Tag: Fremdlesen

Wenn man eine Lieblingsfrage unter Fantasy- und SF-Freunden küren müsste, es wäre ganz sicher „Was wäre, wenn …?“. Alan Weisman, Journalist und Sachbuchautor, hat sich mit einem gewaltigen Gedankenexperiment Die Welt ohne uns auf ein Terrain begeben, das alle Endzeit-Herzen höher schlagen lassen sollte: Was wäre, wenn die Menschheit morgen von der Erde verschwinden würde? Was wird aus unserem Planeten, wenn sich 7 Milliarden ihrer Bewohner in Luft auflösen?

Die Antworten, die Weisman bei Experten der Paläoornithologie, Ethnologie, Biologie, Hydrologie und vielerlei weiteren Ologien findet, bieten Stoff für unzählige Science-Fiction-Romane – vorausgesetzt, man erwartet kein Happy End.
Der Autor nimmt davon Abstand, die Zukunft unseres Planeten global und allumfassend zu skizzieren. Vielmehr gleicht das Buch einer kleinen Weltreise zu den beeindruckensten Bauten und schützenswertesten Orten unserer Erde. Vor Ort angekommen, beginnen dann die ernüchternden Analysen: Das New Yorker U-Bahn-Netz wird ohne Wartung innerhalb von Tagen überflutet sein, der Central Park versumpft einmal mehr. Die beeindruckende Artenvielfalt in der militärischen Sperrzone zwischen Süd- und Nordkorea, bereits heute ein kleiner, unwirklicher Garten Eden, wird sich rasend schnell vergrößern. Der Panamakanal, eines der monströsesten menschengeschaffenen Bauwerke unserer Zeit, wird nur wenige Monate standhalten, bis seine Deiche brechen. Unser Planet wird nach wenigen Jahren wieder von all den Arten bevölkert sein, die wir an den Rand des Aussterbens getrieben haben – und von unzähligen verwilderten Hauskatzen. Was uns überdauert? Der Euro-Tunnel, die aus dem Tuff gehauenen Höhlenbauten in Kappadokien und Radiowellen, die sich ihren Weg durchs All bahnen.
Weisman skizziert zu Beginn des Buches einen menschenleeren Planeten, der sich langsam in das Paradies verwandelt, das er bereits einmal war. Eindrucksvoll schildert er die Kräfte der Natur, die sich langsam, aber stetig überall ausbreiten wird, wo wir einst hausten. Einem durchschnittlichem amerikanischen Leichtbauhaus gibt Weisman 50 Jahre, bis nur noch Aluminiumtöpfe davon übrig sind, der Kölner Dom hat immerhin eine längere Gnadenfrist, bis auch er durch Tau-Frost-Zyklen gesprengt wird.

Um eine fundierte Zukunftsprognose stellen zu können, unternimmt der Autor außerdem eine Zeitreise bis zu den Anfängen unseres Planeten, denn um die Frage „Wo geht es hin?“ zu beantworten, muss man sich über das „Wie sind wir bisher hierher gekommen?“ im klaren sein. Und so schweift Weisman ab zum Massensterben der Megafauna im Perm, zu der Entstehung von Korallenriffen, umreißt die Entwicklung des Pflanzendüngers in Großbritannien und erläutert den Untergang der Mayakultur. Diese rückwärtigen Zeitreisen gelten in vielen Rezensionen als Kritikpunkte; sie sind jedoch nicht nur hochinteressant, sondern auch unbedingt vonnöten, um einen Blick in Zukunft einer Erde werfen zu können, die sich ihrer aggressivsten Spezies entledigt hat.
Vor allem nach einem Blick in die vorindustrielle Vergangenheit eröffnen sich zwangsläufig neue Antworten auf die Frage, was uns überdauert: atomar verseuchte Wolken, daraus resultierende Genmutationen und abermillionen Kubikmeter unzersetzlicher Plastikmüll. Und, so zumindest hoffen es die Ingenieure, auch die Warnschilder an den atomaren Endlagern, in Tschernobyl und nun in Fukushima, die in mehreren Sprachen und mithilfe von Piktogrammen hoffentlich auch zukünftigen intelligenten Lebensformen deutlich machen: wer hier die Tür öffnet, läutet den Untergang des Planeten ein. Denn ganz sicher überdauern wird uns beispielsweise Uran-238, das mit einer Halbwertszeit von 4,5 Milliarden Jahren mehr Geduld beweist als vieles, was je unserer Forscherphantasie entsprungen ist.

