.

Dragon Kiss von G.A. AikenDr. rer. sterc. Scarabäus: Widmen wir uns zunächst dem geschickt gewählten Beginn in medias res (s. Leseprobe). Gleich mit einer Situation auf Messers Schneide einzusteigen, alle Achtung. Der sich entrollende Schwanz schon im zweiten Absatz kündigt Großes an – und dann: zerreißende Organe, strömendes Blut, lächelnde Soldaten. Spannung und Action pur, mit diesem gewissen poetischen Etwas. Lesen Sie selbst: Der Stahl sirrte durch die Luft, hieb durch den Mann hindurch und trennte ihm den Kopf vom Hals. (S. 11). Ist das nicht der Inbegriff einer gelungenen Kampfszene?

Frau Dr. phil. brüll. Colophonius Stilblüt-Schnatterheimer: Ich finde es äußerst bemerkenswert, wie das geschildert wird. Dieses kurze Innehalten, Augenschließen, kurz bevor man (eh nicht) getötet wird, kennt das nicht jeder von uns? Und dann dieser ungemein findige Trick, zuzuschlagen, wenn der Gegner seine Deckung preisgibt. Dass es dazu noch Tipps von Papa braucht, ist irgendwie bedauerlich …

Dr. bot. Bohn: Es ist aber nicht die kriegerische Finesse unserer Heldin, die den Kampf entscheidet, sondern das unerwartete Eingreifen von Fearghus, dem gelangweilten Drachen von nebenan. Was sagen Sie zur Charakterisierung dieses Drachen?

Dr. rer. sterc. Scarabäus: Die eloquente Vorstellung des Drachen mit den Worten “Aye. […] Mein Name ist Fearghus.” (S. 16) lässt auf einen gemeinen Highlander-Drachen schließen. Schuppen sind der neue Kilt.

Frau Dr. phil. brüll. Colophonius Stilblüt-Schnatterheimer: Wenn es ein schottischer Highlander-Drache ist, was trägt er dann unter den Schuppen?!

Dr. bot. Bohn: Wie die ausgesprochen subtilen Andeutungen in Sachen drachischer Schwanzlänge nahelegen, kann er unter den Schuppen eigentlich nur eines verbergen: Seine herausragenden inneren Werte!

Mag.erl, Dr. gastr. Fremdling, MU, MWA: Darf ich die Aufmerksamkeit in diesem Zusammenhang auf dieses Satzfragment lenken: “Wie seine Stimme, wenn er sprach.” (S. 18) Wie hört sich seine Stimme an, wenn er nicht spricht? Hören sich unser aller Stimmen vielleicht besser an, wenn wir nicht sprechen? Können wir das von diesem Drachen lernen?

Dr. rer. sterc. Scarabäus: Was die Betonung innerer Werte angeht, sollten wir definitiv von den Drachen lernen, denn sie kennen nicht nur die Wirkung der inneren Stimme: In Dragon Touch

“Dagmar ist eine kleine Frau mit praktischer Kleidung und stahlgrauen Augen hinter einer strengen Brille. Ein Eisklotz in Menschengestalt, der sich ob der Reize von Gwenvael dem Schönen völlig unbeeindruckt zeigt. Doch Gwenvael setzt ihrer Zurückhaltung sein ganz eigenes Feuer entgegen.” – aus der Inhaltsangabe

kommt es ganz offensichtlich auf innere Werte an, die mit “praktischer Kleidung” (kein Cape!) und “strenger Brille” geschickt in Szene gesetzt werden. Was ist vom weiblichen Klotz als Gegenpart des geschmeidigen Schöndrachen zu halten?

Dragon Actually von G. A. AikenFrau Dr. phil. brüll. Colophonius Stilblüt-Schnatterheimer: Zu diesem Thema empfehle ich mein Buch Klotz im Wandel der Zeiten. Neben Dagmar sind auch weitere Klötze berühmt geworden, unter ihnen besonders Räuber Hotzenklotz sowie Klotz der Quadratische, der Vorbild für die Legosteine wurde. Doch die Kälte der Eisklötzin Dagmar sucht ihresgleichen. Nicht einmal der Eisklotz, der die Titanic zum Sinken brachte, war kälter als sie.
Aber ich schweife ab …

Dr. Ulfilas Sans-Merci: Apropos “Klotz”: Klotzt die Autorin in ihren Romanen nicht mit pseudo-emanzipierten Frauenfiguren, die all ihre Unabhängigkeit und Stärke verlieren, sobald heißer Drachenatem über sie hinwegfegt?

