Category: Metaflöz

Wenn wir zu einem Buch greifen, dann haben wir doch immer gewisse Vorlieben, was das Setting und die Handlung angeht. Für den einen ist es das Wüstenabenteuer, den nächsten die Mittelalterwelt und der dritte hat es vielleicht lieber möglichst urban. Unsere Vorlieben schwanken zwar, doch was uns beide schon seit jeher fasziniert, ist das Wasser. Dieses feuchte, kühle Nass, das unser Leben ermöglicht. In manch alten Mythen und Sagen bewegen sich die Protagonisten auf oder durch die See, und der Mensch fühlt sich, ob bewusst oder unbewusst, zu Quellen, Gewässern und Meeren hingezogen.
Das Wasser hat etwas Außerweltliches an sich und ist der „Ort“, den wir mit allerlei phantastischen und unheimlichen Geschichten assoziieren. Das Rauschen der Wellen, das dumpfe Gluckern, wenn man abtaucht, das Schweben auf und unter der Wasseroberfläche, die Lichtspiele des Sonnenlichts darin … all das ist ungeheuer faszinierend. Dabei ist keine von uns eine gute Schwimmerin. Seit einer Weile haben wir jedoch gemeinsam unsere Faszination für die Tiefsee neu entdeckt, der wir schon zu Jugendzeiten mit der TV-Serie SeaQuest gefrönt haben und die kürzlich durch den von moyashi gelesenen Roman Degrees of Wrong, der an die Serie erinnert, eine Wiederbelebung erfuhr. Seitdem versuchen wir wieder in die Stille der Tiefsee abzutauchen (etwa mit solchen Bildern) und auf Unterseeschiffen Abenteuer zu erleben.

Titelseite von Vingt mille lieues sous les mersDie Faszination für das, was sich unter der Oberfläche der Meere verbirgt, treibt die Menschheit schon lange um und schlägt sich seit der Antike in der Literatur nieder, zum Beispiel im Alexanderroman, in dem Alexander der Große mit einer Taucherglocke den Meeresboden erkundet. Die frühen Entwürfe von Leonardo da Vinci für ein Unterwasser-Vehikel greift Terry Pratchett in Jingo (Fliegende Fetzen) in all ihrer humoristischen Konsequenz auf. Im großen Stil tauchte jedoch als einer der ersten Jules Verne mit der Nautilus in 20.000 Meilen unter dem Meer hinab in die unerforschten Tiefen und brachte damit die Idee der U-Boote aufs literarische Tableau. Heutzutage sind viele seiner Ideen eingeholt, und wer sich nach eher futuristischen Unterseeabenteuern sehnt, muss ein bisschen suchen. Relativ aktuell hat sich Geoffrey Morrison mit seinem Roman Undersea der Thematik angenommen, und immerhin noch in diesem Jahrzehnt beendet wurde die Rifters-Trilogie von Peter Watts, einem Meeresbiologen, der in den Bänden Starfish, Maelstrom und βehemoth (dt. Abgrund, Mahlstrom, Wellen) eine Zukunft beschreibt, in der sogenannte Rifters, für das Unterwasserleben modifizierte Menschen, die Energiegewinnung aus der Tiefsee am Laufen halten. An dieser Stelle muss wohl auch Frank Schätzing mit Der Schwarm genannt werden, auch wenn darauf das Label SF niemals offiziell abgedruckt wurde.
Ohne Frage werden auch viele den Titel Sphere von Michael Crichton kennen, wenigstens als Film, ebenso The Abyss mit seiner Novelization von Orson Scott Card – beide spielen mit der Tatsache, dass das Meer dem Menschen fremd bleibt, und auch, wenn er es erkunden kann, ein feindlicher Lebensraum ist, der ihm bestimmte Limits und Verhaltensregeln auferlegt. Auch Mauren F. McHugh versuchte es in diesem Fahrwasser mit dem Titel Half the Day is Night und schuf eine klaustrophobische, marode Unterwasserkuppel in der Karibik, die aber politische und wirtschaftliche Machenschaften in den Vordergrund stellt.
Wer auf der Suche nach mehr Unterwasser-Science-Fiction ist, dem hilft vielleicht diese kleine Liste als erste Orientierung.

Während in der Science Fiction der Fokus häufig auf der Erkundung oder Eroberung (als menschlicher Lebensraum oder Rückzugsort) der Meereswelten liegt, steht in der Phantastik meist die Bedrohung im Vordergrund, die das Andere, das Unbekannte oder sogar Unbewusste darstellt. Ein Meister dieses Meeresschauers ist William Hope Hodgson (siehe Stimme in der Nacht), bei dem Seeleuten oder Schiffbrüchigen ständige Gefahr aus dem Meer droht, mitunter mit cthulhoider Anmutung. Dass das Meer vor dem 20. Jahrhundert und den technischen Errungenschaften zu seiner Vermessung terra (oder vielmehr aqua) incognita war, ist dabei sicher von Bedeutung und trägt auch dazu bei, dass in der Fantasy die mythischen Qualitäten des nassen Elements im Vordergrund stehen.

The Maracot Deep von Arthur Conan DoyleWenn wir an das Thema Wasserwelten in der Fantasy denken, so fällt uns vermutlich ad hoc ein Name ein: Atlantis. Macht Atlantis im Genre seine Aufwartung, dann häufig als Herkunftsmythos für außergewöhnliche Figuren von Kull (Robert E. Howard) bis Merlin (Stephen Lawhead), doch auch der Untergang wird thematisiert, unter anderem bei Marion Zimmer Bradley (Web of Light/Web of Darkness, dt. Das Licht von Atlantis) und J.R.R. Tolkien in Form von Atalante/Númenor im Silmarillion und Unfinished Tales of Númenor and Middle-earth (Tolkien hatte, nebenbei bemerkt, auch ein Faible für Meeresgötter und Seefahrer). Dass Atlantis als Unterwasserschauplatz auftaucht, ist dagegen eher selten, doch in Kara Dalkeys Water Trilogy mit den Bänden Ascension, Reunion und Transformation ist genau das die Heimat der letzten Atlanter, die mit Alien-Technologie in einer unterseeischen Stadt überleben konnte, und Arthur Conan Doyle hat in The Maracot Deep (Die Maracot-Tiefe) eine Forschungsreise in einem Tauchboot zum versunkenen (und mitnichten verlassenen) Atlantis beschrieben.

Da das Wasser an sich aber ein sehr weites Thema ist, dem sich die Fantasy auf vielfältige Weise widmen kann – von überfluteten Welten und Seefahrergeschichten bis hin zu Archipel- und Inselkulturen, oder, wie bei E.L. Greiff mit ihrer Trilogie Zwölf Wasser, die es gleich zum konzeptionellen Mittelpunkt ihrer Romane macht, in all seinen Erscheinungsformen – wollen wir uns hier auf das konzentrieren, was unter der Oberfläche stattfindet und es ansonsten bei einem Verweis auf unsere Liste mit Meeresabenteuern und unser Seeungeheuer-Special belassen.
Wenn man nämlich in die Tiefe taucht, kann man noch ein paar Fantasy-Titel aufstöbern  – und Unterwasserwelten, die das Leben an Land widerspiegeln, mit eigenen Völkern, Gefahren und Fischfreunden für die Helden, mögen wir doch spätestens, seit wir Otfried Preußlers Der kleine Wassermann kennengelernt haben, oder?
Meeresvölker treten in etlichen High-Fantasy-Welten am Rande in Erscheinung und tragen eventuell das Ihre zum Sieg gegen das Böse bei, so z.B. bei James Clemens Wit’ch Storm (dt. Das Buch des Sturms), wo die Basis der Meeresbewohner eine von einem Leviathan beförderte Stadt ist. Uschi Zietschs Nauraka, das geheimnisvolle Wasservolk ihrer Welt Waldsee, darf sich sogar in einem eigenen (gleichnamigen) Roman breit machen. Auch Sydney J. Van Scyocs Drowntide und Alida Van Gores The Mermaid’s Song widmen sich vollständig mehr oder wThe Merman's Children von Poul Andersoneniger klassischen Unterwasservölkern, wobei ersteres die Angst vor dem Fremden unter den Wellen betont, zweiteres sich in seinem Element dagegen vollkommen wohlfühlt, wenn Meerjungfrau Elan mit ihren Freunden (einem Delphin und einem Kraken) auf eine Queste ausschwimmt. Bei China Miévilles The Scar gibt es nicht nur bizarre bis unangenehme Unterwasservölker, es spielt als Bonus auch noch auf einer Stadt aus Schiffen und angelt nach einem richtig großen Fisch. Das mythische Meervolk in seinem “historischen” Kontext trifft man u.a. in Poul Andersons The Merman’s Children (Kinder des Wassermanns) an, denen die Veränderung der Welt durch die Christianisierung zu schaffen macht.
Sogar richtige U-Boote kann man in der Fantasy finden: In Anselm Audleys Aquasilva Trilogy (Sturmwelt-Saga) gibt es die sogenannten “Mantas” als Transportmittel auf der größtenteils von Wasser bedeckten Welt.
Einen trockengelegten, in eindrucksvollen Bildern beschriebenen Meeresgrund kann man dagegen schließlich mit Hexer Geralt in “Ein kleines Opfer” (Das Schwert der Vorsehung) erkunden.

Die Wassermagier von Alua von Jonas KrügerSehr einfallsreiche Unterwasserwelten trifft man übrigens auch im phantastischen Jugendbuch an, sei es im Science-Fiction-Stil wie in D.J. McHales Die verlorene Stadt Faar, dessen in ökologische Bedrängnis geratene Meereszivilisation allerdings nach anfänglicher Begeisterung etwas eintönig wird, oder als detailfreudig geschildertes Fantasy-Szenario wie in Die Wassermagier von Alua (Jonas T. Krüger), und mit Sicherheit bekannter, Kai Meyers karibisch angehauchter und von vielen klassischen Meeresabenteuern inspirierter Wellenläufer-Trilogie, in der man unter anderem ins Innere eines Wales gerät.
Das sollte genug Stoff sein, um den Lesesessel flugs in ein Tauchboot zu verwandeln, und weitere, in unserem eab gesammelte Tipps haben wir in untenstehender Liste verlinkt. Wenn ihr noch Ergänzungen habt, fügen wir sie gerne an!

