Zum 70. Geburtstag von Geoff Ryman

Bibliotheka Phantastika gratuliert Geoff Ryman, der heute 70 Jahre alt wird. Trotz seines nicht allzu umfangreichen Œuvres gilt der am 09. Mai 1951 in Kanada geborene Geoffrey Charles Ryman, der im Alter von elf Jahren mit seinen Eltern in die USA gezogen ist und seit 1973 in Großbritannien lebt, als einer der wichtigeren SF- und Fantasy-Autoren vor allem der 80er und 90er Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Seine SF-Romane beziehen sich weitaus direkter auf unsere moderne Welt, als dies bei den meisten seiner Kolleginnen und Kollegen der Fall ist – man könnte auch sagen, dass sie durch die Linse der SF einen Blick auf unsere Welt werfen –, und sein Fantasyroman folgt nur vordergründig (und nur in einer Hinsicht) traditionellen Erzählmustern.
The Unconquered CountryRyman, der lange für die britische Regierung gearbeitet hat und u.a. mit seinem Web-Design-Team für die Erstellung etlicher offizieller Webseiten verantwortlich war, hat bereits in den 70er Jahren mit dem Schreiben begonnen und mit “The Diary of the Translator” in der von (der damals noch mit Michael Moorcock verheirateten) Hilary Bailey herausgegebenen Anthologie New Worlds Ten (1976) seine erste Story veröffentlicht. Einige wenige weitere folgten, doch wirklich Aufsehen erregte erst “The Unconquered Country: A Life History” (in Interzone #7, Spring 1984) – dann allerdings so richtig. Die Geschichte, die man vielleicht am ehesten als eine Art magische Fabel bezeichnen könnte, spielt in einem alternativen Kambodscha; hier lebt die junge Third, die – um sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen – ihr Blut verkaufen und ihren Schoß vermieten muss, um darin Haushaltsgeräte oder Waffen wachsen zu lassen. Third stammt aus einem Dorf, in dem die Häuser ebenso gelebt haben wie ihre Bewohner, doch von dort wurde sie in einem Krieg vertrieben, den The Neighbours angezettelt haben, und jetzt lebt sie in einer Stadt, deren Häuser nur tote Hüllen sind. Als sie und ihr Volk von den Rebels befreit werden, kommt Hoffnung auf – die sich jedoch nur allzu bald als trügerisch erweist … “The Unconquered Country” ist eine intensive, bewegende Erzählung, die trotz ihrer bedrückenden Thematik längst nicht so düster ist, wie man vielleicht meinen könnte; sie gewann den BSFA und den World Fantasy Award (in der Kategorie Best Short Fiction bzw. Best Novella) und machte Geoff Ryman auf einen Schlag bekannt.
The Warrior Who Carried Life Rymans erster Roman The Warrior Who Carried Life (1985) ist eindeutiger der Fantasy zuzurechnen als die o.g. Erzählung, doch auch in ihm hat er neue Wege beschritten. Erzählt wird die Geschichte von Cal Cara Kerig, die im Alter von fünf Jahren miterleben muss, wie ihre Mutter getötet wird, weil sie einen magischen Ort besucht hat, den zu betreten nur Männern erlaubt ist. Und als Cara ein Teenager ist, wird sie – genau wie ihre ganze restliche Familie – von den Galu, den Herrschern des Landes, verstümmelt. Hilfe findet sie bei den ausgestoßenen Frauen ihres Dorfes, die ihren Körper mittels Magie für ein Jahr in den eines Tieres verwandeln können, und Cara wählt – zur allgemeinen Überraschung – den des gefährlichsten, tödlichsten “Tiers”, das sie kennt: den Körper eines Mannes. Natürlich zieht sie anschließend los, um sich zu rächen, doch ihr Rachefeldzug nimmt bald eine ungewöhnliche Richtung, einerseits, weil sie feststellen muss, dass es nicht reicht, einfach nur den Körper eines Mannes zu haben, und andererseits, weil eine mythologische Komponente ins Spiel kommt. Cara ist nämlich mit den Geschichten über Keekamis aufgewachsen, dessen Quest ihn einst in den verschollenen Garden of Eden geführt hat, wo er die Geschichte des ersten Menschenpaars erfahren hat. Doch als Cara den Spuren des Helden ihrer Kindheit folgt, muss sie feststellen, dass die Geschichten über ihn voller Lügen sind … Der Orden der Frauen (1986) – so der deutsche Titel – ist ein Roman, der sich völlig anders entwickelt, als man nach den ersten Seiten erwarten könnte, und der sich nicht nur schon sehr frühzeitig mit Genderthemen auseinandersetzt, sondern auch zeigt, welche subversiven Möglichkeiten die ach so traditionelle typische Fantasy-Quest sehr wohl bietet. Darüberhinaus wartet er mit den Galu – die zwar wie Männer aussehen mögen, aber in Wirklichkeit Monstren sind, die Hass und Gewalt benötigen, um zu existieren – mit einer ebenso originellen wie erschreckenden Form des Bösen auf, und ist ganz nebenbei ein weiteres wunderbares Beispiel für die Vielfalt der Fantasy der 80er Jahre (und den damaligen Mut (?) der deutschen Verlage, auch solche ungewöhnlichen Werke zu veröffentlichen).