Weisman schwenkt also von der anfänglichen Naturromantik um zu einer schonungslosen Analyse, die mehr als deutlich macht, dass das plötzliche Verschwinden des Menschen keine Erlösung wäre – vielmehr, so lautet die deutliche Botschaft des Buches, ist das Verschwinden-Szenario nur deshalb so verheißungsvoll, weil es uns von unserer Verantwortung für unseren Planten entbinden würde. Es ist jedoch jetzt an der Zeit, dass der Mensch endlich beweist, dass er das vernunftbegabte Wesen ist unter all den Lebewesen, mit denen wir uns die Erde teilen.

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Die Welt ohne uns ist 2009 als Taschenbuch bei Piper erschienen (ISBN 978-3492051323).

Über den Tellerrand

Freunde der Abenteuergeschichten können frohlocken: nachdem Käferl bereits letztes Mal Gentlemen of the Road vorgestellt hat, geht es mit The Lost City of Z von David Grann auch heute wieder in abenteuerliche Gefilde.
Es geht um den brasilianischen Regenwald, verschollene Städte, macheteschwingende Abenteurer, kriegslustige Indios, Geheimagenten, entführte Millionäre, Schatzkarten und mysteriöse Schriftzeichen. Und das beste: es ist alles wahr. Auch wenn das für Indiana-Jones-Fans bedeutet, dass sie leider auf Aliens und atomgebombte Kühlschränke verzichten müssen.

Im Mittelpunkt des Buches steht Colonel Percy Harrison Fawcett, der letzte jener großen klassischen Entdecker, die sich ohne besondere Ausbildung und -rüstung aufmachten, die letzten weißen Flecken auf der Landkarte zu erforschen. Geboren 1867 in Torquay (ja, dem Torquay), ging er nach seinem Schulabschluss zum Militär, das ihn nicht nur als Offizier auf Sri Lanka und Malta stationierte, sondern auch als Spion nach Marokko schickte.
Ab 1906 erkundete er schließlich auf mehreren Expeditionen im Auftrag der Royal Geographical Society die im tiefsten Dschungel gelegenen Grenzgebiete Boliviens und Brasiliens. Von diesen Expeditionen brachte er drei Dinge heim:
Erstens einen reichen Abenteuerschatz für Vorträge, die ihm nicht nur ein nettes Zubrot einbrachten und ihn bekannt machten, sondern auch seinen Freund Arthur Conan Doyle zu dessen Roman Die vergessene Welt inspirierten.
Zweitens die Überzeugung unsterblich zu sein. Während um ihn herum etliche Expeditionsteilnehmer Krankheiten, Verletzungen, Schlangen und dem Hunger zum Opfer fielen, blieb er stets verschont. Legendär auch sein Umgang mit feindlich gesonnen Eingeborenen: wenn ihm die Giftpfeile links und rechts an den Ohren vorbei zischten, hob er die Hände, ging unerschrocken auf die Angreifer zu und rief immer wieder in verschiedenen Indiodialekten “Freund”. Et hätt noch immer joot jejange.
Und das dritte Mitbringsel: die Legende von der verschollenen Stadt Z. Gestützt auf Erzählungen der Ureinwohner, Berichte früher Conquistadoren und vereinzelte archäologische Funde, gelangte Fawcett zu der Überzeugung, dass es irgendwo tief im Urwald versteckt eine alte Kultur gäbe, die nie mit den westlichen Eroberern in Kontakt gekommen war. Doch ehe er sich auf die Suche machen konnte, kam es zur großen Katastrophe: der Erste Weltkrieg brach aus. Fawcett meldete sich freiwillig, zog für King and Country in den Krieg – und fortan ging es bergab. Traumatisiert kehrte er von den Schlachtfeldern Flanderns zurück, die RGS weigerte sich, die Suche nach ominösen verschollenen Städten zu unterstützen und zwei privatfinanzierte Expeditionen mussten nach kurzer Zeit abgebrochen werden. Langsam ging Fawcett das Geld und, viel schlimmer, die Zeit aus. Denn nicht nur war er mittlerweile Mitte 50, er musste auch fürchten, dass ihm der amerikanische Millionär Alexander Hamilton Rice mit seinen von neuster Technik unterstützten Amazonasexpeditionen die Entdeckung vor der Nase wegschnappte.
1925 unternahm Fawcett schließlich einen letzten Versuch. Finanziert von amerikanischen Zeitungen reiste er von Rio über São Paulo nach Cuiabá in Mato Grosso, von wo aus er mit seinem Sohn Jack und dessen bestem Freund Raleigh Rimmel (welch ein Name!) in den Dschungel aufbrach – und für immer verschwand.
Seither machten sich unzählige Abenteurer auf, Fawcett und seine verschollene Stadt zu finden. Erfolg hatte keiner von ihnen und viele teilten gar sein Schicksal.