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  • Matt Ruff – Gas, Sewers Electric (G.A.S.): Handlungsstrang auf einem U-Boot voller Ökoterroristen, der Yabba-Dabba-Doo
  • Kate Elliott – Crown of Stars (Sternenkrone): ein Meeresvolk, die “Mermen” treten auf
  • Fritz Leiber – “When the Sea King’s away”: Fafhrd & der Graue Mausling erleben in ein Unterwasserabenteuer
  • Walter John Williams – Implied Spaces: ein Teil der Handlung spielt auf einer (Unter-)Wasserwelt
  • Paul Hazel – Undersea (Meeresgrund): ein Totenreich unter Wasser wird besucht
  • Sheila Finch – The Guild of Xenolinguists: einige Kurzgeschichten spielen auf (Unter-)Wasserwelten
  • Robert Shea und Robert Anton Wilson – “Illuminatus!”-Trilogie: Es gibt eine Reise im U-Boot Yellow Submarine zum versunkenen Atlantis

Metaflöz

Bücher zu lesen macht in aller Regel Spaß, das wird wohl kaum ein Besucher der Bibliotheka Phantastika bestreiten. Eine andere Form des Lesevergnügens bleibt dagegen oft unbemerkt oder zumindest unbewusst: Die Freude an der Lektüre von Texten über Bücher, insbesondere über Romane.

Zugegeben: Oft ist diese Art des Lesens vor allem zweckgebunden, ganz gleich, ob es einem nun um Erkenntnisgewinn, Meinungsaustausch oder Hilfestellung bei der nimmerendenden Jagd auf Bücherbeute geht. Doch abseits aller praktischen Erwägungen ertappe ich mich bei meinen Streifzügen durchs Internet immer wieder dabei, Rezensionen, Inhaltsangaben und sogar die allgemein so verpönten Spoiler auch dann zu verschlingen, wenn ich gar nicht vorhabe, den Roman, auf den sie sich beziehen, in nächster Zeit oder überhaupt jemals zu lesen. Manchen Text kann ich dabei wie ein Lieblingsbuch durchaus auch mehrfach zur Hand nehmen. So bringt mich z.B. diese Rezension eines historischen Romans, den ich weder kenne noch kennen möchte, zuverlässig immer wieder zum Lachen. Aber warum amüsiere ich mich so prächtig dabei, etwas über ein Buch zu lesen, das ich mir ganz bestimmt nicht freiwillig zu Gemüte führen werde und bei dem die Aussicht (respektive die Gefahr), dass es mir je in die Hände fällt, eher gering ist?

Beim Verständnis dieses Phänomens hilft vielleicht Ephraim Kishons Satire Wie man ein Buch bespricht, ohne es gelesen zu haben, und das nicht nur, weil es darin um das Reden über Bücher geht, sondern auch aufgrund der Wirkung, die ein bestimmter erzählerischer Kunstgriff auf den Leser ausübt. Abgesehen von dem Geschick, mit dem Kishon den Ich-Erzähler einem hoffnungsvollen Autor gerade genug Informationen über dessen Buch entlocken lässt, um sich scheinbar sinnvoll dazu äußern zu können, besteht der Reiz der Geschichte nämlich vor allem darin, dass die Phantasie Purzelbäume schlägt, wenn man sich den ungelesenen fiktiven Roman auszumalen versucht, in dem unter anderem ein Zoologe, der Sturmtruppenkommandant Meir-Kronstadt, der charakterlich nicht ganz einwandfreie Boris und ein Kamelrennen um den Harem eines Scheichs eine Rolle spielen.

Ganz ähnlich wie Reizwörter rufen solch knappe Angaben eine Fülle von Assoziationen hervor, und das auch dann, wenn sie sachliche Informationen zu bieten versuchen, statt wie bei Kishon als bewusstes Spiel mit der Vorstellungskraft des Lesers zu dienen. Überspitzt ausgedrückt verbirgt sich also in jedem Text über einen Roman schon eine imaginäre Fassung des jeweiligen Buchs, die mir in manchen Fällen völlig ausreicht, und zwar nicht nur, wenn man wie bei dem oben verlinkten Beispiel auf ein sehr gewöhnungsbedürftiges Original schließen kann.

Denn obwohl das Lesen über Romane Enttäuschungen bei der späteren Lektüre durchaus verhindern kann und soll, kann es sie auch hervorrufen. Manch eine Inhaltsangabe oder Rezension weckt Erwartungen, die das zugrundeliegende Werk, das sich an seinem imaginären Zwilling messen lassen muss, nicht erfüllt. Was auf die Grundzüge reduziert als gute Idee erscheint, erstarrt in der tatsächlichen Umsetzung allzu häufig im Mittelmaß. So war z.B. die Vorstellung, die ich mir nach der Lektüre einer Inhaltsangabe von Matthew Sturges’ Midwinter gemacht hatte, schier grandios, die Wirklichkeit weit prosaischer. Aber bis ich das Buch dann tatsächlich gelesen hatte, waren die vermuteten Romanhelden richtig tolle Kerle, und gelegentlich habe ich bis heute Spaß daran, an die unglaublichen Abenteuer zurückzudenken, die ich mir für sie ausgemalt hatte (und die ihrem tatsächlichen Autor leider nicht eingefallen sind).

Gerade in der Fantasy bieten Sekundärtexte also bisweilen weit eher als Romane das, wovon das Genre doch eigentlich lebt: Viel Raum für Phantasie.

Metaflöz

Für viele von uns sind Namen mehr als nur interessante Buchstabenfolgen – weit über simple Allegorien hinaus verorten sie uns LeserInnen in einer fremden Welt, sagen uns, welchen Klang sie hat, wie vertraut oder fremd sie ist, welchen Bezugsrahmen sie schafft, wie erfindungsreich oder gewöhnlich sie sich präsentiert.
LeserInnen phantastischer Literatur wünschen sich zurecht, dass bei der Übersetzung von Eigennamen sorgfältig und sensibel vorgegangen wird.

Viele wünschen sich allerdings auch, dass Eigennamen generell unübersetzt bleiben sollen.
Doch während wir in der „realistischen“ Literatur schon lange mehr keinen Herrn Schmidt aus einem Mr Smith machen, ist dieser Wunsch in der phantastischen Literatur zu kurz gesprungen. Wann immer es um eine eigenständige Sekundärschöpfung geht – also eine Welt, auf der kein Großbritannien, kein Deutschland, keine USA existieren – gibt es auf die Frage, ob (sprechende) Eigennamen einer Übersetzung bedürfen, nur eine Antwort: Ja!
Die Gründe hierfür lassen sich unter drei Punkten zusammenfassen:

1, Verständlichkeit
Nicht alle LeserInnen beherrschen die Originalsprache. Wer einwenden will, die heutigen DurchschnittsleserInnen seien mit ausreichend vielen Anglizismen und der englischen Sprache an sich vertraut, muss sich der Frage stellen, wer dabei auf der Strecke bleibt: Was Qhorin Halfhand auszeichnet, mag sich fast jedem erschließen. Aber was, wenn AutorInnen sich mit Etymologie und Onomastik ihrer Muttersprache beschäftigt haben – was bei der Weltschöpfung und der Auseinandersetzung mit Sprache durchaus zum Handwerk gehören kann –, wenn also die sprechenden Elemente der Wörter einzelne Morpheme sind, vielleicht sogar veraltete? Versteht auch jeder, der Herrn Halbhand zuordnen konnte, was es mit der achtbeinigen Shelob auf sich hat?[1] Dabei sind uns manche Namensbausteine mit Bedeutung nicht einmal in der eigenen Sprache ganz klar bewusst: die zahllosen Müllers stellen uns vor kein Problem, und wir wissen, was Neustadt bedeutet, bei Stuttgart oder Schubert wird der ein oder andere nachdenken oder -schlagen müssen. Anderes wissen wir intuitiv, können es i.d.R. aber nicht aktiv abrufen. Was bedeutet die Endung „schaft“? Und wissen wir um diese Dinge tatsächlich auch in einer Fremdsprache?
Spätestens, wenn die Fremdsprache nicht mehr Englisch heißt, offenbart sich das Ausmaß der Problematik: Was ist mit spanischen Namen? Russischen? Wer hätte sich beim Geralt-Zyklus des polnischen Autors Andrzej Sapkowski eine Sängerin namens Oczko gewünscht statt Äuglein? Oder hätte Geralt auch gleich der Wiedźmin Geralt z Rivii bleiben sollen?
Für LeserInnen, die der Originalsprache nicht oder nicht ausreichend mächtig sind, geht bei einer unterlassenen Übersetzung von Namen eine Bedeutungsebene ganz oder teilweise verloren, dafür wird eine nicht intendierte Ebene hinzugefügt, was uns zum nächsten Punkt bringt.

2, Wirkung
Unsere Muttersprache haben wir verinnerlicht, mitsamt ihrer Wortbildung und der groben Bedeutung einzelner Bausteine, so dass wir Erklärungen sofort, meist sogar passiv abrufen können – was bei guten sprechenden Namen (v.a. Ortsnamen) ein äußerst nützlicher Umstand ist: Sie fügen sich relativ natürlich in den Kontext ein, ihr Bedeutungsinhalt ist etwas, über das man im Zweifelsfall nicht zweimal nachdenken muss. Ein unübersetzter Eigenname bleibt dagegen ein Fremdkörper im Text, der zwar vielleicht verstanden wird, jedoch eine „Exotik“ ausstrahlt, die so nicht intendiert war. Denn etwas, das vorher mit dem Kontext verschmolzen ist, ragt nun in der Fremdsprache daraus hervor und wird anders wahrgenommen. Und das Herausragende sind dann genau jene Elemente, die vom Autor/der Autorin ursprünglich so angelegt wurden, dass sie ohne Hürde verstanden werden können.
Folgende Sätze illustrieren das Problem vielleicht:

Die Zeit Damelon Giantfriends neigte sich im Land ihrem Ende zu, noch bevor meinesgleichen den Bau von Coercri oder Grieve vollendeten, der Siedlung der Riesen bei Seareach.[2]

Als Herr Bilbo Baggins von Bag-End ankündigte, daß er demnächst zur Feier seines einundelfzigsten Geburtstages ein besonders prächtiges Fest geben wolle, war des Geredes und der Aufregung in Hobbiton kein Ende.[3]

Für einige LeserInnen ist vermutlich die Verfremdung, die unvertraute Assoziation, die das Englische mit sich bringt, durchaus reizvoll – sie finden Stormhaven, Hayholt oder Wormtail in einem deutschen Text klangvoller als Sturmhafen, Hochhorst oder Wurmschwanz. Zumal aufgrund der angloamerikanischen Provenienz eines Großteils der Fantasy und der langen Tradition, Eigennamen mitunter unübersetzt zu lassen, englische Begriffe womöglich auch mit „Fantasyflair“ assoziiert werden und schon immer eine Prise Exotik beigesteuert haben, die gern angenommen wurde.[4] Der Effekt ist dennoch gegenläufig zu dem, was AutorInnen mit sprechenden Namen bezwecken – etwas Vertrautes oder auch Ungewohnt-Nachvollziehbares mit dem Material zu schaffen, das ihnen und ihren LeserInnen zur Verfügung steht.
Besonders deutlich wird die verfremdete Wirkung nicht eingedeutschter Namen, wenn man auf den Klang achtet, obige Sätze z.B. laut liest, denn dann stehen mitten im Satz Wörter, die anderen Ausspracheregeln folgen. Dadurch kommt es zu einem Bruch im Lesefluss, der sogar noch weiter geht, wie im nächsten Punkt ausgeführt.