The Child Garden1986 erschien The Unconquered Contry: A Life History (dt. Das unbesiegte Land (1994)), die – gerade mal ein paar hundert Worte längere – Romanversion der o.e. Geschichte, ehe mit The Child Garden (1989; dt. Ein Garten für Kinder oder eine Posse (1992)) Rymans zweiter “echter” Roman folgte, in den die Erzählung “Love Sickness” (in Interzone #20, Summer 1987, und Interzone #21, Autumn 1987) eingeflossen ist. In einer nicht allzu fernen Zukunft – in der in London durch den Klimawandel beinahe tropische Verhältnisse herrschen – ist es gelungen, den Krebs zu besiegen, allerdings mit dem fatalen Nebeneffekt, dass die Lebenserwartung der Menschen drastisch gesunken ist. Die Gentechnik durchdringt das ganze Dasein, macht z.B. aus Häusern oder Maschinen künstliche Lebensformen und sorgt in Form modifizierter Viren auch für die Bildung der Kinder, die schneller als früher erwachsen werden müssen. Milena Shibush ist immun gegen diese Viren und muss sich jegliches Wissen auf die klassische Weise aneignen; doch sie weicht nicht nur, was das betrifft, von der allgemeinen sozialen Konformität ab – sie ist auch homosesexuell, etwas, das normalerweise als bad grammar bezeichnet und von den Viren “kuriert” wird. Als sie die genetisch veränderte Sängerin Rolfa kennenlernt und sich in sie verliebt, gerät ihr Geheimnis in Gefahr – doch dann stellt sich heraus, dass sie bzw. ihre Immunität gegen fast alle Viren genau das ist, was der Consensus, die herrschende AI, möglicherweise braucht, um die nächste Stufe der Evolution zu erreichen … The Child Garden wurde mit dem Arthur C. Clarke Award und dem John W. Campbell Memorial Award ausgezeichnet und ist ein ebenso anstrengender wie faszinierender Roman, der sich u.a. um die Frage dreht, was es bedeutet, ein Mensch zu sein, und wie sich geänderte Antworten auf diese Frage auf einer persönlichen und einer allgemeinen Ebene auswirken. Und es ist auch ein Roman über den Verlust der Kindheit, denn bereits in den Kindern ist das Wissen um den in nicht allzu ferner Zukunft bevorstehenden Tod immer präsent.
In “Was …” (1992), Rymans nächstem, vermutlich allenfalls marginal phantastischem Roman, geht es um das Leben des kleinen Mädchens aus Kansas, dessen Schicksal Frank L. Baum zu den Oz-Romanen inspiriert hat. Two Five Three: A Novel for the Internet about London Underground in Seven Cars and a Crash (1996) wurde zuerst im Internet (incl. Hyperlinks) veröffentlicht und gilt als erster Internet-Roman; die (überarbeitete) Printfassung 253: The Print Remix gewann den Philip K. Dick Award und ist auf Deutsch als 253. Der U-Bahn-Roman (2000) erschienen. Lust: Or No Harm Done (2001), ein phantastischer Roman, in dem der schwule Protagonist über sein Leben nachsinnt (die phantastische Komponente besteht darin, dass er Simulacra von fiktiven Personen ins Dasein träumen kann), und der mit dem BSFA, dem James Tiptree, jr. Award, dem Sunburst Award und dem Arthur C. Clarke Award ausgezeichnete, aus der Story “Have not Have” (in The Magazine of F&SF, April 2001) hervorgegangene SF-Roman Air (2004), der sich mit den für die Evolution einer Spezies anscheinend unerlässlichen Veränderungen befasst (und der Tatsache, dass das, was nachkommt, nicht notwendigerweise besser oder schlechter, sondern vor allem anders ist), waren die letzten Romane, die Geoff Ryman zur Phantastik beigesteuert hat, denn bei The King’s Last Song (2006) handelt es sich um einen in Kambodscha spielenden, historischen Roman.
Seither hat Geoff Ryman ein gutes Dutzend weitere kürzere und längere Erzählungen vorgelegt, von denen vor allem die Novelette “Pol Pot’s Beautiful Daughter (Fantasy)” (im Magazine of F&SF, Oktober-November 2006) – eine Geistergeschichte, die als Pol Pots wunderschöne Tochter (2014) die Titelstory der gleichnamigen, hierzulande als Originlazusammenstellung erschienenen Kurzgeschichtensammlung* bildet – noch eine besondere Erwähnung verdient, und mit “What We Found” (im Magazine of F&SF, September-Oktober 2011) hat er erstmals den Nebula Award gewonnen, doch verglichen mit seinem früheren Ausstoß ist es ziemlich ruhig um ihn geworden.

