Frau Regenschein liest fremd: Die Welt ohne uns

Wenn man eine Lieblingsfrage unter Fantasy- und SF-Freunden küren müsste, es wäre ganz sicher „Was wäre, wenn …?“. Alan Weisman, Journalist und Sachbuchautor, hat sich mit einem gewaltigen Gedankenexperiment Die Welt ohne uns auf ein Terrain begeben, das alle Endzeit-Herzen höher schlagen lassen sollte: Was wäre, wenn die Menschheit morgen von der Erde verschwinden würde? Was wird aus unserem Planeten, wenn sich 7 Milliarden ihrer Bewohner in Luft auflösen?

Die Antworten, die Weisman bei Experten der Paläoornithologie, Ethnologie, Biologie, Hydrologie und vielerlei weiteren Ologien findet, bieten Stoff für unzählige Science-Fiction-Romane – vorausgesetzt, man erwartet kein Happy End.
Der Autor nimmt davon Abstand, die Zukunft unseres Planeten global und allumfassend zu skizzieren. Vielmehr gleicht das Buch einer kleinen Weltreise zu den beeindruckensten Bauten und schützenswertesten Orten unserer Erde. Vor Ort angekommen, beginnen dann die ernüchternden Analysen: Das New Yorker U-Bahn-Netz wird ohne Wartung innerhalb von Tagen überflutet sein, der Central Park versumpft einmal mehr. Die beeindruckende Artenvielfalt in der militärischen Sperrzone zwischen Süd- und Nordkorea, bereits heute ein kleiner, unwirklicher Garten Eden, wird sich rasend schnell vergrößern. Der Panamakanal, eines der monströsesten menschengeschaffenen Bauwerke unserer Zeit, wird nur wenige Monate standhalten, bis seine Deiche brechen. Unser Planet wird nach wenigen Jahren wieder von all den Arten bevölkert sein, die wir an den Rand des Aussterbens getrieben haben – und von unzähligen verwilderten Hauskatzen. Was uns überdauert? Der Euro-Tunnel, die aus dem Tuff gehauenen Höhlenbauten in Kappadokien und Radiowellen, die sich ihren Weg durchs All bahnen.
Weisman skizziert zu Beginn des Buches einen menschenleeren Planeten, der sich langsam in das Paradies verwandelt, das er bereits einmal war. Eindrucksvoll schildert er die Kräfte der Natur, die sich langsam, aber stetig überall ausbreiten wird, wo wir einst hausten. Einem durchschnittlichem amerikanischen Leichtbauhaus gibt Weisman 50 Jahre, bis nur noch Aluminiumtöpfe davon übrig sind, der Kölner Dom hat immerhin eine längere Gnadenfrist, bis auch er durch Tau-Frost-Zyklen gesprengt wird.

Um eine fundierte Zukunftsprognose stellen zu können, unternimmt der Autor außerdem eine Zeitreise bis zu den Anfängen unseres Planeten, denn um die Frage „Wo geht es hin?“ zu beantworten, muss man sich über das „Wie sind wir bisher hierher gekommen?“ im klaren sein. Und so schweift Weisman ab zum Massensterben der Megafauna im Perm, zu der Entstehung von Korallenriffen, umreißt die Entwicklung des Pflanzendüngers in Großbritannien und erläutert den Untergang der Mayakultur. Diese rückwärtigen Zeitreisen gelten in vielen Rezensionen als Kritikpunkte; sie sind jedoch nicht nur hochinteressant, sondern auch unbedingt vonnöten, um einen Blick in Zukunft einer Erde werfen zu können, die sich ihrer aggressivsten Spezies entledigt hat.
Vor allem nach einem Blick in die vorindustrielle Vergangenheit eröffnen sich zwangsläufig neue Antworten auf die Frage, was uns überdauert: atomar verseuchte Wolken, daraus resultierende Genmutationen und abermillionen Kubikmeter unzersetzlicher Plastikmüll. Und, so zumindest hoffen es die Ingenieure, auch die Warnschilder an den atomaren Endlagern, in Tschernobyl und nun in Fukushima, die in mehreren Sprachen und mithilfe von Piktogrammen hoffentlich auch zukünftigen intelligenten Lebensformen deutlich machen: wer hier die Tür öffnet, läutet den Untergang des Planeten ein. Denn ganz sicher überdauern wird uns beispielsweise Uran-238, das mit einer Halbwertszeit von 4,5 Milliarden Jahren mehr Geduld beweist als vieles, was je unserer Forscherphantasie entsprungen ist.

Weisman schwenkt also von der anfänglichen Naturromantik um zu einer schonungslosen Analyse, die mehr als deutlich macht, dass das plötzliche Verschwinden des Menschen keine Erlösung wäre – vielmehr, so lautet die deutliche Botschaft des Buches, ist das Verschwinden-Szenario nur deshalb so verheißungsvoll, weil es uns von unserer Verantwortung für unseren Planten entbinden würde. Es ist jedoch jetzt an der Zeit, dass der Mensch endlich beweist, dass er das vernunftbegabte Wesen ist unter all den Lebewesen, mit denen wir uns die Erde teilen.

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Die Welt ohne uns ist 2009 als Taschenbuch bei Piper erschienen (ISBN 978-3492051323).

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