Bibliotheka Phantastika gratuliert Esther Rochon, die heute 65 Jahre alt wird. Auch wenn die am 27. Juni 1948 in Québec in der gleichnamigen kanadischen Provinz als Esther Blackburn geborene Esther Rochon (der neue Nachname ist kein Pseudonym sondern eine Folge ihrer Heirat) in ihrer frankokanadischen Heimat zu den wichtigsten und bedeutendsten SF- und Fantasy-Autorinnen zählt, dürfte ihr Name nur den deutschsprachigen Lesern und Leserinnen etwas sagen, die sich entweder schon sehr lange mit dem Genre beschäftigen oder aber gelegentlich Abstecher in ein entsprechendes Antiquariat bzw. die antiquarische Abteilung eines auf SF und Fantasy spezialisierten Buchladens unternehmen. Denn Der Träumer in der Zitadelle – das einzige ihrer Bücher, das jemals übersetzt wurde – ist bereits 1977 in Heynes SF- und Fantasyreihe erschienen und stach damals deutlich aus einem Umfeld heraus, das bis kurz zuvor von der Sword & Sorcery Howards und Leibers und den Romanen zweier Burroughs-Epigonen dominiert wurde.
Der Träumer in der Zitadelle ist ein dünner, kaum 120 Seiten umfassender Roman und erzählt die Geschichte Skern Strénids, des Herrschers der auf Vrénalik und den umliegenden Inseln des gleichnamigen Archipels lebenden Asven, der eines Tages den mit magischen Kräften begabten Shaskath in seiner Zitadelle in der Hauptstadt Frulken einkerkern und mit Hilfe einer speziellen Droge zu einem Träumer machen lässt. Shaskath soll mittels seiner Träume die Stürme beeinflussen und so die Handelsflotte schützen, der Vrénalik seinen Reichtum verdankt. Doch dem Träumer gelingt es, sich dem Bann der Drogen zu entziehen – und das hat Folgen für Vrénalik und den ganzen Archipel … In diesem Roman (der nebenbei bemerkt aus dem Manuskript übersetzt wurde) geht es nicht zuletzt um Hybris und den Missbrauch von Macht und damit um Themen, die der Fantasy in den 70er Jahren noch eher fremd waren. Außerdem stellt er – um zwei Kapitel erweitert – den Auftakt des Cycle de Vrénalik dar, des ersten der beiden mehrbändigen Hauptwerke Esther Rochons.
Besagter, aus den Romanen Le Rêveur dans la Citadelle (1998), L’Aigle des profondeurs (2002), L’Archipel noir (1999) und La Dragonne de l’aurore (2009) bestehender Cycle de Vrénalik hat eine etwas komplizierte Entstehungsgeschichte, da die o.g. Romane z.T. zwischenzeitlich umgeschrieben, gekürzt und erweitert wurden; die Jahreszahlen beziehen sich daher auf die aktuellste sich derzeit auf dem Markt befindende, von der Autorin als definitiv bezeichnete Ausgabe der Romane. In diesem Zyklus wird die Geschichte Vrénaliks weitererzählt, und alles, was darüber zu erfahren ist, klingt interessant genug, um einmal mehr zu bedauern, dass der Blick der deutschen Genre-Verlage sich – von gerade einmal angesagten Moden abgesehen – immer noch hauptsächlich auf das englischsprachige Ausland richtet und speziell die frankokanadische SF- und Fantasyszene praktisch vollkommen ignoriert.
Von daher ist es unwahrscheinlich, dass die deutschsprachigen Leser und Leserinnen jemals erfahren werden, wie es mit der Insel Vrénalik und dem ganzen Archipel weitergeht; das Gleiche gilt für die sechsbändigen Chroniques infernales – Lame (1995), Aboli (1996), Ouverture (1997), Secrets (1998), Or (1999) und Sorbier (2000) – in denen Esther Rochon eine an Dantes Höllenmodell angelehnte Version der Hölle zum wichtigsten Schauplatz der Handlung macht. Dass man einerseits aus dem zeitgenössischen Montreal in diese Hölle gelangt, es aber – wie sich im Verlauf des Zyklus herausstellt – auch eine Verbindung in die Fantasywelt von Vrénalik gibt, macht das o.e. Bedauern dann noch ein bisschen größer.
Außer Le Cycle de Vrénalik und Les Chroniques infernales hat Esther Rochon noch einige Romane und eine ganze Reihe längerer und kürzerer Erzählungen geschrieben und wurde in ihrer Heimat mehrfach mit den dortigen Genrepreisen ausgezeichnet.
Hm, bei dieser Begeisterung deinerseits, Gerd, klingt mir das als würde es sich lohnen mein Französisch zu entstauben und mich damit zu beschäftigen… Jedenfalls klingt die Geschichte gut!