* – Kurzgeschichtensammlung trifft es nicht ganz, denn in dem Band ist mit Das unbesiegte Land auch ein Kurzroman enthalten – aber wie soll man eine derartige Sammlung sonst nennen?

3 Kommentare zu Zum 70. Geburtstag von Geoff Ryman

  1. Elric sagt:

    Also das klingt jetzt irgendwie so, als ob man von dem guten Mann quasi alles lesen könnte und nix falsch machen kann!? Liste, Liste, wo hab ich nur mein Handy zum Notieren…

  2. gero sagt:

    @ Elric:

    Tja, dann … 😉

    Wobei ich vielleicht darauf hinweisen sollte, dass Ryman kein ganz einfacher Autor ist. In The Unconquered Country und in The Warrior Who Carried Life kommt man zwar mMn jeweils gut rein, wenn man sich auf die Prämisse einlässt (das gilt vor allem für TUC), aber TWWCL muss man dann schon ziemlich aufmerksam bzw. manchmal auch zwischen den Zeilen lesen (wobei die beide sprachlich toll sind).

    The Child Garden hingegen verlangt einem schon Einiges ab, denn in dem Roman steckt viel mehr drin, als ich da oben angerissen habe (allerdings ist Vieles davon mMn schwer fassbar, weswegen ich mich dann auf das beschränkt habe, was da steht). Das ist schon ein tolles Buch, aber … wie soll ich es sagen, das ist eher eines, das ich nicht unbedingt liebe, sondern mit sowas wie Ehrfurcht betrachte …

    253, dessen Printfassung ich auch gelesen habe, ist dann eher ein formales Experiment und als solches zwar interessant, aber mMn auch eher belanglos (das mag bei der urspünglichen Internet-Version anders gewesen sein). Als ich den Beitrag geschrieben habe, ist mir aber mal wieder eingefallen, dass ich mir eigentlich schon lange Air und den historischen Roman holen bzw. in letzteren zumindest reinschauen wollte, aber … ah, so many books, so little time … 😉

  3. Elric sagt:

    Gut, alles klar. ich hab mir die ersten 3 gleich mal auf meine Liste gesetzt… Bei der nächsten Bestellung wird sicher was davon abfallen… 😀 Danke dir!

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