3, Immersion
Wenn eine Fantasywelt als Sekundärschöpfung vorliegt, wird die innertextuelle Fiktion häufig durch eine eigene Historie und deren Verschriftlichung und durch eigene Sprachen verstärkt. Nicht selten gibt es Referenzen auf Bücher, Chroniken, Annalen dieser Welten. Wenn diese Fiktion zu Ende gedacht wird, ist die Muttersprache des Autors oder der Autorin lediglich ein Substitut für die Sprache der Welt der Geschichte, und AutorInnen sind “ÜbersetzerInnen” aus dieser Sprache.
Den Archetypus für diese Idee hat Tolkien (bei dem auch die Sprachschöpfung vor der Weltschöpfung stand) mit seinem Roten Buch geschaffen, der fiktionalen Quelle seiner Mittelerde-Geschichten: Anhang F von Der Herr der Ringe erklärt:

Bei der Sprache, die in dieser Geschichte durch Englisch ausgedrückt wird, handelt es sich um das Westron oder die “Gemeinsprache” der westlichen Lande von Mittelerde im Dritten Zeitalter.

Tolkien treibt die Fiktion soweit, dass er Eigennamen, die auf Westron Bedeutung tragen, in ihre Entsprechungen im Englischen (oder verwandten Sprachen) “übersetzt” hat, und auch phonetische Anpassungen vornahm: So ist z.B. auch das Wort Westron selbst eine Übersetzung von Adûni, und die Hobbit(was natürlich auch eine Übersetzung ist)-Familie Boffin ist eine phonetische Angleichung von Bophîn ans Englische.[5]
Kompliziert und weit hergeholt? Es geht auch einfacher: Gibt es einen Grund, weshalb man auf Mittelerde, in Osten Ard oder in Bas-Lag Englisch sprechen sollte? Nein, denn all diese Welten sind so aufgebaut, dass sie eigene Sprachen und Kulturen besitzen und losgelöst von unserer Welt stehen. Auf Fantasywelten spricht man Hardisch, Khuzdul oder Galach.
Englische Einsprengsel führen dazu, dass die Illusion zerstört wird, sich in einer anderen Welt zu befinden, denn Englisch ist für viele LeserInnen konkret verortet, wohingegen Deutsch als unsere Default- und Denksprache in den Hintergrund tritt – es ist für Muttersprachler ein Neutrum (Bayrisch oder Platt verorten wir allerdings sehr wohl, weshalb Dialekte für Fantasy meist gänzlich ungeeignet sind). Das Eintauchen in eine Fantasywelt wird durch eine Verortung der Sprache in unserer Welt erschwert, und allein die Tatsache, dass man bei unübersetzten Namen plötzlich wieder Englisch und Deutsch vor der Nase hat, macht die Übersetzungarbeit und die Sprachunterschiede unserer Welt sichtbar.

Übersetzung: unerlässlich
Leider kann die Fantasy-Literatur auf eine lange Reihe schlampig oder nur teils übersetzter Namen zurückblicken. Auch heute wird das Thema unterschiedlich gehandhabt, und die sonstige Verwendung von Anglizismen sorgt dafür, dass englische Begriffe als jugendlich-spritzig gelten und daher z.T. gezielt im Text belassen werden.
Betrachtet man übrigens den umgekehrten Weg, die Übersetzung vom Deutschen ins Englische, werden sprechende Namen natürlich auch übertragen, so hat etwa Ralph Manheim, der neben Grass und Brecht auch Michael Ende übersetzte, nicht nur die “Desert of Colors” und die “Swamps of Sadness” in den Text von The Neverending Story eingebracht, sondern auch aus Phantásien Fantastica gemacht und sogar phonetische Anpassungen vorgenommen, etwa von Fuchur zu Falkor.
Solche phonetischen Anpassungen kommen auch vom Englischen ins Deutsche vor (z.B. Winnie-the-Pooh zu Pu der Bär) und sind zumindest in Fällen, in denen die Aussprache der Originalnamen nach deutschen Regeln völlig in die Irre führen würde, sinnvoll – aber mit Sicherheit strittiger als reine Namensübersetzungen.

Trotz der eindeutigen Gründe für eine Übersetzung von Eigennamen[6] ist nachvollziehbar, dass es Probleme mit der Eindeutschung gibt. Nicht nur, weil es häufig schwierig, wenn nicht gar unmöglich ist, Namen eins zu eins zu übertragen, sondern vor allem, weil die Namen gerade in der Fantasy die Realität der benannten Figur, des Ortes oder der Sache konstituieren, ihre Identität maßgeblich mitbestimmen. Bei einem Gegenstand von solcher Bedeutung spielt die Gewohnheit zwangsläufig eine große Rolle, und ganz gleich, wo man dem Original-Namen zuerst begegnet ist – im englischen Roman, in einem Internetforum oder in einer alten Übersetzung –, ist es verständlich, wenn man eine Eindeutschung auf den ersten Blick ablehnt. Meine Bitte wäre daher: Riskiert auch einen zweiten Blick. Gerade die ÜbersetzerInnen, die sich um die Übersetzung von Namen bemühen, machen sich häufig Gedanken, gehen nicht unbegründet vor, sprechen sich mit dem Autor oder der Autorin ab.
Umgekehrt ist für eine Akzeptanz von übersetzten Eigennamen eine hohe Qualität dieser Übersetzungen und nicht zuletzt konsequentes Vorgehen nötig – dann können sprechende Namen die ihnen eigene Poesie entfalten und wir müssen nicht auf den Grauen Mausling, Simon Mondkalb, das Auenland oder Schwelgenstein verzichten.

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  • 1 Margaret Carroux hat es in ihrer Übersetzung von Der Herr der Ringe bei näherer Betrachtung ziemlich gelungen mit Kankra ausgedrückt – mehr darüber kann man hier nachlesen.
    2 aus: Lord Fouls Fluch (Stephen R. Donaldson); in der Übersetzung von Horst Pukallus heißt es tatsächlich: Die Zeit Damelon Riesenfreunds neigte sich im Lande ihrem Ende zu, noch bevor meinesgleichen den Bau von Coercri oder Herzeleid vollendeten, der Siedlung der Riesen an der Wasserkante. Der Effekt wird allerdings zunichte gemacht, wenn ein paar Seiten weiter Diamondraught getrunken wird.
    3 aus: Der Herr der Ringe: Die Gefährten (J.R.R. Tolkien); in der Übersetzung von Margaret Carroux heißt es tatsächlich: Als Herr Bilbo Beutlin von Beutelsend ankündigte, daß er demnächst zur Feier seines einundelfzigsten Geburtstages ein besonders prächtiges Fest geben wolle, war des Geredes und der Aufregung in Hobbingen kein Ende.
    4 Die Vehemenz, mit der Namensübersetzungen manchmal verteufelt werden, lässt den Schluss zu, dass muttersprachliche Eigennamen der Leserschaft vielleicht zu wenig phantastisch sind, zu gewöhnlich klingen.
    5 Näheres hier: http://tolkiengateway.net/wiki/Westron#Translation
    6 Bei Fantasy, die auf unserer Welt spielt oder bei der aus anderen Gründen die Sprache Englisch (oder andere Fremdsprachen) existieren, fällt das Argument der Immersion natürlich weg, und die anderen beiden sind abzuwägen gegen die Authentizität der sprachlichen Herkunft der Eigennamen.

Metaflöz

Kleine Vorbemerkung: unter dem Stichwort “Colocomicon” wird von nun an eine Comic- bzw. Cartoon-Reihe erscheinen, die sich mit mannigfaltigen Themen rund um’s Buch beschäftigt. Die Reihe beginnt heute mit der Bemühung, Natur- und Geisteswissenschaften einander näherzubringen.

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Hinweis: wenn Ihr MudSS-Wert negatv ist, sollten sie dringend einen Arzt aufsuchen.

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Dieses Video auf Collegehumor.com hat den Anlass geliefert, uns anzuschauen, wie es um die „Kettenbikinis“ in der Fantasyliteratur bestellt ist:

Der Kettenbikini und seine Verwandten sind – vielleicht, weil eine Beschreibung in Worten seine Absurdität doch zu sehr enthüllen würde? – vor allem ein Phänomen der bildlichen Darstellung. Games, Filme, Comics, Pen&Paper-Rollenspiele (insbesondere die frühen Dungeons&Dragons-Ausgaben mit Werken von Larry Elmore) und Buchcover glänzen mit diesen Schmalspurrüstungen. Ein literarisches Motiv scheint der Kettenbikini dagegen nicht zu sein, denn selbst in den damit so eindringlich (oder aufdringlich?) illustrierten Werken tritt er meistens gar nicht in Erscheinung. Heute würde man die Cover aus der Hochzeit des Kettenbikinis als Fanservice bezeichnen, ein Marketingargument für eine angenommene hauptsächlich heterosexuelle, männliche Leserschaft. Diese “goldene Zeit” des Kettenbikinis (die 1980er Jahre) ist erfahreneren Genre-LeserInnen sicher noch in lebhafter Erinnerung:

Cover von Die Burg der Verräter von Mercedes Lackey/Josepha ShermanTore ins Chaos von C. J. Cherryh

Gerne würde man die 1980er für diese Cover belächeln, aber leider finden sich derartige klischeehafte Darstellungen immer noch. Heutzutage sind es vor allem Computerspiele, die auf den sex-sells-Faktor von halbnackten Frauen setzen. Man nehme etwa die unterschiedlichen Rüstungsdesigns aus World of Warcraft:

Rüstungsvergleich World of Warcraft
Plattenhose und Oberteil sind jeweils dasselbe Modell an einem weiblichen und einem männlichen Zwerg. Bei Menschen- und Elfenfrauen schrumpfen sie noch ein Stück weiter.

