Nostalgie-Nagelprobe: Das letzte Einhorn

Zumindest unsere Leser mit ein paar Jahren Lebens- und Leseerfahrung nicken vielleicht weise zu folgenden Worten:
Es gab eine Zeit, da war man weniger wählerisch und schneller zu begeistern. Alles war neu und spannend, jedes frisch gelesene Buch hatte gute Chancen, das beste Buch überhaupt zu werden. Inzwischen hat sich ordentlich Geschmack herausgebildet, man ist nicht mehr so leicht zufriedenzustellen, schon gar nicht mit Dingen, die man bereits hundertmal gelesen hat, und die hingebungsvolle Begeisterung ist verflogen, auch wenn man sie noch immer sucht und manchmal auch wiederfindet.
Auf frühe Leseerlebnisse blicken wir trotzdem oft mit nostalgischer Verklärung zurück.

Und dazu stellen sich einige spannende Fragen: War früher alles besser? Oder hat man einfach nur schneller Feuer gefangen? Hat sich das Genre zum Positiven oder zum Negativen verändert? Inwiefern hat die Lektüre, mit der wir heute nostalgische Gefühle verbinden, unseren Geschmack geprägt und unsere Vorlieben geformt? Wie würde ich die früheren Lieblinge einschätzen, wenn sie mir heute zum ersten Mal in die Finger kämen?
Um diesen Fragen auf die Spur zu gehen (sicher nicht allen auf einmal), werde ich mich hin und wieder an die Lektüre eines früheren Lieblingstitels wagen und nachprüfen, ob ich heute noch so voll des Lobes sein kann, wie meine Nostalgie es mich glauben machen will.

Bei meinem ersten Kandidaten hatte ich zugegebenermaßen keine großen Bedenken, denn der Autor ist für Qualität bekannt und der Roman war schon ein Klassiker, als ich ihn zum ersten Mal gelesen habe:

Das letzte Einhorn (Peter S. Beagle, 1968)

Wann gelesen?
Vor ca. 20 Jahren, vor 10 Jahren in der Originalausgabe geschmökert.
Zwischenzeitlich hin und wieder den Film gesehen.

Das letzte Einhorn von Peter S. BeagleBesonderheiten?
Es gibt einen Trickfilm, durch den das Einhorn als fleischgewordener Kleinmädchentraum mit Wallemähne stolziert. Der Film spart einige zentrale Elemente des Romans aus, andererseits kann er die Atmosphäre gut transportieren, das ist aber sicher Ansichtssache. Er erzählt die Geschichte, wie ich sie früher gelesen habe, nicht die, die ich heute in dem Roman vorfinde.
Dagegen ganz nüchtern das Buch-Cover, das in der damaligen (und langjährigen) Hobbit-Presse-Linie betont “keine Fantasy” gesagt hat. Das heutige “doch Fantasy”-Cover der Neuauflage paßt allerdings auch nicht zu dem märchenhaften Charakter des Romans.

Was hat mir damals gefallen?
Das Setting und die Atmosphäre – der Mitternachtszirkus mit seinen vielen Fabeltieren, der verzauberte Wald des Einhorns, das öde Land am Meer mit seiner trostlosen Burg. Die Welt des Romans hatte für mich etwas Grenzenloses, hinter den fernen, namenlosen Wäldern und Bergen haben sich riesige Räume für die Phantasie eröffnet, die zwar meistens im Text nicht einmal angedeutet wurden, aber allein schon wegen der beschriebenen Vielfalt irgendwo zwischen singenden Schmetterlingen und entführten Prinzessinnen, Königreichen und Magiern einfach da sein mußten.
Die Geschichte. Für mich als öko-bewegte junge Dame (und die direkte Verwandtschaft zwischen Walen und Einhörnern ist ja wohl kaum zu leugnen 😉 ) war klar: Die Frage, ob es weiterhin Einhörner auf der Welt geben wird, ist eine ganz große. Außerdem ist es eine schöne, klassische Questengeschichte mit einen Auslöser zum Aufbruch, der abenteuerlichen Reise mit dem Einsammeln von Gefährten, mit eindrucksvollen Fieslingen, die den Helden Steine in den Weg legen, und schließlich dem Bangen um den Erfolg am Zielort.
Die Figuren. Schmendrick. Molly Grue. Haggard. Die merkt man sich – Charaktere, von denen man im Nu ein Bild vor Augen hat und die trotzdem nicht ganz hinter Stereotypen verschwinden. Ein richtiger Einhorn-Fan war ich dagegen nie. Das letzte Einhorn ist auch das einzige Buch, in dem mir Einhörner bisher gut gefallen und in das sie meiner Ansicht nach gepaßt haben. Ach, bei Gaimans Sternwanderer wollen wir auch noch ein Auge zudrücken …
Die Sprache. Märchenhaft, poetisch, witzig, manchmal mit epischen Anklängen.

Und heute?
Das letzte Einhorn und Zwei Herzen von Peter S. BeagleEs ist dasselbe Buch und doch ein anderes. Ich finde alles wieder, was mir gefallen hat, doch vieles davon macht sich über die zugrundeliegenden Motive lustig. Mit großer Kenntnis der Genre- und Proto-Genre-Traditionen werden die Versatzstücke in beinahe postmoderner Manier zusammengefügt: Durch alle Legenden geht ein Bruch, die Helden haben ein Bewußtsein für die Zwänge der Questenhandlung, epische Anklänge und Märchenanspielungen werden stets mit einem Augenzwinkern vorgetragen.
Dazu paßt auch, daß der Roman ohne nähere geographische Bestimmung auf unserer Welt angesiedelt ist (da gehen sie dahin, meine grenzenlos-schimmernden Räume im Hintergrund), wie viele Anspielungen belegen. Auch in diesem Bereich tauchen vor allem Hinweise auf die Fiktionalität der Romanhandlung auf, also das Gegenteil dessen, was in der Fantasy sonst häufig versucht wird – etwa bei Verweisen auf die Sagen  unserer Welt (inclusive ihres zweifelhaften Wahrheitsgehalts), oder  wenn der amerikanische Balladensammler Francis James Child (vermeintlich) gebeten wird, die Reimversuche der Figuren zu dokumentieren.
Die Charaktere des Romans sind aber gerade durch die Brüche teils tiefgründiger als erwartet, haben wie Schmendrick oder Haggard interessante, subtil auf die Handlung wirkende Hintergründe und Motivationen. Gleichzeitig fällt bei den Beschreibungen aller Figuren eine Überzeichnung und generell karikaturhaft-verkürzte Darstellung auf.

Fazit: Alte Liebe rostet nicht
… bekommt aber eine andere Qualität. 😉 Das Buch hat seinen Zauber nicht eingebüßt, durch die verspielten und verzerrten Elemente wird man allerdings auf andere Weise verzaubert: Vielschichtiger, man schmunzelt öfter. Die Poesie bleibt erhalten, die wunderschöne Sprache changiert mühelos zwischen Leichtigkeit und einer Epik mit vielen Brüchen, die sich mitten durch die Questenhandlung ziehen. Mit mehr Leseerfahrung wird Das letzte Einhorn durch die Brüche und das ständige Augenzwinkern des Autors, der mit dem Medium der Erzählung spielt, jedoch ein akademischeres Vergnügen – man zwinkert komplizenhaft mit, Geschichte und Figuren verlieren aber, auch wenn sie nie respektlos behandelt werden, etwas von ihrer Bedeutsamkeit und ihrer Authentizität.

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