Mag.erl, Dr. gastr. Fremdling, MU, MWA: Ich habe mich gefragt, ob wir es hier nicht mit einer der subversivsten Dekonstruktionen von Geschlechterrollen zu tun haben! Die toughe Kriegerin, die unbewusst nur auf den geeigneten Mann zum Sich-Hingeben wartet, greift viel zu kurz. Betrachten wir unsere Protagonisten einmal genauer:
Wir haben einen männlichen Drachen, der jedoch in seiner häuslichen Rolle keineswegs einen Übermann darstellt, sondern vielmehr eine subtile Anspielung auf das Klischee des “Hausdrachen”, also der ebenso eifer- wie keifsüchtigen Ehefrau. Ersteres drückt sich im Verjagen der männlichen Krieger aus, letzteres durch seine Fähigkeit des Feuerspuckens. Fearghus ist außerdem eine nur von Eingeweihten zu entschlüsselnde Anspielung auf Xanthippe, dem Archetyp des “Hausdrachen”.
Annwyl wiederum ist, obwohl eigentlich eine Frau, so überaus männlich konnotiert, dass sie sofort die stereotype Rolle im Höhlenhaushalt einnimmt – herumliegen und sich bedienen lassen. Zuvor hat sie im Kampf ihre männlichen Qualitäten unter Beweis gestellt, indem sie angesichts “zerrissener Organe” nicht herumgejammert hat – vgl. den sprichwörtlichen Indianer. Unter ihrem maskulinen Blick verwandelt sich der Hausdrache in ein übersexualisiertes Lustobjekt, dessen Objektstatus besonders durch die Betonung bestimmter Attribute – Hörner, überlanger Schwanz – deutlich wird.
Um es nochmal kurz zusammenzufassen: Der männliche Drache ist eigentlich eine Frau, weshalb sich die weibliche Annwyl, die eigentlich ein Mann ist und damit nach modernen Klischeevorstellungen ständig bereit zu blitzdrachenmäßigen Entladungen, auch so an ihm erregen kann – sie ist damit eigentlich keine “läufige Hündin” (lt. Amazon S. 243), sondern eher ein räudiger Köter – und der subversive Bruch besteht nun darin, dass er (also sie) ihr (also ihm) “sein Zeichen ins Fleisch zu brennen” (lt. Amazon S. 245) vermag, weil das mit den konstruierten Geschlechterstereotypenkonstellationen bricht! Alles klar?

Dr. Ulfilas Sans-Merci: Nein! Denn diese auf die Paarbeziehung verengte Sichtweise lässt den historischen Kontext völlig außer Acht. Angesichts der Tatsache, dass der als Bruder der Heldin erwähnte Lorcan anscheinend schon 1225 heiliggesprochen wurde, sehe ich das Ganze mittlerweile eher als ins Gewand einer Liebesgeschichte gehüllte Metapher auf das Ringen von christlicher und paganer Ethik im mittelalterlichen Irland. Fearghus ist ein Repräsentant der alten heidnischen Ethik, in der der “heroische” Einzelkampf zweier Anführer genügt, um einen Krieg zu beenden.
Dementsprechend haben für ihn auch Beinamen wie “der Zerstörer”, “der Schlächter” oder “die Blutrünstige” eher einen ehrenden Charakter, während Annwyl, unterbewusst beeinflusst durch ihren eindeutig christlichen Bruder, schon eine Umwertung vorgenommen hat und deshalb auch das Ritual des Bades im Blut des erschlagenen Gegners (in Sagen gut belegt, siehe etwa Siegfrieds Bad in Drachenblut) ablehnen muss. Beeinflusst von missionarischer Propaganda verdächtigt sie ihren heidnisch-andersweltlichen Gastgeber, seine Gäste verzehren zu wollen, und ist sich der geheiligten Bedeutung der Gastfreundschaft für tribale Kulturen nicht bewusst – einer Gastfreundschaft, die freilich immer eine Beziehung ist, die auf Gegenleistungen beruht, wie Fearghus durch die Andeutung, dass er einen Gefallen einfordern wird, subtil deutlich macht.
In Bezug auf den anscheinend irisch konnotierten Handlungsort kommt darüber hinaus dem mehrfachen Verweis auf abgeschlagene Köpfe eine nicht zu unterschätzende Bedeutung zu (Thema keltischer Kopfkult): Ein Rückgriff auf alte Traditionen, mithin ein Abschlagen des Kopfes des besiegten Gegners, könnte, wie Fearghus klar erkennt, der pagan-keltischen Lebensweise noch einmal zum Durchbruch verhelfen. Die Tatsache, dass auch Annwyl trotz ihrer Bedenken gegen heroisch-lobende Beinamen instinktiv im Kampf zum altbewährten Mittel der Enthauptung greift, deutet darauf hin, dass sie zwischen den Kulturen hin- und hergerissen ist (wie auch ihre Unsicherheit, was mit ihrer Seele nach dem Tode geschehen wird – ganz offensichtlich ist sie mit mehreren Jenseitsvorstellungen vertraut).
Die den gesamten Text durchziehende Sinnlichkeit ist angesichts all dessen nicht Selbstzweck, sondern vielmehr Ausdruck heidnisch-dionysischer Lebenswirklichkeit, während Bischof Lorcans Versuch, seine Schwester durch männliche Krieger töten zu lassen, als Symbol der asketisch-christlichen Ausmerzung insbesondere weiblicher Körperlichkeit zu werten ist (siehe auch die Vorstellung der Militia Christiana).

