Acht Argumente für Fantasy & Phantastik

Dass Elke Heidenreich keine Fantasy mag, wie sie in ihrem Focus-Interview (ganzer Text nur Printausgabe) wieder vehement unterstrichen hat, dürfte niemanden überraschen, der die Mainstream-Kritik an der Genre-Literatur schon eine Weile verfolgt. Aber auch in einem offenen Brief der Verlegerin Lisette Buchholz (gefunden via Petra van Cronenburg) klingt an, dass die Fantasy – schrill, bunt, stapelweise die Buchläden und Bestsellerlisten dominierend – stellvertretend für all das steht, woran der aktuelle Literaturmarkt krankt.
Als Liebhaber des Genres können wir die Klagen zwar in Teilen nachvollziehen – auch wir mögen sie nicht, die Fantasy, die nur den kleinsten gemeinsamen Nenner bedient, dem neuesten Trend hinterherhechelt und schnell wieder aus Läden und Gedächtnis verschwunden ist. Trotzdem fühlt man sich berufen, bei Pauschalverurteilungen (mit denen das Genre seit jeher zu kämpfen hat) ein wenig gegenzuhalten.

Zeit also, dass wir bei Bibliotheka Phantastika Argumente für die Fantasy und Phantastik zusammentragen, um darzulegen, warum dieses Genre nicht die Müllkippe der Literatur ist, sondern ein wesentlicher und lohnender Bestandteil.

1.) Diejenigen, die das Genre in Bausch und Bogen verdammen, sind vielfach möglicherweise weniger mit einzelnen Inhalten als mit der allgemeinen “Verpackung” vertraut – grelle, billig wirkende Cover, an denen wir selbst schon oft Kritik geübt haben, gleichgeschaltete Werbebotschaften. Das ist ein Punkt, den wir bis zu einem gewissen Grade sogar verstehen können. Aber die äußere Präsentation erlaubt eben nicht immer Rückschlüsse auf die Inhalte und ihren literarischen Wert.
siehe auch: Unsere Lieblingscover Teil 1, Teil 2

2.) Massenphänomene wie Harry Potter, Twilight oder auch die Herr der Ringe-Filme waren für das Genre Segen und Fluch zugleich – Segen, weil sie Fantasy in breiteren Kreisen überhaupt erst als etwas bekannt gemacht haben, das nicht nur von Kindern, Jugendlichen und allenfalls noch merkwürdigen Randgruppen gelesen wird, Fluch hingegen, weil diesen gewaltigen Erfolg jeweils Werke hatten, die nicht verraten, was wirklich im Genre steckt (im Falle von Tolkien verraten die Filme nicht viel von der literarischen Qualität der Buchvorlage, sondern konzentrieren sich sehr auf die Action und oberflächlich Spektakuläres). Wenn jemand das alles von außen kommend für repräsentativ für die Fantasy hält, ist die Annahme “Aha, da geht es also ausschließlich ums Monstermetzeln, um lüsterne Vampire und um unbedarfte Zauberlehrlinge” irgendwo verständlich, wenn auch grundfalsch.

3.) Wenn wir auf die Geschichte des Erzählens zurückblicken, haben wir eigentlich fast immer phantastisches Erzählen vor Augen – von Gilgamesch über Homer bis Parzival und Shakespeare, Goethe und Wilde. Der Gedanke, plötzlich nur noch an der Realität orientiertes Erzählen als ‘zulässig’ und wertvoll zu erachten, ist relativ neu (und auch nicht überall in der Welt gleich akzeptiert – siehe z.B. Magischer Realismus).
Als Genre steht die Fantasy sogar in der Tradition einer allgemein literaturwissenschaftlich anerkannten Strömung, der Romantik, die auch ein Gegengewicht zu aufklärerisch-vernunftbetonten Tendenzen sein wollte, in denen das, was den Menschen seelisch anspricht, verloren gehen kann. In E.T.A. Hoffmanns Klein Zaches etwa ist die Ausgangssituation explizit, dass in einem Kleinstaat “die Aufklärung eingeführt wird”, so dass märchenhaftere Gestalten verbannt werden – oder sich tarnen müssen, wie z.B. eine Fee als Stiftsdame.
Beispiele: Der Meister und Margarita, Zwischen neun und neun