Eine faszinierende Geschichte, der Grann immer wieder seine eigene Reise auf Fawcetts Spuren gegenüber stellt. Man hat zwar ab und an die Befürchtung, ob Grann das Ganze nicht ein wenig über den Kopf zu wachsen droht, da er obendrein auch noch Berichte von Conquistadoren und über die Rettungsexpeditionen einbaut, aber er bekommt doch immer noch einmal die Kurve und liefert ein gutgeschriebenes, unterhaltsames und vor allem lehrreiches Buch ab, an dessen Ende man die Idee einer untergegangenen Kultur im Amazonas selbst für gar nicht mehr so abwegig hält.

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The Lost City of Z ist 2009 als Hardcover bei Doubleday erschienen (ISBN: 978-0-385-51353-1, 352 S.), ein Taschenbuch gibt es von Simon & Schuster (ISBN: 9781847394439, 352 S.).
Die deutsche Übersetzung von Henning Dedekind ist als Die versunkene Stadt Z im Hardcover bei Kiepenheuer & Witsch (ISBN: 978-3-462-04199-6, 416 S., 19,95€) und als Taschenbuch bei Goldmann (ISBN: 978-3-442-15666-5, 416 S., 9,99€) erhältlich.

Über den Tellerrand

Wir Fantasy-Leser spielen immer gerne eine Runde “was wäre wenn?”, und diese Gelüste kommen voll auf ihre Kosten, wenn der britische Historiker Philip Matyszak fragt, was wäre, wenn es einen Karriereführer für einen angehenden Legionär im Jahr 100 n. Chr. unter Kaiser Traian gegeben hätte.
Legionär in der römischen Armee von Philip MatyszakBlut geleckt hat Matyszak, Autor etlicher Sachbücher über die Antike, wohl spätestens bei Rom für 5 Denar am Tag, einem ganz im Stil moderner Reiseführer gehaltenen Handbuch für einen Ausflug ins antike Rom, das eine Reihe von Nachfolgeprodukten anderer Autoren nach sich zog.
In Legionär in der römischen Armee wird die Fiktion weiter vertieft: Man erfährt hier alles, was einen angehenden Soldaten interessieren könnte: Wer ist überhaupt tauglich? Welche Legionen gibt es, was sind ihre Vor- und Nachteile? Mit welchen Feinden hat man zu rechnen? Was für eine Ausrüstung ist zu besorgen? Konsequenterweise lautet die letzte gestellte Frage denn auch: Was könnte ich auf meinen Grabstein schreiben lassen?

Aus kuriosen Fakten und prägnanten Zitaten wird ein umfassender Überblick über das Leben in einer römischen Legion zusammengestellt. Zwischen den hemdsärmeligen und spritzigen Erläuterungen, etwa zu dem Thema, dass man als Legionär viel häufiger eine Schaufel als ein Gladius in der Hand haben wird, versteckt sich auch einiges Geschichtswissen, allerdings eher quer über das Buch verstreut als systematisch geordnet. Legionär in der römischen Armee gibt keinen tiefgreifenden Einblick über historische Zusammenhänge, vielmehr geht es um ‘soft facts’ und damit manchmal sicher ins Spekulative, wodurch das Buch um so mehr in die Grauzone zwischen Sachbuch und Fiktion einzuordnen ist. Einen stimmigen und detailreichen Ausschnitt aus der Alltagskultur bekommt man aber definitiv zu sehen.