Dr. rer. sterc. Scarabäus: Wir danken für Ihre erhellenden Analysen, meine Damen und Herren! Lesen Sie demnächst, wie sich unser literarisches Quintett der  Interpretation des “Nacktkriegers” annimmt.

Zettelkasten

Dieses Mal kapert das Schneckerl die zwergische Kolumne und begibt sich in die Gefilde der Science Fiction und zwar mit Hiroshi Yamamotos The Stories of Ibis: Eine Anthologie, bei der mich schon das Cover neugierig gemacht hat. Sie enthält sieben Erzählungen, die schon zuvor in verschiedenen Magazinen veröffentlicht worden sind und die der Autor nun durch eine  Rahmenhandlung geschickt miteinander verknüpft hat. Darin nimmt er nicht nur das übergreifende Thema der Mensch-Maschine-Beziehungen auf, sondern präsentiert bereits im Rahmen des Textes erste Reflexionen über die Geschichten. Außerdem legt er darin einer der Figuren ein Plädoyer für phantastische Literatur in den Mund, das ich nur allzu gern dem Feuilleton unter die Nase halten würde.

Worum geht’s überhaupt? The Stories of Ibis beginnt mit einem terminatoresken Szenario: Maschinen haben (anscheinend) die Macht auf der Erde übernommen, die Menschen fristen abseits der Macht ihr Dasein, fühlen sich unterdrückt und verfolgt. Protagonist der Rahmenhandlung ist ein Geschichtenerzähler, dem von der titelgebenden Ibis, einer Androidin, wiederum Geschichten erzählt werden. Doch anstatt zur wohlbekannten Horrormär davon zu greifen, wie der Mensch Geister (in der Maschine) rief, die er nicht mehr loswurde, beleuchten die Erzählungen das Verhältnis von Mensch und Maschine in vielfältiger und einfühlsamer Weise.

Die Geschichten folgen dabei einer gewissen Chronologie, bauen aber nicht aufeinander auf, abgesehen von der siebten Geschichte, die sowohl in Beziehung zur Rahmenhandlung steht, als auch die anderen Erzählungen spielerisch aufgreift. Während die erste in der Gegenwart (mit entsprechender Technologie) angesiedelt ist und eine Online-Community unter einem anderen Gesichtspunkt als der sozialen Verwahrlosung betrachtet, wofür ich persönlich sehr dankbar war, steigt bei den weiteren Geschichten das Technologieniveau langsam an. Eine eigene Erzählung ist der Entstehung einer Künstlichen Intelligenz gewidmet und schließlich werden Androiden entwickelt und als Arbeitskräfte eingesetzt. Dementsprechend werden auch die Themen zunehmend philosophischer und entwickeln sich von der Interaktion von Menschen mithilfe von Maschinen zur Beziehung von Mensch und Maschine zueinander. Das heißt aber beileibe nicht, dass das Buch auch zunehmend langatmiger und schwerer wird. Die Geschichten bleiben spannend, ganz ohne Actionspektakel, tiefsinnig, ganz ohne Schlaftablettenwirkung, und behandeln große Themen, ganz ohne Epik.

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The Stories of Ibis erschien im Jahr 2006 unter dem Titel Ai no Monogatari auf Japanisch und wurde 2010 bei Haikasoru (VIZ Media LLC) in der englischen Übersetzung von Takami Nieda veröffentlicht. ISBN 13: 978-1421534404.

Über den Tellerrand

Neue Inhalte

Es gibt alle paar Jahre bestimmte Design-Elemente, die sind scheinbar nur dafür geschaffen worden, einst auf einem Fantasy Cover zu landen. Aktuell sind es Kapuzenmännlein, davor waren es Schwerter und Äxte im Boden und davor war es wohl die halb nackt schmachtende Amazone am Fuße des von Muskeln verbeulten Kriegers. Wenn irgendwo noch ein Drache herum drapiert werden kann, umso besser.
Wie oft haben wir das schon gesehen? Wie viel öfter haben wir darüber schon den Kopf geschüttelt? Fantasyleser sollten eine Gefahrenzulage wegen zu erwartender Schädeltraumata verlangen.

Wenn ein Cover wenig bis nichts mit dem Inhalt zu tun hat, dann hat man es meistens mit einem dieser generischen Cover zu tun. Trends machen auch vor Büchern nicht Halt, und nur selten entsteht dabei auch mal etwas Brauchbares.
Natürlich kann man kaum darauf hoffen oder gar verlangen, dass jedes Buch ein schickes Cover mit einer tollen individuellen Illustration bekommt, die genau zu diesem einen Buch passt. Aber müssen es als Ersatz gleich diese stereotypen, immer wiederkehrenden Motive sein? Könnte man es nicht auch anders angehen und einfach mal versuchen, das Wort -Ästhetik- zu berücksichtigen? Wenn den Verlagen oder Gestaltern schon nichts besseres einfällt, als zu solch einem Cover-Klon zu greifen, könnte man es dann nicht einfach neutral halten? Muss man einem Cover aufgrund seiner Unzumutbarkeit ansehen, dass es zum Fantasy-Genre gehört? Man könnte manchmal glauben, es herrsche eine regelrechte Furcht davor, der Fantasyleser sei nicht intelligent genug sein Genre auch ohne Schmuddelcover zu finden.