4.) Fantasy erlaubt, Probleme der realen Welt durchzuspielen, ohne exakt an die Nachzeichnung realer Umstände gebunden zu sein oder irgendjemandem aus ebendieser realen Welt mit Schuldzuweisungen etc. auf die Füße zu treten – sei es, dass es um allgemeingültige Schwierigkeiten geht, die in Mittelerde ebenso auftreten wie in Mitteleuropa, sei es, dass bestimmte Dinge im weitesten Sinne symbolisch zu verstehen sind. Auch das ist im Grunde eine sehr alte literarische Technik (man nehme z.B. Shakespeare, dessen Stücke gern im Ausland, in mythischer Vorzeit oder zumindest so weit in von ihm aus gesehenen historischen Epochen angesiedelt sind, oder auch moderne Formen wie Arthur Millers The Crucible/ Hexenjagd, das eigentlich jeder als Chiffre auf die McCarthy-Ära versteht und nicht als unbedingt historisch korrekt angelegte Auseinandersetzung mit den tatsächlichen Vorgängen irgendwann in Salem). Während die Technik einer Zukunfts- oder Rückprojektion oder einer Versetzung ins Reich der Fabel bei eindeutig dystopischen Werken relativ anerkannt ist (Brave New World oder Animal Farm), ist man bei “klassischer” Fantasy anscheinend weniger tolerant – oder weniger bereit, nach tieferen Themen zu suchen und Parallelen gelten zu lassen.
Beispiele: Ein neues Land, Scheibenwelt

5.) Fantasy ist eine Experimentierwiese für philosophische, soziale, kulturelle, psychologische Fragestellungen, die in allen erdenklichen Varianten der Frage “Was wäre, wenn …?” auf die Spur geht. Sie lässt völlig neue Prämissen und darauf fußende Gedankengebäude zu, die in ihrer besten Ausprägung Denkanstöße geben und die Möglichkeit bieten, alle erdenklichen Szenarien zu erproben, die himmelweit darüber hinausgehen, jemandem nur einen Zauberstab an die Hand zu geben, der alles richten kann. Damit spricht sie nicht nur Forscherdrang und Neugier an, sondern vor allem auch das Verlangen, die conditio humana zu ergründen.
Beispiele: Aether, Perdido Street Station, The Windup Girl

6.) Man sollte den Reiz des nicht selbst Erlebbaren nicht unterschätzen. Zwar wird gegen Fantasy gern die Eskapismuskeule geschwungen – das Geschilderte ist eben nicht echt, so etwas gibt es in der realen Welt nicht -, dabei aber übersehen, dass eigentlich sehr viele literarische Werke gerade mit dem Element des aus der eigenen Lebenswelt nicht Erfahrbaren, Exotischen arbeiten. In einer schon stark globalisierten Welt und aus der Lebenssituation in einer reichen Industrienation heraus, in der z.B. eine Reise nach Afrika auch vielen Durchschnittsmenschen möglich ist, rückt Fantasy, was dieses nicht selbst Erlebbare betrifft, bis zu einem gewissen Grade in eine Lücke, die vor 100 Jahren vielleicht in der realen Welt angesiedelte Abenteuergeschichten füllen konnten. Literatur ist immer auch ein Eintauchen in fremde Erfahrungswelten, ganz gleich, ob diese nun innerlich oder äußerlich “fremd” sein mögen, und welches Genre bietet auf dem Sektor so viel wie Fantasy?
Beispiele: Who Fears Death, Welt aus Stein