Nun gibt es viele Bücher über die römische Armee, aber wenn man nur eines lesen möchte, sollte es dieses sein, denn der augenzwinkernde, humorvolle Stil unterhält über die 200 Seiten hinweg so hervorragend, dass man am Ende zu der Ansicht kommen könnte, der Autor hätte sich die ein oder andere Nacht mit sieben Stubenkameraden im papilio um die Ohren geschlagen.
Beispiel gefällig? Für Freunde von Das Leben des Brian ein Zitat aus der Darstellung des “assymetrischen Widerstands” der Juden:

Die Juden haben eine lange Tradition rabbinischer Gelehrsamkeit, und viele kennen ihre eigenen wie auch die kaiserlichen Gesetze im Schlaf. Das Ergebnis ist ein richtiger Strom von Gesandtschaften zum Kaiser, die ihm echte und vermeintliche Regelverletzungen bis ins Detail vortragen, während gleichzeitig eine große und rührige Guerilla die Armee auf dem flachen Land piesackt.

Besonders viel Spaß machen auch die unzähligen Geschichten, die in den Details stecken, beginnend mit der fälligen Anreise neuer Rekruten zum letztendlichen Standort der Legion, der offiziellen und inoffiziellen Hackordnung innerhalb der Truppen, bis hin zum schieren Irrsinn langjähriger Belagerungen mit variantenreichen Unterhöhlungsaktivitäten feindlicher Mauern und dem beinahe langweiligen Alltag des Legionärslebens, wenn die bloße Anwesenheit der Legion feindliche Aktivitäten eigentlich schon im Keim erstickt.
Lebendige kulturgeschichtliche Details in origineller Verpackung und dennoch durchaus mit Quellenmaterial (des öfteren auch in Bildform) untermauert – das macht vielleicht keine Lust, sich sofort freiwillig zum Dienst zu melden (vor allem nicht, wenn man von so erbaulichen Strafmaßnahmen wie dem Dezimieren erfahren hat), aber auf mehr Lektüre dieser Art durchaus. Gibt es auch, denn inzwischen ist auch ein ritterlicher Karriereführer als Me-too-Produkt auf den Markt gekommen. Hat man da mal reingelesen, weiß man um so mehr, was man an Matyszak und seinem erfrischenden Stil hat: Bitte greifen Sie zum römischen Original! 😉

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    Legionär in der römischen Armee. Der ultimative Karriereführer
    ISBN: 978-3-89678-822-1
    2010, 224 S., mit Karte, Glossar und Tipps für weiterführende Literatur
    Original: Legionary. The Roman Soldier’s (Unoffical) Manual
    Der Nachfolger “Gladiator” vom selben Autor ist noch nicht auf Deutsch erschienen.
    zur Leseprobe

Über den Tellerrand

Dieses Mal kapert das Schneckerl die zwergische Kolumne und begibt sich in die Gefilde der Science Fiction und zwar mit Hiroshi Yamamotos The Stories of Ibis: Eine Anthologie, bei der mich schon das Cover neugierig gemacht hat. Sie enthält sieben Erzählungen, die schon zuvor in verschiedenen Magazinen veröffentlicht worden sind und die der Autor nun durch eine  Rahmenhandlung geschickt miteinander verknüpft hat. Darin nimmt er nicht nur das übergreifende Thema der Mensch-Maschine-Beziehungen auf, sondern präsentiert bereits im Rahmen des Textes erste Reflexionen über die Geschichten. Außerdem legt er darin einer der Figuren ein Plädoyer für phantastische Literatur in den Mund, das ich nur allzu gern dem Feuilleton unter die Nase halten würde.

Worum geht’s überhaupt? The Stories of Ibis beginnt mit einem terminatoresken Szenario: Maschinen haben (anscheinend) die Macht auf der Erde übernommen, die Menschen fristen abseits der Macht ihr Dasein, fühlen sich unterdrückt und verfolgt. Protagonist der Rahmenhandlung ist ein Geschichtenerzähler, dem von der titelgebenden Ibis, einer Androidin, wiederum Geschichten erzählt werden. Doch anstatt zur wohlbekannten Horrormär davon zu greifen, wie der Mensch Geister (in der Maschine) rief, die er nicht mehr loswurde, beleuchten die Erzählungen das Verhältnis von Mensch und Maschine in vielfältiger und einfühlsamer Weise.