Die Glasbücher der Traumfresser von Gordon DahlquistEin paar Verlage trauen sich glücklicherweise gerne mal zu experimentieren und bringen dabei echte Perlen hervor. So geschehen z.B. bei Gordon Dahlquists Glasbüchern, bei denen die Typographie zum Gestaltungselement wird. Keine verunglückten Versuche, einen der Protagonisten  darzustellen, keine leuchtenden Schwerter im Boden, kein Kapuzenmann mit glühender Hand. Wie viele von euch kennen das Buch trotzdem? – Na bitte!

Oder betrachten wir R. Scott Bakkers Prince of Nothing, der mit einem einfachen Tuchmuster im Hintergrund zu glänzen vermag. Simpel, relativ schnell zu machen und wirkungsvoll.

The Prince of Nothing von R. Scott Bakker
Man könnte statt des Tuchmusters auch die fast immer vorhandene Weltkarte zum Buch nehmen und damit ähnliche Effekte erzielen. Es wäre so einfach, ästhetische Buchcover ganz ohne erzwungene Illustrationen zu erstellen, die auch noch durch ihr untypisches Aussehen auffallen. Warum also immer so kompliziert?

Natürlich ist es Geschmackssache, was einem gefällt oder nicht. Ich persönlich würde mir lieber 100 solcher neutralen Gestaltungsformen ins Regal stellen, bevor ich auch nur eine einzige Stilblüte anschaffe wie diese:

Schmuddelcover

Da brennen einem die Augen und das Fremdschämen ist ganz klar vorprogrammiert. Es leuchtet, es blitzt, es wird gespiegelt und personifiziert, was das Zeug hält. Falls jemand noch scheußlichere Beispiele auf Halde hat: meine Meckerkiste ist groß und geräumig!

Seien wir ehrlich. Womit traut ihr euch eher, in der Bahn oder dem Bus gesehen zu werden?

Scriptorium

Achtung: Der folgende Artikel beschäftigt sich mit Buchenden. Er könnte Spuren von Spoilern enthalten, allerdings höchstens als Tendenz und möglichst allgemein formuliert, außerdem beziehen sich die meisten Beispiele auf Klassiker.

Gute Enden sind rar, denn selbst, wenn alles gestimmt hat, am Ende eines Romans oder gar einer ganzen Buchreihe gibt es häufig etwas zu bekritteln: zu abrupt, zu einfach, zu schnell, zu viel auf einmal, zu positiv, zu negativ, zu offen, zu vollständig … die Liste ließe sich lange fortsetzen. Ob man ein Buch zufrieden zuklappen kann, ist beinahe genauso entscheidend für das endgültige Verdikt wie seine ersten Zeilen und das Interesse, das sie zu wecken vermögen. Bei den Fragen nach der Eindeutigkeit des Endes und dem Abschluß sämtlicher Handlungsfäden scheiden sich jedoch die Geister – wie bei der Toleranz gegenüber Happy endings.

In Mehrteilern wird das Problem erst recht manifest: Ein Finale, das all das einlösen (und auch noch toppen) kann, was über tausende Seiten aufgebaut wurde, das die Erwartungen befriedigt, aber möglichst noch überrascht und allem die Krone aufsetzt – wie sollte so etwas aussehen? Bei Mammutwerken ist eine Enttäuschung nur schwer zu verhindern, es sei denn, die gewählte Struktur gliedert sich nicht serienübergreifend in Anfang, Mitte, Ende, strebt keinem gesetzten Höhepunkt oder Finale entgegen und baut keine derartige Erwartungshaltung auf.
Der eigentlichen Schwierigkeit, die die Gestaltung eines guten Endes bietet, müssen sich allerdings auch AutorInnen weniger umfangreicher Werke stellen: Alles, was anfangs heraufbeschworen wurde und in der Imagination der Leserschaft unzählige Möglichkeiten eröffnet hat, wird wieder auf einen einzigen Punkt zusammengeführt. Wo vorher noch mit Erwartungen gespielt, der Entdeckergeist angeregt und mit Ideen begeistert wurde, muß nun eine Lösung alle Versprechungen erfüllen. Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, daß sie gut ankommt? Oder eine ist, an die noch niemand gedacht hat? Denn das sind die Ansprüche, die wir an Enden stellen – sie sollen “das Richtige” sein, aber auch einen Kniff bieten und nicht nur das liefern, womit wir gerechnet haben. Kurzum: Das Ende hat einen Sonderstatus innerhalb einer Erzählung inne.