Jetzt wäre es spannend zu wissen, ob ich das mit meinem Französisch auch hinbekomme…
@ Elric:
Da muss ich ein bisschen weiter ausholen. 😉
Als ich Der Träumer in der Zitadelle das erste Mal gleich nach Erscheinen gelesen habe, fand ich das Buch … merkwürdig. Jetzt muss man allerdings dazusagen, dass damals die Fantasy in Deutschland mehr oder weniger gleichbedeutend mit Sword & Sorcery war; Heyne hatte bis dahin eigentlich nur Howard und Leiber und dann die Burroughs-Epigonen Norman und Akers im Programm gehabt, und ansonsten gab es nur noch die Terra-Fantasy-Reihe (mit Jakes, Norton, den ersten Fantasy-Moorcocks und mehr Howard) und das bisschen, was Klett-Cotta gelegentlich gebracht hat (und das meinem Beuteschema entsprochen hat ;)). Sprich: Fantasy war eigentlich mehr oder weniger gleichbedeutend mit sehr action-orientierten Geschichten. Und action-orientiert war/ist der Träumer nicht. Andererseits war das Buch interessant genug, um es ein paar Jahre später nochmal in die Hand zu nehmen und zu lesen (ist ja auch dünn genug), und zu dem Zeitpunkt (das müsste irgendwann in der ersten Hälfte bzw. Mitte der 80er gewesen sein) hat es mir dann recht gut gefallen – gerade weil es erzählerisch und von der Atmosphäre her deutlich “anders” als die meiste andere Fantasy war, die ich ansonsten gelesen habe.
Ich hätte das Gefühl, das ich beim zweiten Lesen hatte, für den Artikel gerne nochmal verifiziert, aber der Träumer ist momentan irgendwo in den Abgründen meines Archivs verschollen, und deswegen musste ich in diesem Fall einfach mal ausschließlich meiner Erinnerung vertrauen.
Falls du dich tatsächlich auf Französisch an der Rochon versuchen willst, findest du hier eine Übersicht über Le Cycle de Vrénalik und Leseproben zu den vier Bänden. Mein eigenes Französisch ist inzwischen leider zu eingerostet, um an längeren Prosatexten Spaß zu haben – ich habe ja schon große Mühe, einigermaßen zu verstehen, worum es geht. 😉 Das ist zwar einerseits bedauerlich – und vielleicht kriege ich ja irgendwann die Kurve und bringe es (möglicherweise wie früher mal mit dem Umweg über Comics) wieder auf Vordermann – aber andererseits gibt es eh viel zu viel zu lesen …
Hm, danke für den Link! Ich bin jetzt wirklich schwer am Überlegen!
Irgendwie hätte ich mal Lust auf Französisch und soo schwierig las sich das für mich jetzt nicht – zumindest die ersten beiden Seiten… Ich muss nur noch wieder rein kommen. Mal sehen, danke für die ausführliche Antwort, Gerd! Hat mir schon geholfen! 😀
Apropos Lust auf Französisch – hast du das hier eigentlich schon gesehen? Hatte ich vor kurzem schon im Comic-Thread erwähnt.
Sehr schöner Artikel. Überhaupt schön zu sehen, wen du hier so alles ausgräbst (das letzte Mal bin ich hier über den Kenneth C. Flint-Geburtstagsartikel gelandet):)
Ich habe Esther Rochon erst vor relativ kurzem (also 2 oder 3 Jahren^^) entdeckt, als ich “Der Träumer in der Zitadelle” auf einem Flohmarkt in einem Sammelband gefunden habe. Mich hat das Buch sehr fasziniert und ich finde es schade, dass mein Französisch nicht für die Fortsetzungen ausreicht; habe aber auch erst einige Zeit nach dem Lesen des Buchs festgestellt, dass es überhaupt Fortsetzungen gibt… Wird Zeit, das Buch nochmal zu lesen.
Hi Alessandra,
vielen Dank für die Blumen! (Und ja, ich erinnere mich an unseren kurzen Austausch über Kenneth C. Flint.)
Mich freut es natürlich immer, wenn jemand durch einen der Artikel mal wieder an ein Buch bzw. eine Autorin oder einen Autor erinnert wird. Das ist ja schließlich eine der Ideen hinter dem Ganzen.
Diese Sachen auszugraben, ist übrigens gar nicht so schwierig, da die meisten Bücher hier irgendwo rumstehen (okay, sie im konkreten Fall zu finden, kann dann schon mal schwierig werden ;)); aber es muss halt passen – es muss einen entsprechend runden Geburtstag geben, irgendjemand von uns muss zumindest einen Teil des Werkes kennen, und es muss Zeit & Lust vorhanden sein, einen entsprechenden Text zu schreiben. Wenn alle diese Faktoren gegeben sind, klappt es … meistens. 😉
Von daher darfst du (und bist es hoffentlich) gespannt sein, wen wir hier noch ausgraben werden.
[…] das hoffe ich auch. Aber der Fairness halber – es gibt zumindest noch den weiter oben erwähnten Text der Bibliotheka Phantastika über Esther Rochon von 2013; mit dem hatte ich nichts zu tun […]