Die Geschichten folgen dabei einer gewissen Chronologie, bauen aber nicht aufeinander auf, abgesehen von der siebten Geschichte, die sowohl in Beziehung zur Rahmenhandlung steht, als auch die anderen Erzählungen spielerisch aufgreift. Während die erste in der Gegenwart (mit entsprechender Technologie) angesiedelt ist und eine Online-Community unter einem anderen Gesichtspunkt als der sozialen Verwahrlosung betrachtet, wofür ich persönlich sehr dankbar war, steigt bei den weiteren Geschichten das Technologieniveau langsam an. Eine eigene Erzählung ist der Entstehung einer Künstlichen Intelligenz gewidmet und schließlich werden Androiden entwickelt und als Arbeitskräfte eingesetzt. Dementsprechend werden auch die Themen zunehmend philosophischer und entwickeln sich von der Interaktion von Menschen mithilfe von Maschinen zur Beziehung von Mensch und Maschine zueinander. Das heißt aber beileibe nicht, dass das Buch auch zunehmend langatmiger und schwerer wird. Die Geschichten bleiben spannend, ganz ohne Actionspektakel, tiefsinnig, ganz ohne Schlaftablettenwirkung, und behandeln große Themen, ganz ohne Epik.

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The Stories of Ibis erschien im Jahr 2006 unter dem Titel Ai no Monogatari auf Japanisch und wurde 2010 bei Haikasoru (VIZ Media LLC) in der englischen Übersetzung von Takami Nieda veröffentlicht. ISBN 13: 978-1421534404.

Über den Tellerrand

Zehn Jahre ist es heute her, dass Douglas Adams, hoopiger Frood und Verfasser von Doktor-Snuggles-Folgen, aufhörte, sich nach den Fjorden zu sehnen, statt gegen einen Eimer auf ein Laufband trat und sich in einen Ex-Autor verwandelte.
Anlass genug, in diesem Blog eines von Adams Büchern vorzustellen. Nein, nicht das mit dem Handtuch und dem depressiven Roboter. Auch nicht das mit dem holistischen Detektiv und dem Pferd im Bad.
Sondern das, welches Adams selbst als sein bedeutendstes bezeichnete:

Die Letzten ihrer Art

Alles begann 1985, als das britische Magazin The Observer dem erfahrenen Zoologen und Naturschützer Mark Carwardine einen absolut unerfahrenen und unwissenden Nichtzoologen – eine Rolle, für die Adams absolut qualifiziert war – zur Seite stellte und die beiden in den madagassischen Urwald schickte. Dort sollten sie den Aye-Aye, einen ebenso seltenen wie hässlichen Lemur, aufspüren.
Die Chemie zwischen den beiden Hominiden (der Lemur blieb eher auf Distanz) stimmte, und so begann man das nächste gemeinsame Projekt zu planen: Adams markierte auf einer Weltkarte die Orte, an die er gerne einmal Reisen würde, Carwardine die, wo Arten vom Aussterben bedroht waren – und jene Orte, an denen sich beides zufällig überschnitt, landeten auf der To-Go-Liste.

1988 war es dann so weit, Adams und Carwardine, im Schlepptau ein Team von BBC Radio, begaben sich auf eine einjährige Weltreise. Sie begegneten nachdenklichen Berggorillas, lebenden Drachen, den bedauernswerten Yangtse-Delphinen, einem Termitenhügel, der aus der Ferne wie ein Breitmaulnashorn aussah, einem Experten für giftige Tiere, der diese eigentlich überhaupt nicht leiden kann (mit einer Ausnahme – aber die hat ihn verlassen) und natürlich: dem Kakapo, einem neuseeländischen Papagei, der nicht nur vergessen hat, wie man fliegt, sondern auch vergessen hat, dass er dies vergessen hat.

Das Ergebnis dieser Reise war nicht nur eine Ende ’89 ausgestrahlte Radioserie, sondern auch ein im folgenden Jahr erschienenes Buch, das Adams über die Reise und seine Abenteuer geschrieben hatte.

ein aviärer Subwoofer, (cc) Markus Nolf

Bravourös gelingt ihm der Mix aus Humor und Nachdenklichkeit: im einen Moment amüsiert man sich noch über Zaire’sche Zollbeamte, im nächsten steht man ehrfurchtsvoll einem Berggorilla gegenüber. Lachte man gerade noch über die Versuche, in China ein Kondom zu kaufen, mit dessen Hilfe der Geräuschpegel im Yangtse aufgezeichnet werden soll, so bleibt einem das Lachen im Halse stecken, wenn man mit dem Ergebnis der Aufnahme konfrontiert wird. Und was den Kakapo betrifft, so weiß man eh nicht, ob man lachen oder weinen soll.

