Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne … und dem Ende?

Achtung: Der folgende Artikel beschäftigt sich mit Buchenden. Er könnte Spuren von Spoilern enthalten, allerdings höchstens als Tendenz und möglichst allgemein formuliert, außerdem beziehen sich die meisten Beispiele auf Klassiker.

Gute Enden sind rar, denn selbst, wenn alles gestimmt hat, am Ende eines Romans oder gar einer ganzen Buchreihe gibt es häufig etwas zu bekritteln: zu abrupt, zu einfach, zu schnell, zu viel auf einmal, zu positiv, zu negativ, zu offen, zu vollständig … die Liste ließe sich lange fortsetzen. Ob man ein Buch zufrieden zuklappen kann, ist beinahe genauso entscheidend für das endgültige Verdikt wie seine ersten Zeilen und das Interesse, das sie zu wecken vermögen. Bei den Fragen nach der Eindeutigkeit des Endes und dem Abschluß sämtlicher Handlungsfäden scheiden sich jedoch die Geister – wie bei der Toleranz gegenüber Happy endings.

In Mehrteilern wird das Problem erst recht manifest: Ein Finale, das all das einlösen (und auch noch toppen) kann, was über tausende Seiten aufgebaut wurde, das die Erwartungen befriedigt, aber möglichst noch überrascht und allem die Krone aufsetzt – wie sollte so etwas aussehen? Bei Mammutwerken ist eine Enttäuschung nur schwer zu verhindern, es sei denn, die gewählte Struktur gliedert sich nicht serienübergreifend in Anfang, Mitte, Ende, strebt keinem gesetzten Höhepunkt oder Finale entgegen und baut keine derartige Erwartungshaltung auf.
Der eigentlichen Schwierigkeit, die die Gestaltung eines guten Endes bietet, müssen sich allerdings auch AutorInnen weniger umfangreicher Werke stellen: Alles, was anfangs heraufbeschworen wurde und in der Imagination der Leserschaft unzählige Möglichkeiten eröffnet hat, wird wieder auf einen einzigen Punkt zusammengeführt. Wo vorher noch mit Erwartungen gespielt, der Entdeckergeist angeregt und mit Ideen begeistert wurde, muß nun eine Lösung alle Versprechungen erfüllen. Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, daß sie gut ankommt? Oder eine ist, an die noch niemand gedacht hat? Denn das sind die Ansprüche, die wir an Enden stellen – sie sollen “das Richtige” sein, aber auch einen Kniff bieten und nicht nur das liefern, womit wir gerechnet haben. Kurzum: Das Ende hat einen Sonderstatus innerhalb einer Erzählung inne.

Rundum gut soll es keinesfalls sein, denn “Friede, Freude, Eierkuchen” ist kein Ausdruck großer Anerkennung. Happy endings sind als unrealistisch stigmatisiert, ein schlechtes Ende – ein Scheitern – garantiert dagegen eine gewisse Aufmerksamkeit durch das Befremden der LeserInnen: Wir sind es gewohnt, daß uns Geschichten nicht mit durchweg negativen Emotionen im Regen stehen lassen.
Mit Erwartungen und Traditionen brechen, den Leser aufstören, seine Naivität und Trostsehnsucht und seinen Hang zu einfachen Erklärungen und Lösungen aufdecken, gehört allerdings zur Aufgabe der Kunst. Ist also das schlechte Ende dem guten objektiv überlegen, zaubert der Autor damit einen besonders tollen Trick aus dem Hut?
Zunächst kann es ein mindestens ebenso simpler Kniff sein wie eine Überdosis Zuckerguß: Ängste, Befremden und Entsetzen sind in der Regel leichter zu provozieren als unkitschiger Trost oder Hochstimmung. Es ist gut möglich, daß das vorgeblich so nüchterne und realistische negative Ende noch stärker auf emotionale Schlüsselreize setzt als ein Happy ending, das, um zu überzeugen, auf viel Vorarbeit bauen muß und sich nicht nur auf einen Aha-Effekt verlassen kann.
Der Grat ist schmal, entscheidend sind literarische Qualität und eine gewisse Aufrichtigkeit, um den Leser zu befriedigen – falls das bei negativen Enden überhaupt die Intention ist. Denn davor steht die Frage: Muß ein Ende denn befriedigend sein – und muß jede Geschichte beendet werden?