Rundum gut soll es keinesfalls sein, denn “Friede, Freude, Eierkuchen” ist kein Ausdruck großer Anerkennung. Happy endings sind als unrealistisch stigmatisiert, ein schlechtes Ende – ein Scheitern – garantiert dagegen eine gewisse Aufmerksamkeit durch das Befremden der LeserInnen: Wir sind es gewohnt, daß uns Geschichten nicht mit durchweg negativen Emotionen im Regen stehen lassen.
Mit Erwartungen und Traditionen brechen, den Leser aufstören, seine Naivität und Trostsehnsucht und seinen Hang zu einfachen Erklärungen und Lösungen aufdecken, gehört allerdings zur Aufgabe der Kunst. Ist also das schlechte Ende dem guten objektiv überlegen, zaubert der Autor damit einen besonders tollen Trick aus dem Hut?
Zunächst kann es ein mindestens ebenso simpler Kniff sein wie eine Überdosis Zuckerguß: Ängste, Befremden und Entsetzen sind in der Regel leichter zu provozieren als unkitschiger Trost oder Hochstimmung. Es ist gut möglich, daß das vorgeblich so nüchterne und realistische negative Ende noch stärker auf emotionale Schlüsselreize setzt als ein Happy ending, das, um zu überzeugen, auf viel Vorarbeit bauen muß und sich nicht nur auf einen Aha-Effekt verlassen kann.
Der Grat ist schmal, entscheidend sind literarische Qualität und eine gewisse Aufrichtigkeit, um den Leser zu befriedigen – falls das bei negativen Enden überhaupt die Intention ist. Denn davor steht die Frage: Muß ein Ende denn befriedigend sein – und muß jede Geschichte beendet werden?

Unserer Neigung zufolge, die Wirklichkeit in Geschichten zu ordnen und zu gliedern: Ja. Grundsätzlich verlangt es uns nach vollständigen Einheiten, im Leben wie in Geschichten wünschen wir uns Abschlüsse und Neuanfänge.
Gerade in den hermetischen Geschichten, wie sie die Fantasy häufig erzählt, ist ein offenes (oder z.T. auch negatives) Ende nur ein Abschieben dieses Abschließens der Geschichte auf die Leserschaft. Die Erschütterung und das Spannungsgefühl, das dabei erhalten bleibt, zwingen regelrecht zu einer längeren Beschäftigung mit der Materie. Von einem offenen Ende fühlt man sich mitunter um einen Schlußstrich betrogen.
Vielbändige Zyklen mögen zwar etwas anderes implizieren, doch kaum einer wünscht sich wie Michael Endes bibliophiler Held Bastian Balthasar Bux eine Geschichte, die niemals endet. Der Zorn der LeserInnen, wenn wieder einmal eine Reihe vorzeitig abgebrochen wird, mag dafür als Indiz gelten.
Mit solchen Traditionen kann (und soll) man brechen, wie es etwa Miéville mit seinem im Stillstand endenden Iron Council (dt. Der eiserne Rat) tut, doch dazu braucht es schon ein gewieftes Konzept, um der narrativen Syntax noch gerecht zu werden. Was allerdings im Einzelfall als vollständige Geschichte empfunden wird und wie sehr LeserInnen es genießen können, literarisch befremdet und vor den Kopf gestoßen zu werden, ist freilich Geschmackssache.

In der Praxis sind die Enden stark vom Genre beeinflußt: Das negative Ende ist eher im Horror (oder nahe verwandten phantastischen Spielarten) zu finden, also dort, wo Texte tatsächlich verstören sollen. In der Fantasy sind negative Enden, in denen der Held scheitert und/oder stirbt, sehr selten: Da muß ein Held schon von seiner ganzen Konzeption her aufs Scheitern zusteuern wie Moorcocks Elric, damit auch das ein würdiger Abschluß sein kann, oder ein großes Ideal scheitern und untergehen wie in The Once and Future King (dt. Der König auf Camelot, T. H. White). Auch Tolkien mit seinen Bezügen auf epische Vorbilder läßt den Fall seiner Helden wie in Die Kinder von Húrin zu. Und in der Tolkien-Reprise The Sundering (dt. Elegie an die Nacht, Jacqueline Carey) mag das Böse zwar stilecht verlieren, doch damit scheitern auch die Protagonisten der Geschichte. Bei universellen Geschichten von Geburt und Tod, Ordnung und Chaos, Schöpfung und Untergang liegen negative oder offen-zyklische Enden nahe.

Die Fantasy hat häufig noch einen dritten Typus des Endes zu bieten, das ‘melancholische Ende’. Die erzählerische Struktur mit einer wie auch immer gearteten Heilung der Welt, die ihren Preis hat, oder auch ein zyklischer oder um Balance bemühter Weltenbau, der häufig anzutreffen ist, erfordern geradezu einen Abschluß mit einem lachenden und einem weinenden Auge. Bei der großen Anzahl an wichtigen Figuren, die die epische Fantasy in der Regel aufbietet, sind außerdem gewisse Verluste abzusehen. Erst durch ein ambivalentes Ende stellt sich bei vielen klassischen Fantasygeschichten das Gefühl der Vollständigkeit ein.
Tolkien jedoch, der mit dem Herrn der Ringe einen Prototypen für das melancholische Ende geschaffen hat, der eine “geminderte” Welt und einen stark kriegsversehrten Protagonisten zurückläßt, bezeichnet in Über Märchen das positive Ende – für ihn der einzig zulässige Abschluß märchenhafter Geschichten – als Eukatastrophe, eine “plötzliche Wendung zum Guten (denn kein Märchen hat ein echtes Ende)”.* Für ihn werden diese Geschichten künstlich mit einem formalisierten Schluß beendet, nachdem durch die Eukatastrophe gemäß Tolkiens christlicher Prägung der Erlösungsgedanke verwirklicht wurde. Genau diese Eukatastrophe ist es, die vielen Verächtern des Happy endings sauer aufstößt, ein unrealistisch-tröstlicher Umschwung im Finale. Tolkien selbst wußte allerdings  anders als viele seiner Nachfolger gut, wie er diesem Seelenbalsam eine bittere Note verleihen konnte.