Dass der englische Originaltitel Last Chance To See leider nur zu treffend gewählt war, stellte sich 2008 heraus, als Carwardine die Reise mit Adams gutem Freund Stephen Fry wiederholte: durch Wilderer und Bürgerkrieg sind die letzten freilebenden Nördlichen Breitmaulnashörner 2006 umgekommen, und auch der Yangtse-Delphin gilt seit 2007 als ausgestorben.
Besser erging es jedoch dem Kakapo. Während die Population 1985 noch auf rund 22 Tiere geschätzt wurde, hat sie sich mittlerweile auf 122 erhöht – auch Dank der vom Buch geschaffenen Publicity.

(Nicht nur) aus diesem Grunde: So long, Douglas, and thanks for all the parrots.

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Die Letzten ihrer Art wurde in Deutschland bei Heyne veröffentlicht (ISBN 978-3-453-06115-6, 272 S.), die englische Ausgabe, Last Chance To See, ist bei Arrow erschienen (ISBN 009953679X, 42*5+14 S.)
Die gleichnamige TV-Doku mit Mark Carwardine und Stephen Fry ist bei der BBC auf DVD erhältlich.

Wer Douglas Adams mit all seinem Witz und seiner Leidenschaft erleben möchte, dem sei sein Vortrag Parrots, the Universe and Everything wärmstens ans Herz gelegt.

Über den Tellerrand

It was long ago and it was far away…
Nachdem letztes Mal mit Paolo Bacigalupi ein Blick in die Zukunft geworfen wurde, geht es diesmal in die ferne Vergangenheit, in die Zeit des Trojanischen Krieges.

Schon 3000 Jahre hat dieser Mythos auf dem Buckel – und ist doch noch quicklebendig. Noch immer wird die Geschichte weitererzählt, sei es in italienischen Sandalenfilmen, Hollywoodproduktionen mit Happy End (Damn you, Wolfgang Petersen!) oder indem man den armen Odysseus nach Dublin, in den Deep South, auf ein Raumschiff des 31. Jahrhunderts oder ins Hallo-Spencer-Dorf versetzt. Achillessehne und die sprichwörtliche Odyssee, Tales of Brave Ulysses und Temporary like Achilles, Trojanisches Pferd und Trojanischer Hase, Homer Simpson und eine Forumosin, auf die niemand hört – man könnte meinen, wo man nur hinspuckt, tönt einem ein “Malaka!” entgegen.

Irgendwann war dann bei mir der Punkt erreicht, an dem mir dieses diffuse Halbwissen aus Filmen und ins Märchenhafte entrückten Sagen, die sich in den Details irgendwie alle nicht auf eine Version einigen konnten, nicht mehr reichte und ich wissen wollte, was denn jetzt stimmt, was im “Original” steht.

Also griff ich zu Homers Ilias – und erlebte eine Überraschung.
Denn was ich nicht bedacht hatte: Homer hat seine Epen natürlich nicht aus dem Nichts geschaffen, sondern einen wesentlich älteren Mythos aufgegriffen, aus dem er sich zwei Episoden heraus pickte und diese ausbaute.
Iphigenie, Laokoon und das hölzerne Pferd sucht man vergeblich, Trojas Untergang, Achills Tod und Agamemnons Schicksal werden nur beiläufig erwähnt – wieso auch nicht, die Geschichten waren ja schließlich wohlbekannt.

Um die “komplette” Geschichte zu erfahren, muss man sich durch über 700 Jahre griechisch(-römisch)er Literatur wühlen, angefangen bei Homer über Euripides Iphigenie und Aischylos Orestie bis hin zu Vergils Aeneis. Alternativ kann man natürlich auch auf die zurückgreifen, die dies bereits für einen getan haben, wie z.B. Gustav Schwab mit seinen Sagen des Klassischen Altertums.
Oder, um endlich auf den Titel dieses Posts zu kommen: man liest einen Comic.