Cover von The Frozen God von Richard KirkEs wird deutlich, dass Kleidung für Frauen in diesen Medien vor allem einen Zweck erfüllen soll: strategisches Enthüllen. Zugleich wird damit aber auch die Geschlechtsneutralität der Klassenwahl (und damit der Rollenverteilung in einer Fantasywelt) untergraben, indem das kämpferische Element bei weiblichen Figuren deutlich in den Hintergrund tritt – praktisch wie optisch. Man betrachte dazu auch das Cover von The Frozen God, auf dem sich die Schwertmeisterin Raven in mehr als eindeutiger und alles andere als kriegerischer Pose befindet. Die Idee, kämpfende Frauen stark zu sexualisieren und wenn möglich nackt darzustellen, ist nicht neu (siehe etwa Rubens’ Amazonenschlacht) und war häufig mit Mythen über die letztendliche Überwindung der sexuell attraktiven, kämpfenden Frau durch einen männlichen Kämpfer verknüpft (z.B. Achill und Penthesilea, hier in der Interpretation von Tischbein). Abseits phantastischer Medien ist natürlich ebensowenig Schluss mit der zusammenhanglosen Zurschaustellung weiblicher Körper, man werfe nur einen Blick auf die Werbung oder die Bekleidungsvorschriften für Beach Volleyball.

Natürlich tauchen auch halbnackte Männer auf den Covern auf (durchaus bis heute), zumeist übernatürlich muskulöse Barbaren. Anders als die leicht bekleideten Kriegerinnen stellt dies aber weniger eine Erotisierung mit sex-sells-Funktion dar, als vielmehr das Zelebrieren einer (Hyper-)Maskulinität.

Cover von Der dunkle Thron von Chris Bunch

Wie gerade das letzte Cover zeigt, stehen die Darstellungsformen “entblößte Frau” und “hypermaskuliner Mann” in Zusammenhang und bekräftigen eine Geschlechterhierarchie, die durch die kämpfende Frau zumindest potentiell bedroht war. Denn gleichzeitig werden über den Kettenbikini – wie es auch im Video angesprochen wird – geschlechtsspezifische Zuschreibungen bestärkt bzw. als Grund für die Schmalspurrüstung vorgeschoben, wobei die geringere Körperkraft von Frauen das Hauptargument darstellt. Ein weiteres schönes Beispiel dafür liefert uns Red Sonja, deren Kettenhemd zwar an den richtigen Stellen Sonjas Kurven nachgab, aber ursprünglich immerhin den ganzen Körper bedeckte, was sich allerdings bald änderte, sodass auch die moderne Red Sonja mehr Schwert schwingendes Pin-up denn Kriegerin ist.

Red Sonja bei ihrer Einführung in Conan the Barbarian #'s 23-24, Quelle: Diversions of the Groovy Kind

Das Klischee der spärlich bekleideten Kriegerin hat also inzwischen auf so vielen Ebenen Eingang in die Popkultur gefunden, dass problemlos in parodistischer Form darauf Bezug genommen werden kann (z.B. in Pratchetts Scheibenwelt-Romanen oder Esther M. Friesners Anthologiereihe Chicks in Chainmail). Der Frage, ob vor den Parodien jemals literarische Originale standen oder ob sie ihren Stoff alleine aus den Bildwelten beziehen, wird Bibliotheka Phantastika vielleicht demnächst in einem weiteren Feature zum Kettenbikini nachgehen.

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Das Bild zur ursprünglichen Red Sonja stammt aus diesem Artikel auf Diversions of the Groovy Kind.

Metaflöz Scriptorium

Dass Elke Heidenreich keine Fantasy mag, wie sie in ihrem Focus-Interview (ganzer Text nur Printausgabe) wieder vehement unterstrichen hat, dürfte niemanden überraschen, der die Mainstream-Kritik an der Genre-Literatur schon eine Weile verfolgt. Aber auch in einem offenen Brief der Verlegerin Lisette Buchholz (gefunden via Petra van Cronenburg) klingt an, dass die Fantasy – schrill, bunt, stapelweise die Buchläden und Bestsellerlisten dominierend – stellvertretend für all das steht, woran der aktuelle Literaturmarkt krankt.
Als Liebhaber des Genres können wir die Klagen zwar in Teilen nachvollziehen – auch wir mögen sie nicht, die Fantasy, die nur den kleinsten gemeinsamen Nenner bedient, dem neuesten Trend hinterherhechelt und schnell wieder aus Läden und Gedächtnis verschwunden ist. Trotzdem fühlt man sich berufen, bei Pauschalverurteilungen (mit denen das Genre seit jeher zu kämpfen hat) ein wenig gegenzuhalten.

Zeit also, dass wir bei Bibliotheka Phantastika Argumente für die Fantasy und Phantastik zusammentragen, um darzulegen, warum dieses Genre nicht die Müllkippe der Literatur ist, sondern ein wesentlicher und lohnender Bestandteil.

1.) Diejenigen, die das Genre in Bausch und Bogen verdammen, sind vielfach möglicherweise weniger mit einzelnen Inhalten als mit der allgemeinen “Verpackung” vertraut – grelle, billig wirkende Cover, an denen wir selbst schon oft Kritik geübt haben, gleichgeschaltete Werbebotschaften. Das ist ein Punkt, den wir bis zu einem gewissen Grade sogar verstehen können. Aber die äußere Präsentation erlaubt eben nicht immer Rückschlüsse auf die Inhalte und ihren literarischen Wert.
siehe auch: Unsere Lieblingscover Teil 1, Teil 2

2.) Massenphänomene wie Harry Potter, Twilight oder auch die Herr der Ringe-Filme waren für das Genre Segen und Fluch zugleich – Segen, weil sie Fantasy in breiteren Kreisen überhaupt erst als etwas bekannt gemacht haben, das nicht nur von Kindern, Jugendlichen und allenfalls noch merkwürdigen Randgruppen gelesen wird, Fluch hingegen, weil diesen gewaltigen Erfolg jeweils Werke hatten, die nicht verraten, was wirklich im Genre steckt (im Falle von Tolkien verraten die Filme nicht viel von der literarischen Qualität der Buchvorlage, sondern konzentrieren sich sehr auf die Action und oberflächlich Spektakuläres). Wenn jemand das alles von außen kommend für repräsentativ für die Fantasy hält, ist die Annahme “Aha, da geht es also ausschließlich ums Monstermetzeln, um lüsterne Vampire und um unbedarfte Zauberlehrlinge” irgendwo verständlich, wenn auch grundfalsch.

3.) Wenn wir auf die Geschichte des Erzählens zurückblicken, haben wir eigentlich fast immer phantastisches Erzählen vor Augen – von Gilgamesch über Homer bis Parzival und Shakespeare, Goethe und Wilde. Der Gedanke, plötzlich nur noch an der Realität orientiertes Erzählen als ‘zulässig’ und wertvoll zu erachten, ist relativ neu (und auch nicht überall in der Welt gleich akzeptiert – siehe z.B. Magischer Realismus).
Als Genre steht die Fantasy sogar in der Tradition einer allgemein literaturwissenschaftlich anerkannten Strömung, der Romantik, die auch ein Gegengewicht zu aufklärerisch-vernunftbetonten Tendenzen sein wollte, in denen das, was den Menschen seelisch anspricht, verloren gehen kann. In E.T.A. Hoffmanns Klein Zaches etwa ist die Ausgangssituation explizit, dass in einem Kleinstaat “die Aufklärung eingeführt wird”, so dass märchenhaftere Gestalten verbannt werden – oder sich tarnen müssen, wie z.B. eine Fee als Stiftsdame.
Beispiele: Der Meister und Margarita, Zwischen neun und neun

4.) Fantasy erlaubt, Probleme der realen Welt durchzuspielen, ohne exakt an die Nachzeichnung realer Umstände gebunden zu sein oder irgendjemandem aus ebendieser realen Welt mit Schuldzuweisungen etc. auf die Füße zu treten – sei es, dass es um allgemeingültige Schwierigkeiten geht, die in Mittelerde ebenso auftreten wie in Mitteleuropa, sei es, dass bestimmte Dinge im weitesten Sinne symbolisch zu verstehen sind. Auch das ist im Grunde eine sehr alte literarische Technik (man nehme z.B. Shakespeare, dessen Stücke gern im Ausland, in mythischer Vorzeit oder zumindest so weit in von ihm aus gesehenen historischen Epochen angesiedelt sind, oder auch moderne Formen wie Arthur Millers The Crucible/ Hexenjagd, das eigentlich jeder als Chiffre auf die McCarthy-Ära versteht und nicht als unbedingt historisch korrekt angelegte Auseinandersetzung mit den tatsächlichen Vorgängen irgendwann in Salem). Während die Technik einer Zukunfts- oder Rückprojektion oder einer Versetzung ins Reich der Fabel bei eindeutig dystopischen Werken relativ anerkannt ist (Brave New World oder Animal Farm), ist man bei “klassischer” Fantasy anscheinend weniger tolerant – oder weniger bereit, nach tieferen Themen zu suchen und Parallelen gelten zu lassen.
Beispiele: Ein neues Land, Scheibenwelt

5.) Fantasy ist eine Experimentierwiese für philosophische, soziale, kulturelle, psychologische Fragestellungen, die in allen erdenklichen Varianten der Frage “Was wäre, wenn …?” auf die Spur geht. Sie lässt völlig neue Prämissen und darauf fußende Gedankengebäude zu, die in ihrer besten Ausprägung Denkanstöße geben und die Möglichkeit bieten, alle erdenklichen Szenarien zu erproben, die himmelweit darüber hinausgehen, jemandem nur einen Zauberstab an die Hand zu geben, der alles richten kann. Damit spricht sie nicht nur Forscherdrang und Neugier an, sondern vor allem auch das Verlangen, die conditio humana zu ergründen.
Beispiele: Aether, Perdido Street Station, The Windup Girl