Unserer Neigung zufolge, die Wirklichkeit in Geschichten zu ordnen und zu gliedern: Ja. Grundsätzlich verlangt es uns nach vollständigen Einheiten, im Leben wie in Geschichten wünschen wir uns Abschlüsse und Neuanfänge.
Gerade in den hermetischen Geschichten, wie sie die Fantasy häufig erzählt, ist ein offenes (oder z.T. auch negatives) Ende nur ein Abschieben dieses Abschließens der Geschichte auf die Leserschaft. Die Erschütterung und das Spannungsgefühl, das dabei erhalten bleibt, zwingen regelrecht zu einer längeren Beschäftigung mit der Materie. Von einem offenen Ende fühlt man sich mitunter um einen Schlußstrich betrogen.
Vielbändige Zyklen mögen zwar etwas anderes implizieren, doch kaum einer wünscht sich wie Michael Endes bibliophiler Held Bastian Balthasar Bux eine Geschichte, die niemals endet. Der Zorn der LeserInnen, wenn wieder einmal eine Reihe vorzeitig abgebrochen wird, mag dafür als Indiz gelten.
Mit solchen Traditionen kann (und soll) man brechen, wie es etwa Miéville mit seinem im Stillstand endenden Iron Council (dt. Der eiserne Rat) tut, doch dazu braucht es schon ein gewieftes Konzept, um der narrativen Syntax noch gerecht zu werden. Was allerdings im Einzelfall als vollständige Geschichte empfunden wird und wie sehr LeserInnen es genießen können, literarisch befremdet und vor den Kopf gestoßen zu werden, ist freilich Geschmackssache.

In der Praxis sind die Enden stark vom Genre beeinflußt: Das negative Ende ist eher im Horror (oder nahe verwandten phantastischen Spielarten) zu finden, also dort, wo Texte tatsächlich verstören sollen. In der Fantasy sind negative Enden, in denen der Held scheitert und/oder stirbt, sehr selten: Da muß ein Held schon von seiner ganzen Konzeption her aufs Scheitern zusteuern wie Moorcocks Elric, damit auch das ein würdiger Abschluß sein kann, oder ein großes Ideal scheitern und untergehen wie in The Once and Future King (dt. Der König auf Camelot, T. H. White). Auch Tolkien mit seinen Bezügen auf epische Vorbilder läßt den Fall seiner Helden wie in Die Kinder von Húrin zu. Und in der Tolkien-Reprise The Sundering (dt. Elegie an die Nacht, Jacqueline Carey) mag das Böse zwar stilecht verlieren, doch damit scheitern auch die Protagonisten der Geschichte. Bei universellen Geschichten von Geburt und Tod, Ordnung und Chaos, Schöpfung und Untergang liegen negative oder offen-zyklische Enden nahe.

Die Fantasy hat häufig noch einen dritten Typus des Endes zu bieten, das ‘melancholische Ende’. Die erzählerische Struktur mit einer wie auch immer gearteten Heilung der Welt, die ihren Preis hat, oder auch ein zyklischer oder um Balance bemühter Weltenbau, der häufig anzutreffen ist, erfordern geradezu einen Abschluß mit einem lachenden und einem weinenden Auge. Bei der großen Anzahl an wichtigen Figuren, die die epische Fantasy in der Regel aufbietet, sind außerdem gewisse Verluste abzusehen. Erst durch ein ambivalentes Ende stellt sich bei vielen klassischen Fantasygeschichten das Gefühl der Vollständigkeit ein.
Tolkien jedoch, der mit dem Herrn der Ringe einen Prototypen für das melancholische Ende geschaffen hat, der eine “geminderte” Welt und einen stark kriegsversehrten Protagonisten zurückläßt, bezeichnet in Über Märchen das positive Ende – für ihn der einzig zulässige Abschluß märchenhafter Geschichten – als Eukatastrophe, eine “plötzliche Wendung zum Guten (denn kein Märchen hat ein echtes Ende)”.* Für ihn werden diese Geschichten künstlich mit einem formalisierten Schluß beendet, nachdem durch die Eukatastrophe gemäß Tolkiens christlicher Prägung der Erlösungsgedanke verwirklicht wurde. Genau diese Eukatastrophe ist es, die vielen Verächtern des Happy endings sauer aufstößt, ein unrealistisch-tröstlicher Umschwung im Finale. Tolkien selbst wußte allerdings  anders als viele seiner Nachfolger gut, wie er diesem Seelenbalsam eine bittere Note verleihen konnte.