Age of Bronze

1991 war nämlich bei Eric Shanower, einem Comiczeichner, der sich bis dahin hauptsächlich mit L. Frank Baums Oz beschäftigt hatte, der oben erwähnte kritische Punkt erreicht und er setzte es sich in den Kopf, die Geschichte des Trojanischen Krieges als Comic umzusetzen. Er begann sich in die Materie zu vertiefen, las die griechischen und römischen Klassiker, Geschichtsbücher und Ausgrabungsberichte, studierte die damalige Architektur und Landschaft – und 1998 war es dann schließlich soweit: das 1. Heft von Age of Bronze erschien bei Image Comics.
Seitdem sind pro Jahr zwei bis drei Hefte erschienen, die zu bisher drei (von rund sieben geplanten) Sammelbänden zusammgefasst wurden: A Thousand Ships, Sacrifice und Betrayal: Part 1.

Südtor von Troja - in echt und im Comic (c) Eric Shanower

Man mag sich jetzt denken: Okay, ein Comic über den Trojanischen Krieg. So what? Den gibt es auch von Marvel.
Nur zeichnet sich Age of Bronze nicht nur durch einen, besonders im Vergleich zu Marvels grausigen Photoshopexzessen, wunderbar klaren Schwarzweißstil aus, sondern vor allem durch unzählige kleine Details, die zeigen, dass man es mit jemandem zu tun hat, der wirklich Ahnung von der Materie hat.
Besonders sind mir zwei Details aus dem Palast des Nestor in Pylos in Erinnerung geblieben: nicht nur entsprechen die Wandbemalungen den Rekonstruktionen aus dem Ausgrabungsbericht, sondern selbst das Zackenmuster am Rande der zentralen Feuerstelle, das heute noch teilweise zu erkennen ist, wurde übernommen. Und wenn Agamemnon später (in Mykene) ein Trankopfer darbringt, so gießt er dies in eine kleine Mulde neben seinem Thron – wie man sie auch in der Ausgrabungsstätte in Pylos findet.

Gerade diese kleinen Details sind es, die Age of Bronze für mich nicht nur zu einem wirklich guten, sondern zu einem herausragenden Comic machen.
In meinen Augen ein Muss für alle, die sich für die Antike, alte Sagen – oder einfach nur für gute Comics interessieren.

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Bisher sind bei Image Comics drei Sammelbände erschienen: A Thousand Ships (ISBN 1-58240-200-0, 224 S.), Sacrifice (ISBN 1-58240-399-6, 224 S.) und Betrayal: Part 1 (ISBN 978-1-58240-755-5, 176 S.), die für je um die 14€ erhältlich sind. Eine deutsche Ausgabe scheint derzeit leider nicht geplant zu sein.

Mehr gibt es auf der offiziellen Website Age-of-Bronze.com, z.B. einen Bericht von Shanowers Besuch in Troja (bei dem er nicht nur den Fanboy raushängen lässt, sondern auch noch alle Vorurteile über Amis im Ausland bestätigt) und eine Leseprobe zu Band 2. Außerdem kann man über die Seite auch die Age of Bronze-Hefte abonnieren.

Von Homers Ilias sind vor allem zwei Übersetzungen hervorzuheben: Johann Heinrich Voß’ aus dem Jahr 1793 (erhältlich z.B. bei Fischer Klassik) überzeugt vor allem durch ihre sprachliche Wucht, während Wolfgang Schadewaldts (z.B. bei Insel) von 1975 den Fokus eher auf Detailtreue setzt. Die vor ein paar Jahren erschienene Übersetzung von Raoul Schrott ist hingegen eher etwas für Fans von Erkan und Stefan.

Wer einmal filmisch in griechische Dramen hineinschnuppern möchte, dem seien Michael Cacoyannis Filme Elektra, Die Troerinnen und vor allem Iphigenia empfohlen, die er mit der wunderbaren Irene Papas gedreht hat.

Über den Tellerrand

Auch wenn es den einen oder anderen Fanboy schockieren mag, so gibt es doch eine Bücherwelt jenseits der Fantasy. Sogar eine sehr große. Und ich muss gestehen, dass ich immer mal wieder den Punkt erreiche, an dem mich die Aussicht auf den x-ten 1000-seitigen Auftaktband DER nächsten großen Trilogie voller Ritter und Ränkeschmiede (egal ob Friede, Freude, Narniakuchen oder George & Gritty) eher mit Grausen denn mit Vorfreude füllt und ich lieber zu Krimi, Sachbuch oder wasauchimmer greife. Frei nach dem (überraschend alten) Sprichwort “All Orks and no spaceships makes Jack a dull boy”.