6.) Man sollte den Reiz des nicht selbst Erlebbaren nicht unterschätzen. Zwar wird gegen Fantasy gern die Eskapismuskeule geschwungen – das Geschilderte ist eben nicht echt, so etwas gibt es in der realen Welt nicht -, dabei aber übersehen, dass eigentlich sehr viele literarische Werke gerade mit dem Element des aus der eigenen Lebenswelt nicht Erfahrbaren, Exotischen arbeiten. In einer schon stark globalisierten Welt und aus der Lebenssituation in einer reichen Industrienation heraus, in der z.B. eine Reise nach Afrika auch vielen Durchschnittsmenschen möglich ist, rückt Fantasy, was dieses nicht selbst Erlebbare betrifft, bis zu einem gewissen Grade in eine Lücke, die vor 100 Jahren vielleicht in der realen Welt angesiedelte Abenteuergeschichten füllen konnten. Literatur ist immer auch ein Eintauchen in fremde Erfahrungswelten, ganz gleich, ob diese nun innerlich oder äußerlich “fremd” sein mögen, und welches Genre bietet auf dem Sektor so viel wie Fantasy?
Beispiele: Who Fears Death, Welt aus Stein

7.) Fantasy ist im besten Falle letztlich auch eine philosophische Erfahrung, die den Leser davor warnen kann, sich zu sehr auf eingefahrene Denkstrukturen und damit auch auf blinde Wissenschaftsgläubigkeit zu verlassen, da sie immer wieder Mächte und Situationen präsentiert, die der Mensch mit normalen Mitteln nicht deuten oder gar kontrollieren kann, sondern denen er mit einem gewissen Respekt begegnen muss. Gerade die ganz klassische (Questen-)Fantasy baut doch das Thema sehr aus, dass man zwar mit vereinten Kräften auch letztlich Unbegreifliches und unüberwindlich Scheinendes zu meistern versuchen kann, dass ein solcher Versuch aber auch auf physischer und psychischer Ebene seinen Preis hat und dass es letztlich vielleicht die größte Schwierigkeit ist, dabei die eigene moralische Integrität zu wahren (siehe dazu das Ringproblem bei Tolkien, aber z.B. auch die Art, wie letztlich der Oberböse in Osten Ard überwunden werden kann). Das geht im modernen grim & gritty zwar verloren, aber die Kritiker, die nur auf mangelnden Realismus oder angeblich so simple Schwarzweißmalerei verweisen, übersehen, dass Fantasy letztlich auf ihre Art die uralte Frage nach der Rolle des Menschen in der Welt und nach dem ethisch richtigen Handeln des scheinbar so “kleinen” und unbedeutenden Einzelnen und dem, was er bewirken kann, stellt und immer wieder neu zu beantworten versucht.
Beispiele: Die Legende von Isaak, Die magischen Städte

8.) Fantasy hat einen ästhetischen Wert. Wenn man manche Cover sieht, mag man das zwar nicht glauben, aber das Phantastische, nicht Reale hat in der künstlerischen Vorstellungswelt ebenso seinen Platz wie die Wiedergabe der Wirklichkeit und hat die Menschen immer beschäftigt und beeindruckt. Warum stehen wir sonst z.B. noch heute begeistert vor jahrhunderte- oder gar jahrtausendealten Darstellungen von Fabelwesen? Dass z.B. der Löwenmensch, der/die Sphinx von Gizeh, die Chimäre von Arezzo oder die Teppichserie der Dame mit dem Einhorn so bekannt sind und so viele Fans haben, hängt ja nicht nur damit zusammen, dass uns die Kunstfertigkeit ihrer Herstellung beeindruckt oder dass wir ein rein wissenschaftliches Interesse an historischen Gedankenwelten haben, sondern dass das Phantastische daran uns fasziniert und die eigene Vorstellungskraft anregt.
Beispiele: Day of the Minotaur, Das Silmarillion

Dass die Trennlinie zwischen E- und U-Literatur (eine Unterscheidung, die man auch prinzipiell in Frage stellen kann) entlang von Genregrenzen gezogen wird, dient also eher dazu, traditionelle Machtstrukturen des Literaturbetriebs aufrecht zu erhalten, als dass sie reale Verhältnisse widerspiegelt. Die Bedeutung phantastischer Elemente in der Literatur einerseits sowie die Behandlung ernsthafter Themen in der Phantastik andererseits zeigen, dass man diese Unterscheidung bestenfalls anhand von Inhalten, aber nicht oberflächlich anhand von Genres vornehmen kann.
Da die nächste Runde Fantasy vs. Feuilleton so sicher kommt wie der nächste Kampf gegen einen dunklen Herrscher (wobei wir hier natürlich keine Vergleiche ziehen möchten!), postet doch bitte auch eure Argumente gegen Fantasy-Verächter in den Kommentaren!

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Die Erwähnung und kurze Diskussion des unter FeministInnen wohlbekannten Bechdel-Tests bei Molos Wochenrückblick No. 57 hat mich dazu angeregt, mir Gedanken zu machen, wie man den Test auf (phantastische) Literatur übertragen könnte – und ob diese Probe überhaupt eine sinnvolle Perspektive ist.

Der Test nimmt eigentlich Filme ins Visier. Er sagt im Grunde rein gar nichts über ihre Qualität aus, und auch nicht einmal darüber, ob ein Film grundsätzlich feministisch angehaucht ist oder nicht. Was er aber sehr wohl tut, und deshalb mag ich ihn trotzdem, ist es, offenzulegen, wie absurd und festgefahren unsere Rollenbilder im Hinblick auf (filmisches) Erzählen sind. Es werden lediglich drei Kriterien getestet, die für jeden männlichen Filmhelden ein Klacks wären, für Frauen aber immer noch die Ausnahme darstellen:

1. Es treten mindestens zwei Frauen (mit eigenem Namen) auf,
die sich 2. miteinander unterhalten,
und zwar 3. nicht über Männer.

Wer nun meint, das sei lachhaft und komme am laufenden Band vor, teste ein paar populäre Filme durch – man wird feststellen, dass eine Menge davon durchfallen, die das Kriterium “aber da sind doch irgendwie wichtige Frauen mit von der Partie” auf den ersten Blick erfüllen: Mehr ist es nämlich meistens auch nicht.
Der Bechdel-Test ermittelt weniger den Frauenanteil eines Films, sondern geht der Frage auf die Spur, ob diese Frauen letzten Endes wirklich eigenständige Handlungsträger sein können oder doch nur Objekt und Plotelement zur Profilierung, Motivation oder Satisfaktion des Helden.
Falls noch ein paar Beispiele vonnöten sind – in diesem Video gibt es eine lange Liste von durchgefallenen Filmen:

Also schnell den Bechdel-Test auch an Fantasyliteratur ausprobiert, die in ihren beliebtesten Werken auch nicht gerade durch ein modernes Frauenbild besticht. Wird man ein ähnlich desolates Bild vorfinden? Und lässt sich der Test überhaupt 1:1 übertragen?
Dazu zunächst folgende Überlegungen:
– Der Literaturmarkt ist insgesamt vermutlich deutlich weniger männlich dominiert als die (Hollywood-)Filmindustrie, es gibt eine Menge Autorinnen, die auch die Geschichten von Frauen erzählen. Roman-Protagonistinnen sind dadurch häufiger anzutreffen als Filmheldinnen, die wirklich einen Film tragen, was zumindest im Blockbuster-Bereich so gut wie nie das ist, worauf Filmproduzenten setzen (und nicht vergessen: auch Tomb Raider fällt durch den Bechdel-Test!).
– Außerdem unterscheidet sich filmisches Erzählen natürlich von literarischem Erzählen, und das hat Auswirkungen auf den Test: Figuren bekommen schneller Namen als im Film, weil sie immer dann, wenn sie gezeigt werden, auch benannt werden müssen. Die Chance ist groß, dass eine unwichtige Figur nicht nur “die Frau” oder “die Dienerin” heißt, wenn sie mehr als nur einmal durchs Bild huscht. Anders als im Film ist im Buch eine Namensträgerin also nicht gleich mit einer potentiellen Handlungsträgerin gleichzusetzen.
– Des weiteren bieten Romane – je dicker der Schinken, desto eher – mehr Raum für Dialogszenen als Filme. Daher ist auch die Wahrscheinlichkeit höher, dass sich bei einem großen Figurenensemble auch mal zwei Frauen unterhalten, z.B. übers Wetter oder den Eintopf und nicht nur über den wackeren Helden. Das verleiht ihnen erzählerisch allerdings keine gleichwertige Präsenz.
– Auch die manchmal starken ErzählerInnenfiguren der Literatur haben einen Einfluss auf das Ergebnis; so wird sich ein Roman mit männlichem Ich-Erzähler logischerweise schwer tun, mit einer Szene aufzuwarten, in der sich zwei Frauen unterhalten.

Müssen also die Kriterien für Literatur eventuell anders lauten?
Ein erster Testlauf ist relativ ernüchternd: Dauerbrenner wie Der Herr der Ringe oder auch Osten Ard [Nachtrag dank Nala: bei Tad Williams unterhalten sie sich doch] fallen gnadenlos durch – doch das Phänomen beschränkt sich nicht auf die eher traditionell erzählten Klassiker: Auch Der eiserne Rat des der Rückständigkeit unverdächtigen China Miéville erfüllt die Kriterien nicht, und sogar Steven Erikson, in dessen Spiel der Götter etliche starke und wichtige weibliche Figuren auftreten, kann wohl erst in späteren Bänden punkten, da er seine Frauen mit Vorliebe in einem männlichen Umfeld agieren lässt.  Das Lied von Eis und Feuer müsste dagegen aufgrund seiner extrem in die Breite gehenden Erzählweise und der schieren Menge an Figuren schnell durchkommen – wenn Gespräche mit Leibdienerinnen zählen …
Ganz irrelevant scheint der unveränderte Bechdel-Test auch für Literatur nicht zu sein – die Romane, die ihn bestehen, sind in der Unterzahl. Sollte man auch noch angepasste, strengere, erweiterte Kriterien anwenden, sähe es wohl ebenso düster wie beim Film aus.

