Vom Land der Amazonen zu den Indigo-Inseln

Phantastische Reisen: Vom Land der Amazonen zu den Indigo-Inseln von Francois PlaceDie Insel Orbæ ist längst untergegangen, alles, was geblieben ist, ist der Atlas ihrer weltberühmten Kartographen. Er führt ins schneebedeckte Frostland, wo die Waljagd von Walrossreitern unterstützt wird, in die von Riesenkakteen bestandene Donnerwüste, deren felsiges Inneres ein dunkles Geheimnis birgt, auf die menschenleere Insel der Giganten, zu den Gewürzhändlern aus dem Golf Candaa und in viele andere unentdeckte Länder.

-Euphonos überquerte den Fluss am Fuße der Pappeln. Der Zufall wollte es, dass er nach einer langen, ziellosen Reise schließlich in dieser staubtrockenen Landschaft landete. Langsam wankte er voran, sein Reiseumhang drückte ihn wie eine schwere Last nieder.-
Im Land der Amazonen

Schade, daß der Originaltitel der Reihe, Atlas der Geographen von Orbæ, nicht auch in der deutschen Version zum Zuge gekommen ist, denn treffender könnte es kaum sein: Phantastische Reisen ist ein dreibändiger, alphabetisch geordneter Atlas imaginärer Landstriche. Im ersten Teil werden neun Länder vorgestellt, beginnend mit kleinen Karten, die in ihrer Symbolhaftigkeit am ehesten mittelalterlichen Weltkarten nachempfunden sind, dekoriert mit kleinen Menschen, Tieren, Landschaftsformationen und, wenn man genau hinsieht, bereits geschichtenerzählend.
Auf die Karten folgt jeweils eine mit großformatigen Aquarellen und kleinen Vignetten illustrierte Geschichte aus dem vorgestellten Weltteil, und jeder Abschnitt wird von einer Doppelseite in der Manier eines Forschungsberichts abgeschlossen, auf der Tiere, Bräuche, Kleider oder Naturphänomene der Region dargestellt werden (wie das z.B. bei den Amazonen aussieht, kann man hier betrachten).

François Place, der mehrfach ausgezeichnete französische Kinderbuchautor und Illustrator, hat sich für seine Phantastischen Reisen zweifellos vom Zeitalter der Entdeckungsfahrten inspirieren lassen, ist dem Lockruf der Ferne gefolgt und hat mit Stift und Pinsel weiße Flecken auf der Karte erschlossen, die es niemals gegeben hat.
Die Geschichten, die den Hauptteil des Buches ausmachen, changieren zwischen poetischen Märchen, wie man sie vielleicht bei einem Erzähler auf einem orientalischen Basar hören könnte, und Entdeckertagebüchern, zwischen traumartigen Volkssagen und bunten Lebenserinnerungen. Die Qualität ist unterschiedlich: Die bezaubernde Poesie der Eröffnungsgeschichte, in der vom Kampf der wilden Amazonen gegen einfallende Hexenmeister die Rede ist, wird im Nachfolgenden nicht mehr erreicht, dafür gibt es eine charmante Räuberpistole mit einer entführten, widerspenstigen Prinzessin, oder Mythen wie die aus dem Frostland, dessen Inuit-ähnliche Bewohner jedes Jahr in eine Art Winterschlaf fallen.
Bezüge zu irdischen Völkern und manchmal sogar konkreten Ländern sind immer wieder vorhanden, so trifft man auf ein Bergvolk, das von den Inka inspiriert ist, oder einen abenteuerlustigen Schotten, der in ferne Gefilde aufbricht, doch die Beschreibungen haben stets interessante Kniffe und einen eindeutig phantastischen Einschlag. Dabei geht Place auch sehr sensibel mit Exotismen und kolonialer Haltung um: Eindeutig weiße Völker sind hier in der Unterzahl, treten als Exoten auf und sind oftmals auch unterlegen: so vertreiben etwa die “Inka” die Invasoren mit ihren schamanistischen Zaubern zurück übers Meer.

Geschichten, Bilder und die Doppelseiten im Dokumentationsstil ergänzen sich und klären manche Einzelheit erst in ihrem Zusammenwirken auf. Place weiß allerdings auch genau, mit welchen Sehnsüchten er spielt, und läßt der Imagination genug Räume offen, indem er bewußt immer nur einen kleinen Ausschnitt der neu erschlossenen Länder und Völker zeigt und den Leser in Wort und Bild vehement einlädt, die eigene Phantasie auf weitere Forschungsreisen zu schicken.
Seine Aquarellzeichnungen, auf denen man viele Details entdecken kann, eröffnen einen Blick auf die neuen Landstriche, indem jede Region eine eigene Farbkomposition bekommt, jede Geschichte einen eigenen Bildcharakter.
Während diese sich oft erst auf den zweiten Blick erschließende Bilderpracht wohl eher erwachsene LeserInnen anspricht, sind die Geschichten einfach gestrickt und durchaus kindgerecht – es gibt keine großen Überraschungen, keine allzu komplexen Entwicklungen. Das Gesamtwerk besticht auch weniger durch die einzelnen Geschichten als durch seinen gigantischen Ideenreichtum und das Zusammenwirken zu einem riesigen Bilderteppich, aus dem sich eine Welt zusammensetzt, die vielfältiger, magischer, bunter ist als unsere. Jede Seite sprüht vor Kreativität, und nach Erfindungen wie dem Dreihäutemantel dürfte sich mancher Fantasy-Autor die Finger ablecken.

Konsequenterweise endet Vom Land der Amazonen zu den Indigo-Inseln mit einer Geschichte, in der das Fernweh selbst thematisiert wird, die Sehnsucht nach dem “Blau der Ferne”, repräsentiert durch eine unerreichbare Insel, der man niemals näherkommen kann und die doch das Ziel vieler unterschiedlicher Lebensreisen ist.
Allen, die gerne vom Lesesessel aus auf Entdeckungsfahrt gehen oder Sachbücher über imaginäre Welten lesen, kann man den Band nur ans Herz legen – der Atlas der Geographen von Orbæ ist das ulitmative Werk für Romantiker, die sich nach weißen Flecken auf der Karte sehnen.