Das melancholische Ende ist heute, einhergehend mit dem annähernden Verschwinden einer bestimmten Art klassischer Fantasy, die eher von einem charmanten Ernst als von Zynismus und erzählerischen Brüchen geprägt ist, sehr selten geworden. Daß es neben dem Herrn der Ringe auch bei so unterschiedlichen Autoren wie Richard Adams (Watership Down/Unten am Fluss) oder Thomas Burnett Swann (Minotaurus-Trilogie), bei Peter S. Beagle (The Last Unicorn/Das letzte Einhorn) oder in vielen Romanen von Guy Gavriel Kay anzutreffen ist, zeigt, daß es ein breites Spektrum innerhalb der Fantasy abdeckt, das sich über die engen Grenzen der epischen Fantasy erstreckt. Nicht selten sind es Klassiker, die den Zauber der Geschichten auch über ihr Ende hinaus transportieren können, was das melancholische Ende zu einem Archetypus des Genres macht.

Für ein gelungenes Ende gibt es keine Patentlösung. Die Autorin dieses Textes entscheidet sich für das unbeliebte offene Ende, in dem keine Fäden vorschriftsmäßig verknüpft, sondern die LeserInnen mit vielen Fragen zurückgelassen werden. Zu welchem Schluß kommt ihr, wenn es ums Ende geht?

  • *J. R. R. Tolkien: Über Märchen, hg.: Christopher Tolkien, in Gute Drachen sind rar, S.125

Metaflöz

neue Rezensionen:
The Art of Discworld (Paul Kidby, Terry Pratchett) rezensiert von moyashi
Das Tor von Ivrel (C. J. Cherryh) rezensiert von mistkaeferl

neues Portrait:
Philip Pullman portraitiert von moyashi 

aus der alten BP umgezogene Rezensionen:
Das Buch Atrus (Rand Miller, Robin Miller, David Wingrove) rezensiert von Sam
Dämonensommer (Terry Brooks) rezensiert von Sam
Disappearing Nightly (Laura Resnick) rezensiert von Sam
Rattenfänger (Adam Stemple, Jane Yolen) rezensiert von mistkaeferl
Die Reise ins Herzland (William Horwood) rezensiert von mistkaeferl

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Zehn Jahre ist es heute her, dass Douglas Adams, hoopiger Frood und Verfasser von Doktor-Snuggles-Folgen, aufhörte, sich nach den Fjorden zu sehnen, statt gegen einen Eimer auf ein Laufband trat und sich in einen Ex-Autor verwandelte.
Anlass genug, in diesem Blog eines von Adams Büchern vorzustellen. Nein, nicht das mit dem Handtuch und dem depressiven Roboter. Auch nicht das mit dem holistischen Detektiv und dem Pferd im Bad.
Sondern das, welches Adams selbst als sein bedeutendstes bezeichnete:

Die Letzten ihrer Art

Alles begann 1985, als das britische Magazin The Observer dem erfahrenen Zoologen und Naturschützer Mark Carwardine einen absolut unerfahrenen und unwissenden Nichtzoologen – eine Rolle, für die Adams absolut qualifiziert war – zur Seite stellte und die beiden in den madagassischen Urwald schickte. Dort sollten sie den Aye-Aye, einen ebenso seltenen wie hässlichen Lemur, aufspüren.
Die Chemie zwischen den beiden Hominiden (der Lemur blieb eher auf Distanz) stimmte, und so begann man das nächste gemeinsame Projekt zu planen: Adams markierte auf einer Weltkarte die Orte, an die er gerne einmal Reisen würde, Carwardine die, wo Arten vom Aussterben bedroht waren – und jene Orte, an denen sich beides zufällig überschnitt, landeten auf der To-Go-Liste.

1988 war es dann so weit, Adams und Carwardine, im Schlepptau ein Team von BBC Radio, begaben sich auf eine einjährige Weltreise. Sie begegneten nachdenklichen Berggorillas, lebenden Drachen, den bedauernswerten Yangtse-Delphinen, einem Termitenhügel, der aus der Ferne wie ein Breitmaulnashorn aussah, einem Experten für giftige Tiere, der diese eigentlich überhaupt nicht leiden kann (mit einer Ausnahme – aber die hat ihn verlassen) und natürlich: dem Kakapo, einem neuseeländischen Papagei, der nicht nur vergessen hat, wie man fliegt, sondern auch vergessen hat, dass er dies vergessen hat.