Dass ein so formalisierter Test im Bereich des Films, der schneller und ökonomischer erzählen muss als ein Roman, eindeutigere Ergebnisse bringt, versteht sich von selbst. Doch selbst da zeigen die unzähligen Filmdiskussionen auf bechdeltest.com, dass ein gewisser Interpretationsspielraum bleibt, und dass solche Tests einem vielfältigen Medium nur ungenügend gerecht werden können.
Ich schlage deshalb auch nicht vor, jeden Film standardmäßig zu testen; viele meiner Lieblingsfilme rasseln mit Pauken und Trompeten durch (und beileibe nicht nur die älteren Streifen). Ich will sicher auch nicht jeden Roman diesem Test unterziehen oder, noch schlimmer, daraus eine Wertung ableiten: Durchgefallene Werke können hervorragend sein, und es gibt Romane, die bestehen den Test und sind trotzdem Schrott. Eine valide Betrachtungsweise ist er jedoch allemal, und seine Ergebnisse treffen eine Aussage über die populäre Erzählkultur.
Der Bechdel-Test ist ein grobes Instrument, kann aber ein Augenöffner sein – es lohnt sich, ihn hin und wieder anzusetzen und damit unsere in ihrer ganzen Absurdität weitläufig akzeptierten Erzähltraditionen zu hinterfragen.

Deswegen zum Abschluss ein Auftrag an unsere LeserInnen: Testet doch mal die letzten drei Romane, die ihr gelesen habt, und verratet uns das Ergebnis.

Hier die Liste mit den letzten fünf von mir rezensierten Romanen:
Eiserne Dämmerung – durchgefallen trotz Heldin
Das Tor von Ivrel – durchgefallen
Hounds of Ash – durchgefallen
Mainspring – durchgefallen
Shadows of the Apt – bestanden

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Achtung: Der folgende Artikel beschäftigt sich mit Buchenden. Er könnte Spuren von Spoilern enthalten, allerdings höchstens als Tendenz und möglichst allgemein formuliert, außerdem beziehen sich die meisten Beispiele auf Klassiker.

Gute Enden sind rar, denn selbst, wenn alles gestimmt hat, am Ende eines Romans oder gar einer ganzen Buchreihe gibt es häufig etwas zu bekritteln: zu abrupt, zu einfach, zu schnell, zu viel auf einmal, zu positiv, zu negativ, zu offen, zu vollständig … die Liste ließe sich lange fortsetzen. Ob man ein Buch zufrieden zuklappen kann, ist beinahe genauso entscheidend für das endgültige Verdikt wie seine ersten Zeilen und das Interesse, das sie zu wecken vermögen. Bei den Fragen nach der Eindeutigkeit des Endes und dem Abschluß sämtlicher Handlungsfäden scheiden sich jedoch die Geister – wie bei der Toleranz gegenüber Happy endings.

In Mehrteilern wird das Problem erst recht manifest: Ein Finale, das all das einlösen (und auch noch toppen) kann, was über tausende Seiten aufgebaut wurde, das die Erwartungen befriedigt, aber möglichst noch überrascht und allem die Krone aufsetzt – wie sollte so etwas aussehen? Bei Mammutwerken ist eine Enttäuschung nur schwer zu verhindern, es sei denn, die gewählte Struktur gliedert sich nicht serienübergreifend in Anfang, Mitte, Ende, strebt keinem gesetzten Höhepunkt oder Finale entgegen und baut keine derartige Erwartungshaltung auf.
Der eigentlichen Schwierigkeit, die die Gestaltung eines guten Endes bietet, müssen sich allerdings auch AutorInnen weniger umfangreicher Werke stellen: Alles, was anfangs heraufbeschworen wurde und in der Imagination der Leserschaft unzählige Möglichkeiten eröffnet hat, wird wieder auf einen einzigen Punkt zusammengeführt. Wo vorher noch mit Erwartungen gespielt, der Entdeckergeist angeregt und mit Ideen begeistert wurde, muß nun eine Lösung alle Versprechungen erfüllen. Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, daß sie gut ankommt? Oder eine ist, an die noch niemand gedacht hat? Denn das sind die Ansprüche, die wir an Enden stellen – sie sollen “das Richtige” sein, aber auch einen Kniff bieten und nicht nur das liefern, womit wir gerechnet haben. Kurzum: Das Ende hat einen Sonderstatus innerhalb einer Erzählung inne.

Rundum gut soll es keinesfalls sein, denn “Friede, Freude, Eierkuchen” ist kein Ausdruck großer Anerkennung. Happy endings sind als unrealistisch stigmatisiert, ein schlechtes Ende – ein Scheitern – garantiert dagegen eine gewisse Aufmerksamkeit durch das Befremden der LeserInnen: Wir sind es gewohnt, daß uns Geschichten nicht mit durchweg negativen Emotionen im Regen stehen lassen.
Mit Erwartungen und Traditionen brechen, den Leser aufstören, seine Naivität und Trostsehnsucht und seinen Hang zu einfachen Erklärungen und Lösungen aufdecken, gehört allerdings zur Aufgabe der Kunst. Ist also das schlechte Ende dem guten objektiv überlegen, zaubert der Autor damit einen besonders tollen Trick aus dem Hut?
Zunächst kann es ein mindestens ebenso simpler Kniff sein wie eine Überdosis Zuckerguß: Ängste, Befremden und Entsetzen sind in der Regel leichter zu provozieren als unkitschiger Trost oder Hochstimmung. Es ist gut möglich, daß das vorgeblich so nüchterne und realistische negative Ende noch stärker auf emotionale Schlüsselreize setzt als ein Happy ending, das, um zu überzeugen, auf viel Vorarbeit bauen muß und sich nicht nur auf einen Aha-Effekt verlassen kann.
Der Grat ist schmal, entscheidend sind literarische Qualität und eine gewisse Aufrichtigkeit, um den Leser zu befriedigen – falls das bei negativen Enden überhaupt die Intention ist. Denn davor steht die Frage: Muß ein Ende denn befriedigend sein – und muß jede Geschichte beendet werden?

Unserer Neigung zufolge, die Wirklichkeit in Geschichten zu ordnen und zu gliedern: Ja. Grundsätzlich verlangt es uns nach vollständigen Einheiten, im Leben wie in Geschichten wünschen wir uns Abschlüsse und Neuanfänge.
Gerade in den hermetischen Geschichten, wie sie die Fantasy häufig erzählt, ist ein offenes (oder z.T. auch negatives) Ende nur ein Abschieben dieses Abschließens der Geschichte auf die Leserschaft. Die Erschütterung und das Spannungsgefühl, das dabei erhalten bleibt, zwingen regelrecht zu einer längeren Beschäftigung mit der Materie. Von einem offenen Ende fühlt man sich mitunter um einen Schlußstrich betrogen.
Vielbändige Zyklen mögen zwar etwas anderes implizieren, doch kaum einer wünscht sich wie Michael Endes bibliophiler Held Bastian Balthasar Bux eine Geschichte, die niemals endet. Der Zorn der LeserInnen, wenn wieder einmal eine Reihe vorzeitig abgebrochen wird, mag dafür als Indiz gelten.
Mit solchen Traditionen kann (und soll) man brechen, wie es etwa Miéville mit seinem im Stillstand endenden Iron Council (dt. Der eiserne Rat) tut, doch dazu braucht es schon ein gewieftes Konzept, um der narrativen Syntax noch gerecht zu werden. Was allerdings im Einzelfall als vollständige Geschichte empfunden wird und wie sehr LeserInnen es genießen können, literarisch befremdet und vor den Kopf gestoßen zu werden, ist freilich Geschmackssache.

In der Praxis sind die Enden stark vom Genre beeinflußt: Das negative Ende ist eher im Horror (oder nahe verwandten phantastischen Spielarten) zu finden, also dort, wo Texte tatsächlich verstören sollen. In der Fantasy sind negative Enden, in denen der Held scheitert und/oder stirbt, sehr selten: Da muß ein Held schon von seiner ganzen Konzeption her aufs Scheitern zusteuern wie Moorcocks Elric, damit auch das ein würdiger Abschluß sein kann, oder ein großes Ideal scheitern und untergehen wie in The Once and Future King (dt. Der König auf Camelot, T. H. White). Auch Tolkien mit seinen Bezügen auf epische Vorbilder läßt den Fall seiner Helden wie in Die Kinder von Húrin zu. Und in der Tolkien-Reprise The Sundering (dt. Elegie an die Nacht, Jacqueline Carey) mag das Böse zwar stilecht verlieren, doch damit scheitern auch die Protagonisten der Geschichte. Bei universellen Geschichten von Geburt und Tod, Ordnung und Chaos, Schöpfung und Untergang liegen negative oder offen-zyklische Enden nahe.

Die Fantasy hat häufig noch einen dritten Typus des Endes zu bieten, das ‘melancholische Ende’. Die erzählerische Struktur mit einer wie auch immer gearteten Heilung der Welt, die ihren Preis hat, oder auch ein zyklischer oder um Balance bemühter Weltenbau, der häufig anzutreffen ist, erfordern geradezu einen Abschluß mit einem lachenden und einem weinenden Auge. Bei der großen Anzahl an wichtigen Figuren, die die epische Fantasy in der Regel aufbietet, sind außerdem gewisse Verluste abzusehen. Erst durch ein ambivalentes Ende stellt sich bei vielen klassischen Fantasygeschichten das Gefühl der Vollständigkeit ein.
Tolkien jedoch, der mit dem Herrn der Ringe einen Prototypen für das melancholische Ende geschaffen hat, der eine “geminderte” Welt und einen stark kriegsversehrten Protagonisten zurückläßt, bezeichnet in Über Märchen das positive Ende – für ihn der einzig zulässige Abschluß märchenhafter Geschichten – als Eukatastrophe, eine “plötzliche Wendung zum Guten (denn kein Märchen hat ein echtes Ende)”.* Für ihn werden diese Geschichten künstlich mit einem formalisierten Schluß beendet, nachdem durch die Eukatastrophe gemäß Tolkiens christlicher Prägung der Erlösungsgedanke verwirklicht wurde. Genau diese Eukatastrophe ist es, die vielen Verächtern des Happy endings sauer aufstößt, ein unrealistisch-tröstlicher Umschwung im Finale. Tolkien selbst wußte allerdings  anders als viele seiner Nachfolger gut, wie er diesem Seelenbalsam eine bittere Note verleihen konnte.

