Ein Junge schläft friedlich zu Hause inmitten seiner Spielsachen, während sein Vater weit entfernt in Europa im Zweiten Weltkrieg kämpft. Doch etwas Finsteres greift aus seinem Schrank und entführt ihn in die Dunkelheit. Als alles wieder ruhig ist, kommen die Spielsachen des Jungen zusammen, und der tapfere Colonel entscheidet, dass es eine Rettungsmission geben muss. Nur die wenigsten Spielsachen sind bereit, dem Spielzeugsoldaten in die unbekannte Dunkelheit im Schrank zu folgen …
-“How can you be so cavalier? We are in prison.”
“I have spent time in tighter quarters than this, Gingerbread Man. ’tis all a matter of perspektive.”-
The Prison
Durch die Schranktür eine andere Welt betreten; Spielzeug, das lebendig wird und einer eigenen Spielzeuglogik folgt – klingeln da nicht ganz laut die Nostalgieglöckchen? Und das nicht ganz zu Unrecht: Michael Raichts und Brian Smiths epischer Comic The Stuff of Legend knüpft an einigen Stellen an die besten Abenteuergeschichten an, die man als Kind gelesen hat. Es gibt eine fremde, eigenen Gesetzmäßigkeiten folgende Welt zu erkunden und eine Schar wundersamer, oft liebenswerter Gefährten auf der Suche nach „ihrem“ verlorenen Jungen zu begleiten. Doch der – zum nostalgischen Flair beitragende – Realwelthintergrund des Zweiten Weltkriegs ist nicht ganz umsonst gewählt und wirkt teilweise auf die Bildwelten zurück, die sich in der Welt hinter der Schranktür, nur „the Dark“ genannt, auftun. Für Kinder ist es also eher nichts (höchstens für etwas ältere, nervenstarke, die es nicht unbedingt bunt mögen), für Erwachsene, die sich gerne in kindliche Gedankenwelten versetzen lassen, dafür aber um so mehr. The Stuff of Legend hat keine Scheu vor den düsteren Seiten von Kindergeschichten und ist, wenn man einen Vergleich heranziehen möchte, als hätte Neil Gaiman ein Skript für Toy Story verfasst.
Die Geschichte, die sich um die mehr oder weniger tapferen Spielzeuge entspinnt, stellt die Helden vor eine nahezu unmögliche Aufgabe: In der weitläufigen unbekannten Welt wollen sie dem Boogeyman ihren Jungen wieder entreißen, und der wirft ihnen nicht nur Heerscharen von feindlich gesinnten Spielzeugen entgegen, sondern ist auch ein Bösewicht, der es einem bei jedem seiner merkwürdig ästhetischen Auftritte eiskalt den Rücken hinablaufen lässt. Teddybär Max, Sparschwein Percy, der mutige Colonel, Jester, ein scharfzüngiger und galanter Kastenteufel, und Scout, der echte Hund des Jungen, um nur einige der Protagonisten zu nennen, scheinen keine Ahnung zu haben, worauf sie sich einlassen, erweisen sich aber als einfallsreiche und wehrhafte Underdogs. Ihre jeweiligen Rollen sind wohldurchdacht und gehen unter die Haut: Sie folgen einerseits der Realität ihres Daseins als Spielzeug (was macht man nochmal gleich mit Sparschweinen?), lösen sich aber andererseits auch davon und haben dadurch viel Entwicklungsraum: Princess, die Indianerprinzessin, die bei den Spielen des Jungen stets gerettet werden musste, ist in der neuen Welt einer der zähesten und effektivsten Kämpfer – sehr zur Überraschung ihrer einstigen Retter.
Die feine Ausarbeitung dieser lebendigen Figurenriege führt dazu, dass Raicht und Smith in The Stuff of Legend elementare Themen anpacken können: Fragen der Loyalität, Eifersucht, Angst, Willenskraft und Vergebung müssen die Spielzeugfiguren für sich beantworten, und sie sind psychologisch so durchdacht, dass ihre Reaktionen nicht nur unvorhersehbar, sondern auch zugleich hart und herzerwärmend ausfallen – nicht, weil sie Spielsachen sind, sondern weil man sich ihnen sehr nahe fühlt.
Genauso wie die Figuren folgt auch die Welt einer sehr ideenreich umgesetzten Spielzimmerlogik, die sich immer wieder auf überraschende Weise manifestiert – ob man nun in eine Stadt gerät, in der alles abstrusen Brettspielregeln folgt, oder einen wahrhaft traurigen Friedhof der Kuscheltiere entdeckt. Dazu trägt auch der detaillierte, rein in Sepiatönen gehaltene Stil von Charles Paul Wilson III bei, der diese Szenarien mit spannenden Design-Ideen, sehr dynamischen Panels und großartigem Spiel mit Licht und Schatten lebendig werden lässt und mit dieser gedämpften Farbwelt dem rückwärts gewandten Blick und der Düsternis des Erzählten gerecht wird.
Rückblenden und ab dem zweiten Band mehrere Handlungsstränge geben der Geschichte den letzten epischen Schliff, dabei ist sie im Grunde sehr ökonomisch erzählt: Übergänge werden meist ausgespart, und man findet sich bei neuen Szenen häufig gleich in medias res wieder. Es gibt in The Stuff of Legend jede Menge transformierender Momente, in denen man die eigene Einschätzung der Figuren oder des Geschehenen neu justieren muss, und in denen liebgewonnene Gefährten über ihre Grenzen getrieben werden. Das und die Suche nach Antworten darauf, was die Realität hinter „the Dark“ und ihrem finsteren Herrscher sein könnte, peitschen die Handlung voran und machen es schwer, auf den Abschluss der Geschichte zu warten.
Von The Stuff of Legend sind nämlich bisher vier Einzelbände bzw. zwei sehr schön gestaltete Sammel-Ausgaben erschienen – mit den geplanten Bänden fünf und sechs soll die Reihe abgeschlossen werden. Man kann, auch wenn die Rätsel um den Boogeyman und seine Welt noch lange nicht gelöst sind, davon ausgehen, dass die Reihe weiterhin das hält, was sie im Titel verspricht, und sie hat sich damit schon jetzt einen Platz unter den zeitlosen Highlights des graphischen Erzählens verdient.