7.) Fantasy ist im besten Falle letztlich auch eine philosophische Erfahrung, die den Leser davor warnen kann, sich zu sehr auf eingefahrene Denkstrukturen und damit auch auf blinde Wissenschaftsgläubigkeit zu verlassen, da sie immer wieder Mächte und Situationen präsentiert, die der Mensch mit normalen Mitteln nicht deuten oder gar kontrollieren kann, sondern denen er mit einem gewissen Respekt begegnen muss. Gerade die ganz klassische (Questen-)Fantasy baut doch das Thema sehr aus, dass man zwar mit vereinten Kräften auch letztlich Unbegreifliches und unüberwindlich Scheinendes zu meistern versuchen kann, dass ein solcher Versuch aber auch auf physischer und psychischer Ebene seinen Preis hat und dass es letztlich vielleicht die größte Schwierigkeit ist, dabei die eigene moralische Integrität zu wahren (siehe dazu das Ringproblem bei Tolkien, aber z.B. auch die Art, wie letztlich der Oberböse in Osten Ard überwunden werden kann). Das geht im modernen grim & gritty zwar verloren, aber die Kritiker, die nur auf mangelnden Realismus oder angeblich so simple Schwarzweißmalerei verweisen, übersehen, dass Fantasy letztlich auf ihre Art die uralte Frage nach der Rolle des Menschen in der Welt und nach dem ethisch richtigen Handeln des scheinbar so “kleinen” und unbedeutenden Einzelnen und dem, was er bewirken kann, stellt und immer wieder neu zu beantworten versucht.
Beispiele: Die Legende von Isaak, Die magischen Städte

8.) Fantasy hat einen ästhetischen Wert. Wenn man manche Cover sieht, mag man das zwar nicht glauben, aber das Phantastische, nicht Reale hat in der künstlerischen Vorstellungswelt ebenso seinen Platz wie die Wiedergabe der Wirklichkeit und hat die Menschen immer beschäftigt und beeindruckt. Warum stehen wir sonst z.B. noch heute begeistert vor jahrhunderte- oder gar jahrtausendealten Darstellungen von Fabelwesen? Dass z.B. der Löwenmensch, der/die Sphinx von Gizeh, die Chimäre von Arezzo oder die Teppichserie der Dame mit dem Einhorn so bekannt sind und so viele Fans haben, hängt ja nicht nur damit zusammen, dass uns die Kunstfertigkeit ihrer Herstellung beeindruckt oder dass wir ein rein wissenschaftliches Interesse an historischen Gedankenwelten haben, sondern dass das Phantastische daran uns fasziniert und die eigene Vorstellungskraft anregt.
Beispiele: Day of the Minotaur, Das Silmarillion

Dass die Trennlinie zwischen E- und U-Literatur (eine Unterscheidung, die man auch prinzipiell in Frage stellen kann) entlang von Genregrenzen gezogen wird, dient also eher dazu, traditionelle Machtstrukturen des Literaturbetriebs aufrecht zu erhalten, als dass sie reale Verhältnisse widerspiegelt. Die Bedeutung phantastischer Elemente in der Literatur einerseits sowie die Behandlung ernsthafter Themen in der Phantastik andererseits zeigen, dass man diese Unterscheidung bestenfalls anhand von Inhalten, aber nicht oberflächlich anhand von Genres vornehmen kann.
Da die nächste Runde Fantasy vs. Feuilleton so sicher kommt wie der nächste Kampf gegen einen dunklen Herrscher (wobei wir hier natürlich keine Vergleiche ziehen möchten!), postet doch bitte auch eure Argumente gegen Fantasy-Verächter in den Kommentaren!