Das melancholische Ende ist heute, einhergehend mit dem annähernden Verschwinden einer bestimmten Art klassischer Fantasy, die eher von einem charmanten Ernst als von Zynismus und erzählerischen Brüchen geprägt ist, sehr selten geworden. Daß es neben dem Herrn der Ringe auch bei so unterschiedlichen Autoren wie Richard Adams (Watership Down/Unten am Fluss) oder Thomas Burnett Swann (Minotaurus-Trilogie), bei Peter S. Beagle (The Last Unicorn/Das letzte Einhorn) oder in vielen Romanen von Guy Gavriel Kay anzutreffen ist, zeigt, daß es ein breites Spektrum innerhalb der Fantasy abdeckt, das sich über die engen Grenzen der epischen Fantasy erstreckt. Nicht selten sind es Klassiker, die den Zauber der Geschichten auch über ihr Ende hinaus transportieren können, was das melancholische Ende zu einem Archetypus des Genres macht.

Für ein gelungenes Ende gibt es keine Patentlösung. Die Autorin dieses Textes entscheidet sich für das unbeliebte offene Ende, in dem keine Fäden vorschriftsmäßig verknüpft, sondern die LeserInnen mit vielen Fragen zurückgelassen werden. Zu welchem Schluß kommt ihr, wenn es ums Ende geht?

  • *J. R. R. Tolkien: Über Märchen, hg.: Christopher Tolkien, in Gute Drachen sind rar, S.125

Metaflöz

Wie oft hat man diesen Satz (mit einer gewissen Variationsbreite) schon gehört, wenn es um Geschlechterbeziehungen in Fantasybüchern ging: „Ja, aber damals war das halt so!“

Eine Aussage, die – ebenso wie die entsprechenden Inhalte – auf akribischer historischer Recherche beruht? Eher nicht. Vielmehr spiegeln sich darin zeitgenössische, kulturelle Vorstellungen über die Geschlechterverhältnisse wider, die nur allzu gerne rückprojiziert werden, um sie zu legitimieren. Die historistische Rechtfertigung tritt auch gerne im Verbund mit biologistischer Argumentation à la “Frauen sind nunmal schwächer und bekommen Kinder, während Männer die muskulös-kampfkräftigen Jäger sind” auf. Ein klassisches Beispiel für die Vermischung der beiden Argumentationslinien samt legitimistischer Rückprojektion sind übrigens die älteren Rekonstruktionen zu den Fußspuren von Laetoli, die die Fußabdrücke ohne weitere Anhaltspunkte geschlechterspezifisch (samt vermeintlicher Rollenverteilung) zuordneten.

Was uns aber tatsächlich an dieser Argumentation stört, ist das Pochen auf Historizität in einer Fantasy(!)welt, die sich ansonsten zumeist eher vage an bestimmten Epochen (wobei das Mittelalter wohl dominieren dürfte) orientiert und keinesfalls durch historische Akkuratesse glänzt. Es wird stattdessen das adaptiert, was passend erscheint, und anderes unter den Tisch fallengelassen. So stößt man etwa bald mal auf Ritter (oder zumindest auf gepanzerte Reiter) in einem Fantasyroman, das dahinterstehende ökonomische, religiöse und gesellschaftspolitische System findet jedoch eher selten Eingang in die entsprechenden Werke, deren Massenschlachten eine mittelalterliche Welt wohl dreimal entvölkern würden. Ähnlich verhält es sich auch beim biologistischen Argument, wo doch gerade die Fantasy mit ihren magischen Geschöpfen auf Ökosysteme pfeift und eine Formen- und Artenvielfalt erzeugt, die jeder Klassifizierung spottet.

Das ist ja nun auch kein Malheur, schließlich geht es ja um Fantasy. Die Welten sprühen im Idealfall vor Einfallsreichtum und sind angereichert mit Magie, alternativen Techniksystemen oder phantasievollen Gesellschaftsformen. Und genau da liegt auch der Hase im Pfeffer, denn bei all dem glänzen die Geschlechterbeziehungen oft durch einen gewissen Konservatismus und spiegeln eher antiquierte Vorstellungen wider, anstatt Alternativen zu entwerfen, die gerade in einer phantastischen Welt jede Möglichkeit hätten, sich zu entfalten. Wo, wenn nicht in der Fantasy wäre Platz für das Experimentieren mit kulturell neu codierten Rollenverteilungen?

Warum also gerade in diesem Bereich eine solche Einfallslosigkeit?

Brian Attebery liefert hierzu einen wichtigen Ansatz. Er schreibt:
The more of our knowledge we can apply to the fantasy, the easier it is to achieve secondary belief. We cannot picture the unknown unless we hear it described in terms of the known. (Attebery, Brian: The Fantasy Tradition In American Literature. from Irving to LeGuin, Bloomington 1951, 35)

Gerade in Fantasywelten ist also strategisch platziertes, scheinbar Vertrautes notwendig, um die LeserInnen in die Welt eintauchen zu lassen. Dabei sollte man sich allerdings bewusst machen, dass es genau das ist: strategisch! Die AutorInnen bestimmen, was sie zu kreativen Alternativen ausgestalten und wo es im Gegenzug traditioneller zugeht. Warum sind das nun wiederum sehr häufig die Geschlechterverhältnisse? Die Vermutung liegt nahe, dass in manchen Punkten von der Leserschaft verstärkt Vertrautes gewünscht ist bzw. Veränderungen wesentlich krasser auffallen. Dies gilt insbesondere für Geschlechterrollen, die – bewusst oder unbewusst, mittelbar oder unmittelbar – unser aller Leben durchziehen und auch unsere eigene Identität mitbestimmen. Würde durch das Aufbrechen der Geschlechterrollen die “Wohlfühlzone” der breiten Leserschaft verletzt, die anscheinend eher auf der Suche nach dem Ewiggleichen als nach innotivativen, originellen Ansätzen ist? Kann man sich dem Reiz fremdartiger Perspektiven nur solange genussvoll hingeben, wie man darin Vertrautes erkennt?

Eine Rolle spielt womöglich ebenfalls die Angst der AutorInnen davor, durch Veränderungen in diesem Bereich, als “feministisch” abgestempelt zu werden. Ein Label, das inzwischen eine dermaßen negative Konnotation aufweist, dass es niemand mehr tragen will.

Fakt ist außerdem, die Fantasy ist ein Genre, das häufig auf traditionelle und nostalgisch geprägte Stoffe und Motive zurückgreift. Und dort gibt es feste Erzählmuster, die oft tatsächlich nur unter bestimmten Bedingungen zu funktionieren scheinen. Männergeschichten erfüllen sich anders als Frauengeschichten, und spätestens bei einer Liebesgeschichte ist der Bedarf an traditionellen Rollenbildern groß: Der Vampir, Dämon oder Werwolf der aktuellen Paranormal Romance ist nichts anderes als ein Übermann, vor dem auch eine sonst ganz toughe Frau ohne Gesichtsverlust niederknien kann. Offen bleiben muss dabei wohl, ob AutorInnen und LeserInnen bewusst ist, dass gerade diese Überwindung einer sonst starken und kriegerischen Frau durch einen (potentiellen) männlichen Sexualpartner ein uraltes Motiv ist und es der scheinbar so “modernen” Heldin auch nicht besser ergeht als einer Penthesilea, Atalante oder Brunhild.
Wenn Literatur aber nur lange Bärte noch ein bißchen länger macht und sich fraglos an uralten Motiven bedient, verzichtet sie auf ihre größten Stärken, die ganz besonders in der Fantasy ausgespielt werden könnten: Das Ausloten, wo und wie man Regeln auflösen, mit Stereotypen arbeiten und das Publikum bewegen kann.

Ein neuer Blick auf Geschlechterrollen erfordert vor allem drei Dinge: Den Mut, mit den Traditionen zu brechen – auch im Jahr 2011. Den Willen, sich die Arbeit zu machen, die es braucht, um lang gehegte Klischees und Rollenmuster in Geschichten aufzubrechen und sich auf neue Ansätze einzulassen.
Und LeserInnen, die den Weg mitgehen.

Metaflöz

Durch eine sehenswerte Fotostrecke bei National Geographic über die größte Höhle der Welt (zugehöriger Artikel hier; und auch einige dieser älteren Aufnahmen aus einer anderen Höhle hätte man vermutlich eher in einem Comic als in der wirklichen Welt erwartet) wurde mein Faible für Höhlengeschichten wachgerufen. Eine Erkundungstour durch die Regale hat nun ein paar erste Ergebnisse zur Unterhöhlung der Fantasy zutage gefördert.

Als Schauplatz hat die Höhle eine lange Tradition, nicht nur für Autoren der Phantastik, die immer wieder Hohlwelt-Szenarien erkunden – vielleicht nach wie vor am populärsten, wenn Jules Verne seine Protagonisten durch den Vulkan auf eine Reise zum Mittelpunkt der Erde schickt.
Höhlen sind in den meisten Kulturen Bestandteil der mythischen Geographie, sie bieten Raum für Allegorien (und nicht zu vergessen Gleichnisse und Malereien), stehen für Ursprünge und Endpunkte. In der griechischen Mythologie ist das Totenreich des Hades eine Unterwelt, und auch in vielen anderen Kulturen wird die Welt der Toten tendentiell in der Tiefe verortet.
In der heroisierenden Dichtung hat sich die Höhle spätestens im Mittelalter als Ort etabliert, an dem man dem Bösen in Form von Riesen, Drachen oder Zwergen begegnet, die zur Befreiung Gefangener und Erlangung von Schätzen erschlagen werden dürfen. Diese ruhmreiche Tradition wurde von der heroischen Fantasy schnurstracks aufgegriffen (dank Tolkien allerdings meist mit Seitenwechsel der Zwerge) und ist in darauf basierenden Rollenspielen inzwischen längst Klischee: Kaum eine RPG-Welt ist nicht von weitläufigen Kavernen durchzogen.
Auch die rollenspielnahe Literatur bedient sich gerne des “klassischen” Höhlenabenteuers (hinein oder hindurch, unterwegs Monster schnetzeln und Schätze abgreifen), manchmal öde-ideenlos wie Richard Schwartz im zweiten Askir-Band, manchmal surreal-metaphorisch wie bei Tobias O. Meißners Mammut-Reihe.
R. A. Salvatores Romane aus der RPG-Welt der Vergessenen Reiche um den beliebten Dunkelelfen Drizzt Do’Urden (gerade wieder neu als Die Dunkelelfen erschienen und wie auf einer Masernparty mit dem Völkerroman-Virus infiziert) siedeln gleich eine ganze erzböse Kultur in der Unterwelt an, in der sich der gutherzige Titelheld als integrationsunwilliger Querulant zeigt. Wenn man allerdings dem Geschmack an (jugendfreiem) Hack & Slay entwachsen ist, ist der Dunkelelf als Höhlenführer eher nicht die erste Wahl, spätestens nach eineinhalb Bänden wird es mit ihm eintönig.