Das Ergebnis dieser Reise war nicht nur eine Ende ’89 ausgestrahlte Radioserie, sondern auch ein im folgenden Jahr erschienenes Buch, das Adams über die Reise und seine Abenteuer geschrieben hatte.

ein aviärer Subwoofer, (cc) Markus Nolf

Bravourös gelingt ihm der Mix aus Humor und Nachdenklichkeit: im einen Moment amüsiert man sich noch über Zaire’sche Zollbeamte, im nächsten steht man ehrfurchtsvoll einem Berggorilla gegenüber. Lachte man gerade noch über die Versuche, in China ein Kondom zu kaufen, mit dessen Hilfe der Geräuschpegel im Yangtse aufgezeichnet werden soll, so bleibt einem das Lachen im Halse stecken, wenn man mit dem Ergebnis der Aufnahme konfrontiert wird. Und was den Kakapo betrifft, so weiß man eh nicht, ob man lachen oder weinen soll.

Dass der englische Originaltitel Last Chance To See leider nur zu treffend gewählt war, stellte sich 2008 heraus, als Carwardine die Reise mit Adams gutem Freund Stephen Fry wiederholte: durch Wilderer und Bürgerkrieg sind die letzten freilebenden Nördlichen Breitmaulnashörner 2006 umgekommen, und auch der Yangtse-Delphin gilt seit 2007 als ausgestorben.
Besser erging es jedoch dem Kakapo. Während die Population 1985 noch auf rund 22 Tiere geschätzt wurde, hat sie sich mittlerweile auf 122 erhöht – auch Dank der vom Buch geschaffenen Publicity.

(Nicht nur) aus diesem Grunde: So long, Douglas, and thanks for all the parrots.

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Die Letzten ihrer Art wurde in Deutschland bei Heyne veröffentlicht (ISBN 978-3-453-06115-6, 272 S.), die englische Ausgabe, Last Chance To See, ist bei Arrow erschienen (ISBN 009953679X, 42*5+14 S.)
Die gleichnamige TV-Doku mit Mark Carwardine und Stephen Fry ist bei der BBC auf DVD erhältlich.

Wer Douglas Adams mit all seinem Witz und seiner Leidenschaft erleben möchte, dem sei sein Vortrag Parrots, the Universe and Everything wärmstens ans Herz gelegt.

Über den Tellerrand

neue Rezensionen:
The Crown Conspiracy (Michael J. Sullivan) rezensiert von Wulfila
The Hounds of Ash and Other Tales of Fool Wolf (Greg Keyes) rezensiert von mistkaeferl
Von Elfen, Goblins, Spukgestalten (Brian Froud, Alan Lee) rezensiert von moyashi

neues Portrait:
Elizabeth Haydon portraitiert von moyashi 

aus der alten BP umgezogene Rezensionen:
Die letzten Worte des Wolfs (Tobias O. Meißner) rezensiert von mistkaeferl
Resenting the Hero (Moira J. Moore) rezensiert von mistkaeferl
Royal Assassin (Robin Hobb) rezensiert von mistkaeferl
Die Streitmacht von Vastmark (Janny Wurts) rezensiert von Sam
Der Thron der Libelle (Wolfgang Hohlbein) rezensiert von Sam

Neue Inhalte

Wie oft hat man diesen Satz (mit einer gewissen Variationsbreite) schon gehört, wenn es um Geschlechterbeziehungen in Fantasybüchern ging: „Ja, aber damals war das halt so!“

Eine Aussage, die – ebenso wie die entsprechenden Inhalte – auf akribischer historischer Recherche beruht? Eher nicht. Vielmehr spiegeln sich darin zeitgenössische, kulturelle Vorstellungen über die Geschlechterverhältnisse wider, die nur allzu gerne rückprojiziert werden, um sie zu legitimieren. Die historistische Rechtfertigung tritt auch gerne im Verbund mit biologistischer Argumentation à la “Frauen sind nunmal schwächer und bekommen Kinder, während Männer die muskulös-kampfkräftigen Jäger sind” auf. Ein klassisches Beispiel für die Vermischung der beiden Argumentationslinien samt legitimistischer Rückprojektion sind übrigens die älteren Rekonstruktionen zu den Fußspuren von Laetoli, die die Fußabdrücke ohne weitere Anhaltspunkte geschlechterspezifisch (samt vermeintlicher Rollenverteilung) zuordneten.

Was uns aber tatsächlich an dieser Argumentation stört, ist das Pochen auf Historizität in einer Fantasy(!)welt, die sich ansonsten zumeist eher vage an bestimmten Epochen (wobei das Mittelalter wohl dominieren dürfte) orientiert und keinesfalls durch historische Akkuratesse glänzt. Es wird stattdessen das adaptiert, was passend erscheint, und anderes unter den Tisch fallengelassen. So stößt man etwa bald mal auf Ritter (oder zumindest auf gepanzerte Reiter) in einem Fantasyroman, das dahinterstehende ökonomische, religiöse und gesellschaftspolitische System findet jedoch eher selten Eingang in die entsprechenden Werke, deren Massenschlachten eine mittelalterliche Welt wohl dreimal entvölkern würden. Ähnlich verhält es sich auch beim biologistischen Argument, wo doch gerade die Fantasy mit ihren magischen Geschöpfen auf Ökosysteme pfeift und eine Formen- und Artenvielfalt erzeugt, die jeder Klassifizierung spottet.