14 Kommentare zu Acht Argumente für Fantasy & Phantastik

  1. Nala sagt:

    Ein sehr schöner Beitrag! Den möchte man gleich ausdrucken und an alle Skeptiker verteilen. 🙂

  2. Johannes sagt:

    Es fällt mir schwer die üblichen Vorwürfe gegen Fantasy (v.a den Eskapismusvorwurf) ernst zu nehmen.* Deshalb kann ich da eigentlich nur einen Spruch meines Freundes Captain Jack Sparrow abwandeln:

    Vor Fantasy muss man sich nicht fürchten. Da weiß man, dass alles frei erfunden und fabuliert ist. In acht nehmen muss man sich vor den “ernsthaften” Texten, weil man da nie sagen kann, wann sie einem irgendetwas vorgaukeln oder unterschieben. Am gefährlichsten sind da wohl Kritiken und Klappentexte 😉

    Im Ernst:
    Jede Form von Kunst ist Abstraktion und damit Eskapismus. Das ist ihre Funktion. It’s all Fantasy. Dass es triviale und anspruchsvolle Kunst gibt, steht auf einem anderen Blatt. Auch dass diese Unterscheidung höchst subjektiv ist, und man nicht schizophren sein muss, um beides zu mögen 😉
    Aber mit Fantasy oder nicht hat das wenig zu tun. Es wird Zeit, dass der Literaturbetrieb anerkennt, dass literarische Genres Untergattungen der Fantasy sind, nicht umgekehrt.

    Johannes

    * Die Entgegensetzung von Literatur mit fantastischen Elementen und Literatur ohne dieselben geht von einem Wirklichkeitsbegriff aus, der spätestens seit Heisenberg für die Naturwissenschaften überholt ist. Die Geisteswissenschaften kommen auch langsam dahin (Stichwort: Konstruktivismus). Wer glaubt Realität wäre etwas, dass objektiv in Geschichten oder auch nur Sprache (und damit Denken) fassbar wäre, kann genauso Drachen, Feen oder Börsenkurse für echt halten.
    It’s all Fantasy.

  3. Sebert sagt:

    Super Artikel, habe ihn auch mal über mein Blog verlinkt.

    Vielen Leuten kann man da keinen Vorwurf machen was dass Bild der Fantasy angeht, da ja Filme & Cover eine eindeutige Sprache sprechen. Da sind imo die Verlage in der Bringschuld die martialischen Kitschcover der Vergangenheit angehören zu lassen. Ich weiß allerdings nicht, ob der Großteil des Publikums auf solche Cover besteht, oder ob es vorrauseilender Gehorsam seitens der Verlage ist.

    Zu den Kritikern: Von diesen sollte man eigentlich erwarten dass sie sich ernsthaft mit einem Thema auseinandersetzen können, aber hieran scheint kein Wille zu bestehen. Ausnahme: Denis Scheck (ARD Druckfrisch, Dradio Buch), der empfiehlt schon ab & zu mal ein Werk aus dem Genre “Fantasy”, zBsp “Name of the Wind”…

    Grüße

    Sebert

  4. Fremdling sagt:

    @ Sebert: Freut uns, dass er dir gefällt und vielen Dank für’s Verlinken. 🙂

  5. 'Pingback: Die Worthüter: Die Verurteilung des Genres "Fantasy"

  6. Tom sagt:

    Hallo,
    ich habe ebenfalls gelinkt und zitiert: http://www.worthueter.de/tom/blog/archives/2011-07/die_verurteilung_des_genres_fantasy.int.html
    Toller Artikel, vielen Dank!
    Gruß

  7. Peter sagt:

    Hallo allerseits!

    Als Leser phantastischer Literatur, der einer guten Freundin seit Ewigkeiten klar zu machen versucht, dass Conan kein grenzdebiler österreichischer Bodybuilder ist und der den Snobismus vieler „offizieller” Literaturkritiker ebenso verachtet wie ihr, habe ich mich über die acht Argumente sehr gefreut. (Freilich: Wer nimmt schon Elke Heidenreich als „Literaturexpertin” ernst?! Vermutlich viel zu viele ….). Dennoch fühle ich mich gedrängt, einige kritische Anmerkungen anzubringen:

    Zu 2) Natürlich zeigen weder Jacksons Filme (die ich für ziemlich erbärmlich halte), noch die Bücher vom Töpferjungen oder die Vampirschlampen-Romane, „was wirklich im Genre steckt”. Aber sollte man nicht dennoch eingestehen, dass ein Gutteil der Fantasy (vor allem der kommerziell erfolgreichen) tatsächlich aus „Monstermetzeln, lüsternen Vampiren und unbedarften Zauberlehrlingen” besteht? Nicht ohne Grund ist Markus Heitz einer der erfolgreichste Fantasyautoren Deutschlands. Es war nicht die böse „Kulturindustrie”, die sich hier extra die unansehnlichsten Beispiele herausgepickt hat.

    Zu 4) Worin soll der Sinn bestehen, „Probleme der realen Welt” in einer so abstrakten und allgemeinen Form durchzuspielen? Was soll der Vorteil davon sein, wenn man die Verantwortlichen, seien es Personen oder Institutionen, gesellschaftliche/ökonomische/ politische Strukturen oder Ideologien nicht nennt? (Arthur Millers „Crucible” sagt meiner Meinung nach nur relativ wenig über die tatsächlichen Hintergründe und die Folgen der antikommunistischen Hexenjagd der 50er Jahre aus; da finde ich selbst Fred Zinnemans „High Noon” interessanter.) Muss dies nicht letztenendes zu der heute nur all zu verbreiteten Meinung führen, die „menschliche Natur”, und damit jeder einzelne von uns, sei schuld an den Problemen, vor die wir uns momentan gestellt sehen? Wo die Fantasy (oder irgendeine andere Literatur) diese Position vertritt, ist sie meiner nach zu bekämpfen, nicht zu verteidigen. Gute Literatur (auch phantastische) tritt auf die Füße, die es verdient haben! Je fester, desto besser!

    Zu 6) Im Grunde stimme ich mit dem Gesagten vollkommen überein, halte aber den Begriff „Eskapismuskeule” für etwas ungeschickt gewählt. Erinnert mich leider an Martin Walsers „Moralkeule” und ruft bei mir den Eindruck hervor, als wäret ihr der Meinung, die Frage nach möglichen eskapistischen Tendenzen sei von vornherein illegitim. Womit ich natürlich nicht den nur allzu oft vorgebrachten unqualifizierten Vorwurf gegen die Phantastik per se meine, auf den wohl auch ihr hier anspielen wolltet.

    Zu 7) Da muss ich doch unwillkürlich an Frank Weinreichs These von der Fantasy als einer Art (post)moderner Fortführung des Mythos denken. Wo sie dies wirklich ist, sollte man sie meiner Meinung nach aufs schärfste kritisieren. Und dies ist ja auch schon mehrfach, auch in literarischer Form und von innerhalb des Genres aus, geschehen! Am beeindruckendsten fand ich in dieser Hinsicht Michael Swanwicks „Daughter of the Iron Dragon”.
    Ich für meinen Teil halte „blinde Wissenschaftsgläubigkeit” wahrhaftig nicht für das Problem unserer Zeit, vielmehr einen immer weiter um sich greifenden Irrationalismus, ganz gleich ob sich dieser nun in altehrwürdig religiöse oder modisch postmoderne Gewänder kleidet. Ein Bisschen mehr wissenschaftliches Denken könnte uns wirklich nicht schaden!
    Und ob die Rolle des „”kleinen” und unbedeutenden Einzelnen und (dessen), was er bewirken kann,” nicht gerade in der tolkienesken „Questen-Fantasy” in einer ausgesprochen irreführenden Weise dargestellt wird (Stichwort: Der Auserwählte; das Schicksal der ganzen Welt hängt von den moralischen Entscheidungen einzelner Individuen ab etc.), wäre zumindest zu diskutieren.