Dunkle Höhlenwelten ziehen offenbar naturgemäß allerlei  Höhlengezücht an – sie sind der Ort, an dem das Böse seine Pläne aushecken und aus diversen Schlünden heraus die Welt überrennen kann. Wenn dem Helden eine Höhlendurchquerung bevorsteht, wird die Wanderung durch finstere Gänge nicht selten von einer Konfrontation mit den finsteren Winkeln seiner Seele begleitet – das Überwinden von Höhlen ist eine Bewährungsprobe, manchmal auch für den Leser. Hand aufs Herz: Wem hat es wirklich Spaß gemacht, Simon Mondkalb in Tad Williams’ Drachenbeinthron knapp 20 Seiten lang durch das Labyrinth unter dem Hochhorst zu begleiten? (Nur 20 Seiten?! Aber Simon darf im Verlauf seiner Abenteuer immerhin noch zwei weitere Male in der ausgedehnten Unterwelt von Osten Ard herumirren.)

Höhlen sind Orte, an denen Altes überlebt, vom Dinosaurier (Verne) über ins Reich der Mythen verfrachtete Dämonen (Jeff Long) bis hin zum Balrog (Tolkien). Tolkien, von dem auch das Zitat in der Überschrift dieses Beitrags stammt, ist ohnehin ein Meister darin, das Höhlenabenteuer der Heldendichtung für die Fantasy umzumünzen, und hat damit auch (gern nachgeahmte) Standards gesetzt. Keines seiner Hauptwerke ist eine höhlenfreie Zone, und in Nargothrond im Silmarillion oder in Moria im Herrn der Ringe haben sich des Öfteren die Guten verschanzt, wenngleich meist mit fatalem Ausgang.
Tolkiens Höhlen sind glitzernde Grotten oder düstere Ruinen, in denen der Schein von Lampen und Fackeln den monumentalen Ruhm vergangener Zivilisation beleuchtet, während sich abseits des Lichts längst das Böse eingenistet hat.

Altes und Vergessenes hat auch in Sean Russells Reich unter den Hügeln überdauert, man begleitet die Charaktere in die bedrohliche Enge und Dunkelheit einer Unterwelt, die angeblich die Geheimnisse der Magier birgt. Die eindringliche Beschreibung der Höhlenexpedition und der emotionalen Belastung bei einem Abenteuer unter der Erde ist überzeugend genug, um auch erfahrene Höhlenwanderer zu begeistern. Eine Übersetzung der Fortsetzung (The Compass of the Soul) ist leider nie erschienen.

Die Faszination des Höhlensettings entspringt zum guten Teil dem Spannungsfeld zwischen dem heimeligen  Rückzugsort, der Schutz bietet, und dem Gedanken, daß etwas in der Finsternis lauern und daraus hervorkriechen könnte – es läßt sich nur schwer vorhersagen, ob in einer Höhle nun ein Eremit oder ein wilder Bär haust. Materielle und immaterielle Schätze locken, klaustrophobische Enge und Lichtlosigkeit schrecken. Erzählerisch ist dieses Thema ausgesprochen ergiebig, und wer sich davon überzeugen möchte, wie man daraus (Spannungs-)Kapital schlägt, sollte unbedingt die ersten Kapitel von Jeff Longs Im Abgrund lesen, das im späteren Verlauf zwar konventionellere Thriller-Pfade beschreitet, aber mit seiner ausgearbeiteten Höhlenwelt und -ökologie und dem faszinierenden Einstieg (oder vielmehr Abstieg) Maßstäbe setzt.
Ein wahres Meisterstück der originell und ideenreich entwickelten Höhlenweltfantasy ist Chris Woodings Welt aus Stein, das aus dem Setting viel mehr herausholt als nur Gänge, Monster und Finsternis, und teils sehr mondäne Höhlenkulturen beschreibt, die man in der entfernteren Nachbarschaft von Miévilles Bas-Lag verorten könnte. Außerdem lesenswert wegen der ungewöhnlichen Erzählstruktur!

Deutsche Autoren haben sich mit mehr oder minder autarken Höhlenwelten eher selten mit Ruhm bekleckert. Harald Evers’ programmatisch benannte Höhlenwelt-Saga hat in einer Zeit, in der deutsche Fantasy erst langsam Regalplätze erobert hat, eine überzeugte Fan-Basis gewonnen. Im Vergleich zu den oben erwähnten Werken hat die Reihe allerdings nicht viel höhlenspezifische Weltschöpfung zu bieten und kann nicht halten, was die auffälligen Cover von Hans-Werner Sahm versprechen. Wegen des unerwarteten Todes des Autors wurde die Höhlenwelt-Saga niemals ganz vollendet.
Wolfgang Hohlbein hat in Unterland im Rahmen seiner Phantastischen Geschichten für junge Leser ein Höhlensystem erschlossen, das über städtische Katakomben erreichbar ist und einer Menschengruppe seit Jahrhunderten Zuflucht bietet; die Höhlen dienen hier als exotischer Schauplatz für die üblichen Action-Zutaten von Hohlbeins Jugendbüchern.
Auch die Zwergen-Völkerromane deutscher Autoren bestechen nicht unbedingt durch das Ausschöpfen der Potentiale, die ihre gern genutzten Höhlensettings zu bieten hätten.

Wer nicht gleich ein riesiges Höhlensystem besuchen will, sondern mit einer konventionell-kleinen Höhle Vorlieb nimmt, begegnet womöglich Gestalten, die die Höhle als Ort der Isolation schätzen, um ein Leben abseits der Gesellschaft zu führen. Individuen nabeln sich dort ab und vollziehen ihre Übergangsriten (wie Birk und Ronja in Ronja Räubertochter, die den meisten mit Astrid Lindgren aufgewachsenen Fantasylesern ein Begriff sein dürfte) oder Eremiten ziehen ein und müssen oder können ihrem mit der Gemeinschaft nicht kompatiblen Lebensstil nachgehen.

In postapokalyptischen Szenarien sind Höhlen (und nicht nur künstliche Höhlen wie bei den Fallout-Spielen) ein möglicher Rückzugsort für Überlebende, die aus einer feindlichen Umwelt flüchten müssen. Eine besonders intensive Umsetzung dieses Themas – oder dessen, was nach langer Zeit daraus wird – hat George R. R. Martin mit der Kurzgeschichte Dark, Dark Were the Tunnels geliefert (u.a. in der ohnehin sehr empfehlenswerten Anthologie Wastelands; dt. Dunkel, dunkel waren die Tunnel in der Sammlung Die zweite Stufe der Einsamkeit). Wer einen klassischeren Vorgänger von Martins Geschichte lesen möchte, sollte sich nach einer Ausgabe von Dunkles Universum umschauen, in dem Daniel F. Galouye beschreibt, wie sich die Menschheit nach einem Weltkrieg an ein Leben in der Dunkelheit unter der Erde angepaßt hat, in dem Licht nur noch als Erinnerung existiert.

Diese Auswahl bietet dem ambitionierten Sessel-Speläologen hoffentlich einige Ideen für neue Touren und darf natürlich jederzeit ergänzt werden. Stirnlampe und Seil nicht vergessen!

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  • Adams, John Joseph (Hg.): Wastelands (Neuauflage USA 2007), ISBN 978-1-597-80105-8
  • Evers, Harald: Die Bruderschaft von Yoor (Höhlenwelt-Saga 1, D 2001), ISBN 3453178971
  • Galouye, Daniel F.: Dunkles Universum (Dark Universe, USA 1961)
  • Hohlbein, Wolfgang und Heike: Unterland (D 1992), ISBN 3-453-19926-x
  • Lindgren, Astrid: Ronja Räubertochter (Ronja Rövardotter, S 1991), ISBN 3789129402
  • Long, Jeff: Im Abgrund (The Descent, USA 1999), ISBN 3-442-35619-9
  • Martin, George R.R.: Die zweite Stufe der Einsamkeit (D 1982)
  • Meißner, Tobias O.: Das vergessene Zepter (D 2006) ISBN 3-492-26623-1
  • Russell, Sean: Das Reich unter den Hügeln (Beneath the Vaulted Hills, USA 1997), ISBN 3-548-25160-9
  • Russell, Sean: The Compass of the Soul (USA 1998), ISBN 978-0-886-77792-0
  • Salvatore, R.A.: Die Dunkelelfen (auch als: Der dritte Sohn/Im Reich der Spinne, Original: Homeland, USA 1990) ISBN 978-3-442-26754-5
  • Schwartz, Richard: Die zweite Legion (D 2007), ISBN 978-3-492-26629-1
  • Tolkien, J.R.R.: Der Herr der Ringe, Bd.1 Die Gefährten (The Fellowship of the Ring: being the first part of The Lord of the Rings, UK 1954), ISBN: 978-3-608-95536-1
  • Tolkien, J.R.R.: Der Hobbit (The Hobbit or There and Back Again, UK 1937), ISBN 978-3-608-93800-5
  • Tolkien, J.R.R.: Das Silmarillion (The Silmarillion, UK 1977), ISBN 3-608-93245-3
  • Verne, Jules: Die Reise zum Mittelpunkt der Erde (Voyage au centre de la terre, F 1864), ISBN 978-3-423-13882-6
  • Williams, Tad: Der Drachenbeinthron (The Dragonbone Chair, USA  1988) 3-596-13073-5
  • Wooding, Chris: Welt aus Stein (The Fade, UK 2007), ISBN  978-3-404-20599-8

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