Das melancholische Ende ist heute, einhergehend mit dem annähernden Verschwinden einer bestimmten Art klassischer Fantasy, die eher von einem charmanten Ernst als von Zynismus und erzählerischen Brüchen geprägt ist, sehr selten geworden. Daß es neben dem Herrn der Ringe auch bei so unterschiedlichen Autoren wie Richard Adams (Watership Down/Unten am Fluss) oder Thomas Burnett Swann (Minotaurus-Trilogie), bei Peter S. Beagle (The Last Unicorn/Das letzte Einhorn) oder in vielen Romanen von Guy Gavriel Kay anzutreffen ist, zeigt, daß es ein breites Spektrum innerhalb der Fantasy abdeckt, das sich über die engen Grenzen der epischen Fantasy erstreckt. Nicht selten sind es Klassiker, die den Zauber der Geschichten auch über ihr Ende hinaus transportieren können, was das melancholische Ende zu einem Archetypus des Genres macht.

Für ein gelungenes Ende gibt es keine Patentlösung. Die Autorin dieses Textes entscheidet sich für das unbeliebte offene Ende, in dem keine Fäden vorschriftsmäßig verknüpft, sondern die LeserInnen mit vielen Fragen zurückgelassen werden. Zu welchem Schluß kommt ihr, wenn es ums Ende geht?

  • *J. R. R. Tolkien: Über Märchen, hg.: Christopher Tolkien, in Gute Drachen sind rar, S.125

6 Kommentare zu Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne … und dem Ende?

  1. Katerchen sagt:

    Hm. Ich muß gestehen: über das Ende von Geschichten/Büchern habe ich mir nie Gedanken gemacht, aber wenn ich so in mich gehe bevorzuge ich tatsächlich solche Abschlüsse von Geschichten, wie Tolkien es für seinen “Herrn der Ringe” aufgebaut hat.
    Die halbe “Rückkehr des Königs” besteht aus Ende. Tolkien hat sich einfach die Zeit genommen für alle Protagonisten ein passendes (wie ich finde) Ende zu finden und zu erzählen und man empfindet es als richtig, das dieses Ende nicht für alle gut sein kann und es seinen Preis hat. Aber – eben gerade dieses Sich-Zeit-nehmen für ein würdiges Ende der Geschichte fehlt oft am Ende aller Seiten und wenn eine Geschichte offen gelassen wird, beschleicht mich einfach immer wieder das Gefühl, der Autor war zu faul sich etwas Adäquates zu überlegen.

    Beste Grüße vom
    Katerchen

  2. Colophonius sagt:

    Für mich ist das Schlüsselwort für ein gutes Ende tatsächlich: Konsequenz. Wenn sich der Schluß eines Buches logisch aus der Grundstimmung ergiebt, dann passt es für mich. Das heißt ja nicht, dass es keine überraschenden Wendungen geben kann oder eine stimmungstechnische Ambivalenz; im Gegenteil: ich bin großer Freund von tragisch-komischen Geschichten. Aber dann muss das Ende auch dieser Stimmung entsprechen. Das hatte Wulfila doch so hervorragend auf den Punkt gebracht: wenn Jon Snow und Daenerys unter Blütenblätterregen heiraten und Jamie Lannister Trauzeuge ist, mag das vielleicht noch so schön sein, aber stimmig ist es nicht. 😉

    Traurig ist es ja, dass ein Ende den Eindruck eines gesamten Buches ziemlich zu schmälern vermag, schließlich ist es der allerletzte Eindruck, den man von einem Werk gewinnt. Das hat mir schon den Lesegenuß von einigen Büchern, die hier lieber unerkannt bleiben möchten, verdorben.

    Und schließlich frage ich mich, ob man in ferner Zukunft, wenn es dann historische Romane über unsere Zeit gibt, überhaupt noch zu einem befriedigenden Ende kommen kann – schließlich bleiben eh alle über Facebook in Kontakt. 😀

  3. TeichDragon sagt:

    Auch Autoren machen sich sehr viel Gedanken über das Ende ihrer Bücher.
    Aktuell Nancy Kress:
    http://nancykress.blogspot.com/2011/05/endings.html