    Auch bei Argument 3 habe ich ein etwas flaues Gefühl. Selbst bin ich zwar noch nicht zu einer für mich zufriedenstellenden Antwort auf die Frage nach den historischen Wurzeln der Phantastik gelangt. Aber ich glaube doch instinktiv zu wissen, dass ich keine Fantasy vor mir habe, wenn ich Wolfram von Eschenbach lese. Mit den Versuchen, die Geschichte der phantastischen Literatur bis auf das Gilgamesch-Epos zurückzuführen – was einem leider recht oft begegnet – hatte ich darum schon immer meine Schwierigkeiten.

    Ich hoffe, mir nimmt das jetzt keiner böse.

  8. Casaloki sagt:

    Ich habe ihn auch mal gelinkt, bin aber einer der Skeptiker. Was aber eher damit zusammen hängt, dass ich im “Buchkaufhaus” nur diese bunte Monsterslasherliteratur vorfinde, von welcher sich in dem Artikel hier dankenswerter Weise distanziert wird. Und dieses Angebot hat mich aus der Phantastik heraus getrieben.
    Ich bin ein alter Tolkien-Fan, habe meinen Thomas Covenant und zumindest aus Langeweile (weil ich im Krankenhaus lag) den ersten Shannara-Zyklus gelesen, usw. Bin also schon mit der Fantasy der, sagen wir mal, 80er Jahre vertraut. Aber es ist umgekehrt proportional zur aktuellen SF: Hier, bei Fantasy oder Phantastik, ein Überangebot an Romanen und Serien, dort, bei der SF, ein Mangel an Romanen. Und doch ist das Problem das Gleiche: Finde die Perlen. Dazu hätte ich halt gerne mehr Rüstzeug. Ansonsten werde ich auch weiterhin einen Bogen um die bunten Tische machen, selbst wenn dort der Jahrhundertroman liegt, der mir dann entgeht.

  9. Fremdling sagt:

    @ Peter: Zu deinen Repliken.

    Ad 2): Da verstehe ich deinen Punkt nicht ganz. Wir haben nie bestritten, dass die (im deutschsprachigen Raum) kommerziell erfolgreiche Fantasy hauptsächlich Unterhaltungsliteratur ist. Aber deswegen ist nicht sämtliche Fantasy Schundliteratur, das Genre hat so viel mehr zu bieten und dieses „mehr“ wird auch von vielen Leuten gelesen. Uns geht es darum, dieser Pauschalverurteilung der Fantasy entgegenzutreten. Die „Kulturindustrie“ mag sich nicht die ungünstigsten Beispiele herausgepickt haben, intensiver mit dem Genre auseinandergesetzt hat sie sich aber auch nicht. Hinzu kommt noch, dass jene Bücher, die als E-Literatur angesehen werden, aber phantastische Elemente enthalten, einfach nicht als Fantasy angesehen werden. Da steckt also schon ein gewisser Gestus dahinter.

    Ad 6) Ähnlich wie Punkt 2, wiederum geht es um die Pauschalisierung der Fantasyliteratur und ihrer –leser als notorische Realitätsverweigerer, ohne sich näher damit auseinandergesetzt zu haben.

    Ad 7) Das ist ein ziemliches Fass, das du da aufmachst. „Wissenschaft“ existiert nunmal nicht außerhalb der übrigen Gesellschaft, sondern die beiden stehen in enger Wechselwirkung und ist damit auch historischem Wandel unterworfen. Insofern ist der Ruf nach mehr „wissenschaftlichem Denken“ irgendwie inhaltsleer. Denn eigentlich haben die Entscheidungsträger jede Menge wissenschaftliche Expertise zur Verfügung, das ganze hat allerdings eher dazu geführt, dass die soziale Rahmung der Wissenschaft offenbar wird. Das hat also eher wenig mit außerwissenschaftlichem Irrationalismus zu tun.
    Und meine persönliche Meinung ist, dass das Schicksal der Welt – um mal ganz pathetisch zu sein – jeden Tag von individuellen Entscheidungen abhängt. Die großen Abstraktionen von Ideologie bis Markt existieren nicht abseits der Menschen, sondern durch sie, insofern hängt nunmal alles von uns ab. Aber natürlich wird jede Entscheidung innerhalb eines komplexen Netzes sozialer Interaktion getroffen, das will ich gar nicht in Abrede stellen.