Das ist ja nun auch kein Malheur, schließlich geht es ja um Fantasy. Die Welten sprühen im Idealfall vor Einfallsreichtum und sind angereichert mit Magie, alternativen Techniksystemen oder phantasievollen Gesellschaftsformen. Und genau da liegt auch der Hase im Pfeffer, denn bei all dem glänzen die Geschlechterbeziehungen oft durch einen gewissen Konservatismus und spiegeln eher antiquierte Vorstellungen wider, anstatt Alternativen zu entwerfen, die gerade in einer phantastischen Welt jede Möglichkeit hätten, sich zu entfalten. Wo, wenn nicht in der Fantasy wäre Platz für das Experimentieren mit kulturell neu codierten Rollenverteilungen?

Warum also gerade in diesem Bereich eine solche Einfallslosigkeit?

Brian Attebery liefert hierzu einen wichtigen Ansatz. Er schreibt:
The more of our knowledge we can apply to the fantasy, the easier it is to achieve secondary belief. We cannot picture the unknown unless we hear it described in terms of the known. (Attebery, Brian: The Fantasy Tradition In American Literature. from Irving to LeGuin, Bloomington 1951, 35)

Gerade in Fantasywelten ist also strategisch platziertes, scheinbar Vertrautes notwendig, um die LeserInnen in die Welt eintauchen zu lassen. Dabei sollte man sich allerdings bewusst machen, dass es genau das ist: strategisch! Die AutorInnen bestimmen, was sie zu kreativen Alternativen ausgestalten und wo es im Gegenzug traditioneller zugeht. Warum sind das nun wiederum sehr häufig die Geschlechterverhältnisse? Die Vermutung liegt nahe, dass in manchen Punkten von der Leserschaft verstärkt Vertrautes gewünscht ist bzw. Veränderungen wesentlich krasser auffallen. Dies gilt insbesondere für Geschlechterrollen, die – bewusst oder unbewusst, mittelbar oder unmittelbar – unser aller Leben durchziehen und auch unsere eigene Identität mitbestimmen. Würde durch das Aufbrechen der Geschlechterrollen die “Wohlfühlzone” der breiten Leserschaft verletzt, die anscheinend eher auf der Suche nach dem Ewiggleichen als nach innotivativen, originellen Ansätzen ist? Kann man sich dem Reiz fremdartiger Perspektiven nur solange genussvoll hingeben, wie man darin Vertrautes erkennt?

Eine Rolle spielt womöglich ebenfalls die Angst der AutorInnen davor, durch Veränderungen in diesem Bereich, als “feministisch” abgestempelt zu werden. Ein Label, das inzwischen eine dermaßen negative Konnotation aufweist, dass es niemand mehr tragen will.

Fakt ist außerdem, die Fantasy ist ein Genre, das häufig auf traditionelle und nostalgisch geprägte Stoffe und Motive zurückgreift. Und dort gibt es feste Erzählmuster, die oft tatsächlich nur unter bestimmten Bedingungen zu funktionieren scheinen. Männergeschichten erfüllen sich anders als Frauengeschichten, und spätestens bei einer Liebesgeschichte ist der Bedarf an traditionellen Rollenbildern groß: Der Vampir, Dämon oder Werwolf der aktuellen Paranormal Romance ist nichts anderes als ein Übermann, vor dem auch eine sonst ganz toughe Frau ohne Gesichtsverlust niederknien kann. Offen bleiben muss dabei wohl, ob AutorInnen und LeserInnen bewusst ist, dass gerade diese Überwindung einer sonst starken und kriegerischen Frau durch einen (potentiellen) männlichen Sexualpartner ein uraltes Motiv ist und es der scheinbar so “modernen” Heldin auch nicht besser ergeht als einer Penthesilea, Atalante oder Brunhild.
Wenn Literatur aber nur lange Bärte noch ein bißchen länger macht und sich fraglos an uralten Motiven bedient, verzichtet sie auf ihre größten Stärken, die ganz besonders in der Fantasy ausgespielt werden könnten: Das Ausloten, wo und wie man Regeln auflösen, mit Stereotypen arbeiten und das Publikum bewegen kann.

Ein neuer Blick auf Geschlechterrollen erfordert vor allem drei Dinge: Den Mut, mit den Traditionen zu brechen – auch im Jahr 2011. Den Willen, sich die Arbeit zu machen, die es braucht, um lang gehegte Klischees und Rollenmuster in Geschichten aufzubrechen und sich auf neue Ansätze einzulassen.
Und LeserInnen, die den Weg mitgehen.

Metaflöz