  4. Wurling sagt:

    Ich habe oft den Eindruck, dass das Ende zwar stimmig, aber eben weniger wichtig ist, je länger eine Geschichte erzählt wird. “Der Weg ist das Ziel” könnte man dann sagen, wenn ein langer Weg hinter Autor und Leser liegt. Tolkien hat es vorgemacht, wie ein Ende nach 1000 und mehr Seiten ausgiebig und gleichzeitig auch versöhnlich, traurig und gleichzeitig hoffnungsvoll aussehen kann. Aber wollen wir Leser das immer haben? “Der Herr der Ringe” ist in eine komplexe Welt eingebunden. Es gibt also auch nach dem Sieg über Sauron einiges zu erzählen. Aber brauchen das alle anderen Geschichten? Wichtig ist auf jeden Fall, dass das Ende zur Geschichte paßt. Bei Romanen brauche ich meist keinen Aha-Effekt, keinen sense of wonder, wie es bei vielen Kurzgeschichten üblich ist. Letztlich muss das Ende einfach passen und meistens wünsche ich mir ein “rundes” Ende.

  5. Elric sagt:

    Das schlimmste an einem Ende für mich ist, wenn es vorhersehbar bzw. offensichtlich ist! Und das hat mir – leider – schon so manches Buch “versaut”. Letzter Kandidat dafür (jetzt nicht steinigen!): Daniel Abrahams “Long Price”. Nach 50 Seiten im letzten Band war mir klar, was am Ende passieren würde. Deswegen mag ich die Reihe an sich auch nicht so besonders.

    Das Ende an und für sich ist extrem wichtig, da hat Colo Recht! Man erinnert sich lange an das Buch, wenn das Ende gepasst hat – oder wenn man sich furchtbar drüber aufgeregt hat!
    Der erwähnte Elric ist bei mir nur auf Grund des letzten Satzes so gut in Erinnerung geblieben. Corum dagegen (um beim Autor zu bleiben) hat ein schrecklich an den Haaren herbeigezogenes Ende. Die “Oswald Bastable”-Trilogie dagegen hat ein offenes Ende, obwohl ich erwartet hatte, dass es abgeschlossen wird… INRI lässt den Leser nach gerade mal 180 Seiten regelrecht im Regen stehen und man hat das Gefühl, dass der Autor selbst nicht so genau wusste, wie er abschließen soll – und es einfach gelassen hat.

    Im Gegenzug kann ich auch Wurlings Aussage verstehen: “Der Weg ist das Ziel”. Wenn das nicht stimmen würde, hätte ich wohl niemals behaupten können, dass Tad Williams tolle Bücher schreibt! Weder Osten Ard noch Otherland haben mMn gute Enden, aber die Geschichten sind prima.

    Ich glaube nicht, dass sich eine Antwort geben lässt auf die Frage “Welches Ende ist das Beste?” Es wird für mich immer auf “Das Ende, das zur Geschichte passt” hinauslaufen…

  6. mistkaeferl sagt:

    @Wurling: Nein, ich glaube nicht, daß jede Geschichte so einen starken Fokus auf das Ende braucht, oder so eine ausführliche Ausarbeitung wie bei Tolkien.
    Aber je mehr eine Geschichte thematisch in die Tiefe geht oder, einfacher gesagt, je mehr drinsteckt, desto mehr erwarte ich zumindest, daß das Ende nicht “hingerotzt” ist (wie man es ja, aus Gründen, über die man teils nur wild spekulieren kann, auch oft findet). Eine leichte Unterhaltungsgeschichte kann dagegen auch am Ende viel eher als Leichtgewicht daherkommen. Aber ich denke schon, daß man, auch wenn der Weg mit Sicherheit gerade bei längeren Sachen auch das Ziel ist, etwas enttäuscht ist, wenn es dann “einfach so” aufhört, oder sich alles plötzlich ohne große Anstrengung in Wohlgefallen auflöst. Aber du hattest ja das Zauberwort “stimmig” schon genannt.

    Die Unvorhersehbarkeit des Endes (@ Elric) werte ich dagegen nicht mehr so hoch. Ich glaube, mit einer gewissen Leseerfahrung sollte man damit dann doch nicht mehr allzu oft rechnen. 😉 Außerdem wirkt eine Überraschung nur einmal (wäre es dann beim zweiten Lesen schlechter?), aber es gibt m.E. viele andere Möglichkeiten, ein intensives Ende zu gestalten, das eine Weile hängen bleibt, ohne zwingend auf etwas Unvorhersehbares setzen zu müssen. Das kommt natürlich auf den Plot des Buches an. Wenn es bis zum Ende um die Auflösung irgendwelcher Rätsel geht und das wirklich den Hauptspannungsfaktor darstellt, und man selbige Auflösung schon kilometerweit gegen den Wind riechen kann, ist das wohl nicht ganz das Wahre …

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