  10. Wulfila sagt:

    @Peter: Zu deiner Frage nach Argument 3: Natürlich sind frühe Formen des phantastischen Erzählens keine “Fantasy” in unserem heutigen Sinne; Wolfram von Eschenbach kann in der Tat schlecht bewusst für ein Genre geschrieben haben, das zu seiner Zeit noch gar nicht nach unserem heutigen Verständnis existierte.

    Aber gerade Wolfram von Eschenbach ist eigentlich ein gutes Beispiel für einen schon sehr alten Kritikpunkt an bestimmten Literaturformen, der in der Fantasyschelte, die wir hier thematisieren, zum Ausdruck kommt. Gottfried von Straßburg nennt ihn nicht ohne Grund einen “vindaere wilder maere”, charakterisiert ihn also als jemanden, der eben von verbürgten, mithin “wahren” und realen Inhalten abweicht und sich stattdessen Verwirrendes und Trügerisches zurechtfabuliert. Selbst, wenn man kultur- und mentalitätsgeschichtliche Unterschiede zwischen dem Hochmittelalter und heute nicht außer acht lässt, ist das eine frühe Form der Vorwürfe, die auch heute gegen die Fantasy erhoben werden, und belegt zugleich etwas, das für alte Literatur ja immer gern angezweifelt wird: Die Zeitgenossen waren sich durchaus bei bestimmten Werken bewusst, dass darin eben nichts Wahres, sondern tatsächlich Erfundenes präsentiert wurde.

    Diesen Punkt halte ich für sehr wichtig, denn oft wird ja quasi zur Verteidigung frühen phantastischen Erzählens angeführt, dass in einer diffusen Vergangenheit, die gern von grauer Vorzeit bis mindestens ins 18. Jh. reicht, eben alles Mögliche kritiklos für “wahr” gehalten worden sei. Dass es neben allem Glauben und Aberglauben aber eben auch in allen Epochen ein Bewusstsein für Phantastisches, Fabuliertes und Erdachtes gab und Menschen schon immer Freude daran hatten oder aber Kritik daran übten, wird gern übersehen, ebenso wie die Tatsache, dass schon früh “Entmythologisierungsversuche” unternommen worden (siehe z.B. Palaiphatos).

    Wie genau es darum in Einzelfällen bestellt war – was etwa ein früher Rezipient des Gilgamesch-Epos für “wahr” gehalten hat, was er dagegen als bewusste Erfindung oder als Überhöhung wahrgenommen hat – können wir natürlich heute nicht mehr feststellen. Dass es aber eben auch immer schon ein Bewusstsein für das Phantastische gab (wenn auch vielleicht noch nicht so bezeichnet), ist etwas, das man nicht ignorieren sollte, und macht es legitim, auch schon altorientalische, antike und mittelalterliche Texte in eine Tradition des phantastischen Erzählens einzuordnen.

  11. mistkaeferl sagt:

    Da sich sowohl Peter als auch Molo in seinem Blog an dem “nicht auf die Füße treten” aufgehängt haben, möchte ich auch das noch einmal aufgreifen … offenbar ist der Begriff so positiv konnotiert, dass er missverständlich wirkt.
    Es geht uns eher um die subtile Konfrontation des Lesers mit verinnerlichten Überzeugungen und Vorurteilen, die einer “neutralen” Betrachtung bestimmter Situationen im Wege stehen und auf die eine Verlegung der Problematik in ein phantastisches Terrain erst einen unverstellten Blick erlaubt. Ich bin z.B. überzeugt, dass man jemanden, der latent ausländerfeindlich gesinnt ist, mit Shaun Tans “Ein neues Land” (Flüchtlingsproblematik in komplett phantastischer Umgebung) eher sensibilisieren kann als mit einer Geschichte über reale Asylbewerber, wo vielleicht sofort die Klappe fällt. Leute haben vielfach keinen Bock auf Geschichten, die ihnen sofort ein schlechtes Gewissen machen, ihnen eine bestimmte Rolle zudenken und dadurch nicht offen für Interpretation und Identifikation sind. An dieser Stelle ist doch Verfremdung das passende Werkzeug, oder nicht?