In der Hoffnung, damit zumindest bei dem einen oder anderen auf interessierte Ohren Augen zu stoßen, möchte ich in dieser Kolumne ab und an, soll heißen wenn ich nicht nur Lust und ein passendes Buch habe, sondern mir die Chefin auch noch meine hanebüchene Begründung abnimmt, was das mit Fantasy zu tun hätte, von meinen Ausflügen in die fernen Gefilde jenseits des phantastischen Tellerrandes berichten. Im Moment schweben mir da zum Beispiel das Vorbild zu Glen Cooks Dead Man, ein interessanter Ausblick auf die Welt nach ihrem Untergang, ein walisischer Recke und ein alter Grieche vor, den auch ein Fantasyautor vor kurzem gelesen haben muss.

In diesem Sinne: hinaus in die Ferne, mit Butterbrot und … Paolo Bacigalupi:

The Windup Girl

Bisher hatte ich bei dem Stichwort “Steampunk” in erster Linie so etwas wie Girl Genius von Phil & Kaja Foglio vor Augen. Zumindest bis mir in einem berühmt-berüchtigten Wiener Buchladen mit einem simplen “Lies das!” Paolo Bacigalupis Windup Girl, dessen Übersetzung die Tage bei Heyne unter dem Titel Biokrieg erscheint, in die Hand gedrückt wurde – und meine Vorstellung von Steampunk komplett auf den Kopf gestellt wurde.

Anders als bei Girl Genius und einer gewissen Sonnenschirm-Schnulze, an die ich mich lieber nicht weiter erinnern möchte, geht es hier nicht um eine frühindustrielle Welt, in der moderne Technik mittels Dampfmaschinen und Zahnrädern umgesetzt wird – sondern um das genaue Gegenteil, eine Zukunft, in der wieder auf Dampf- und Muskelkraft zurückgegriffen werden muss.

Angesiedelt ist das Buch ein paar Jahrhunderte in der Zukunft: die Polkappen sind geschmolzen, der Meeresspiegel angestiegen, Krankheiten haben die meisten Nahrungspflanzen dahin gerafft, so dass westliche “Calorie Companies” mit ihren Gen-Pflanzen die Welt kontrollieren. Einzig das Königreich Thailand konnte Dank seiner Gen-Hacker seine Unabhängigkeit bewahren. Und während sich nun im schwül-heißen Bangkok, überragt von einer riesigen Staumauer, die allein die Stadt vor dem Schicksal Atlantis’ bewahrt, Umwelt- und Wirtschaftsministerium argwöhnisch belauern und eine Handvoll westlicher Geschäftsleute eifrig Waren ins Land schmuggelt, versucht ein Agent einer Calorie Company den Gen-Hackern auf die Spur zu kommen. Dessen rechte Hand, ein Exilchinese, der mit letzter Kraft einem Pogrom in Malaysia entkommen ist und nun mit tausenden Mitflüchtlingen in Bangkok ums Überleben kämpft, hat jedoch ganz andere Pläne.
Und mittendrin ein Windup Girl, eine im Genlabor erzeugte Frau, die, von den Thais gehasst, benutzt und misshandelt, einen eigenen Willen entwickelt und sich zu wehren beginnt…

Ein Buch, in dem die Enge der Stadt, die Pläne der einzelnen Charaktere und die brütende Hitze eine explosive Mischung erzeugen, die, einer griechischen Tragödie gleich, unweigerlich zur Katastrophe führen muss.
Und der Leser schaut, Seite um Seite verschlingend, fasziniert dabei zu.

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The Windup Girl von Paolo Bacigalupi ist 2009 in den USA bei Night Shade Books (361 Seiten, ISBN: 978-1-59780-158-4) und 2010 im UK bei Orbit UK (544 Seiten, ISBN: 978-0-35650-053-9) erschienen.
Die deutsche Übersetzung von Hannes Riffel und Dorothea Kallfass erscheint am 8. Februar 2011 unter dem Titel Biokrieg bei Heyne (608 Seiten, ISBN: 978-3-453-52757-7)

Über den Tellerrand