    Für den Fall, dass wir ausführlicher diskutieren wollen, möchte ich noch auf unser Forum verweisen, das bietet wahrscheinlich ein angenehmeres Ambiente für eine intensive Auseinandersetzung mit den einzelnen Punkten.

  12. Peter sagt:

    @Wulfila: Glaubtst du tatsächlich, dass Gottfried mit den “wilden maeren” das phantastische Element im “Parzival” meinte? (Wenn denn überhaupt Wolfram im “Dichterexkurs” gemeint ist, was meines Wissens nach gar nicht 100%ig sicher ist.)Im “Tristan” spielen immerhin ein Drache und ein Liebestrank eine nicht unbedeutende Rolle. Bisher dachte ich immer der Gegensatz zwischen den beiden Dichtern habe eher im sprachlich-stilistischen bestanden. Aber so eine Diskussion würde hier vermutlich zu weit führen.

  13. Wulfila sagt:

    @Peter: Wolfram ist zwar anders als Hartmann von Aue nicht namentlich genannt, der wissenschaftliche Mainstream ist sich aber relativ einig, dass es an der bewussten Stelle um Wolfram geht. Der stilistische Gegensatz spielt sicher eine Rolle, aber ich denke auch, dass ein inhaltliches Element durchaus mit angesprochen ist (nicht unbedingt ein “Phantastisches” in unserem Sinne – aber doch ein Fabulierendes, Versponnenes, schwer Deutbares, das eben keine klare didaktische oder im weitesten Sinne literarisch wertvolle Funktion erfüllt).
    Deshalb ist die Stoßrichtung dieses Vorwurfs (nicht jedes Detail daran, dazu sind, wie ich oben ja schon gesagt habe, die umgebenden mentalitätsgeschichtlichen Parameter wohl zu verschieden) für mich durchaus ähnlich wie die der Vorwürfe, die heute gern gegen die Fantasy erhoben werden.

  14. Wetterwald sagt:

    Gegen den Beitrag ist nichts einzuwenden. Es wäre natürlich vieles zu ergänzen, aber das ist gar nicht zwingend nötig. Diejenigen, die ihn lesen müssten, werden ihn ohnehin nicht lesen. Fantasy-Gegner sind nicht daran interessiert, ihre Meinung zu überdenken oder zu ändern. Ich will mich darüber auch gar nicht beschweren, nur eines möchte ich loswerden: Das, was als mehrheitsfähige “normale” Literatur (Thriller, Krimis, etc.) “für Erwachsene” (Fantasy wird ja mitunter wie Kinderkram behandelt)angesehen wird, ist mitunter inhaltlich, stilistisch, dramaturgisch grottenschlecht – wie man dann hervorragend geschriebene Fantasy verunglimpfen kann, erschließt sich mir nicht. Es ist das alte Lied: Wer sich vor Phantasie fürchtet (vor der eigenen und der anderer), weil sie in unsicheres, gedankliches Terrain führt, beschimpft das, wovor er sich fürchtet, um sich zu erhöhen und sich keine Schwäche eingestehen zu müssen. Da rede ich aber von GUTER Fantasy, nicht Twilight u.ä. … 😉 Wie auch immer: Ein Hoch auf das Genre! Es ist nicht schlechter als irgendein anderes, aber weil es allerorten so beleidigt wird, ist es eine Freude, um seine Ehre zu streiten. 🙂

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