Tag: Comics

Oscar Wilde ist Schriftsteller, und wie sein Namenspate genießt auch er gern das Leben in vollen Zügen, doch nach einem erschütternden Ereignis (über das wir nur ein paar vage Hinweise erfahren) zieht es ihn in die Einsamkeit, aufs Land, in ein Örtchen namens Podunk mitten in Oklahoma, wo er von einer gewissen B. Jaga ein unschlagbar günstiges Haus mieten konnte. Und wie das mit unschlagbar günstigen Angeboten so ist, hat das Ganze einen Haken: Es spukt.
Podunk ist ein merkwürdiges Kaff, in dem nichts und niemand ist, was er oder sie zu sein scheint, in dem man nur ein paar Meter in den Wald spazieren muss, um sich plötzlich sprechenden Bären, Sagengestalten oder hilfreichen Spinnen gegenüber zu finden, und manchmal besuchen sie einen sogar auf der Türschwelle. Oscar verdient einen Preis für die stoische Ruhe, mit der er diese Dinge hinnimmt und Podunk zunächst treu bleibt, statt schreiend davonzulaufen.

Mit seinen Rückgriffen auf die örtliche Mythologie einerseits und das allgemein bekannte Figurenrepertoire des Genres andererseits könnte man Wilde Life als Urban-Fantasy-Comic bezeichnen, nur dass Podunk und “urban” unter keinen Umständen in einem Satz vorkommen können. Rural Fantasy also, in der die Natur, die Wildnis, niemals weit weg ist, und zwar äußerlich wie innerlich.
Neben Oscar, dem Tagebuch führenden Helden, der doch nichts aus seinem Inneren preisgibt und bei dem nach und nach der Verdacht aufkommt, dass er zwar wie der einzig Normale im übernatürlichen Hexenkessel seines neuen Zuhauses wirkt, eigentlich aber eine mindestens ebenso merkwürdige Geschichte wie seine neuen Nachbarn mit sich herumschleppt, kreist die Geschichte um den bindungsgestörten Teenager Cliff und die sympathische, aber nur selten solide Mathematikerin Sylvia.

Wilde Life Chapter 4 von Pascalle LepasObwohl Wilde Life schon ein Jahr (mit zuverlässigen 2-3 Updates pro Woche) läuft, hat man das Gefühl, dass die Erzählung sich noch entfaltet, die Figuren sich noch einfinden und die Mythologie, die auch stark auf indianische Überlieferungen gründet, sich ganz langsam ausweitet. Es ist aber kein schlechtes Gefühl – das reduzierte Tempo kommt dem Konzept der “Rural Fantasy” sehr entgegen.
Schöpferin Pascalle Lepas erweist sich dabei als versierte und fokussierte Erzählerin: In den inzwischen vier Kapiteln von Wilde Life gibt es jeweils einen definierten Handlungsbogen, der das Mysterium von Podunk – und auch das Mysterium dessen, was Oscar dort eigentlich wirklich zu finden hofft – ergründet. Die ausgeklügelte Konstruktion der Kapitel macht zuversichtlich, dass Lepas ihren Stoff gut im Griff hat und ihn nicht zu sehr wuchern lässt, wie es im Webcomic häufig vorkommt. Dazu kommt ihr Händchen für visuelle Ästhetik, sei es mit den clever konstruierten Panels, die durch ihr Foreshadowing die Stimmung einer Szene oder eines Kapitels mit oft sinistren Untertönen in eine andere Richtung kippen lassen, oder die atmosphärischen Landschaftsbilder, mit denen sie die Weite und Einsamkeit von Podunk heraufbeschwört.
Dass sie vorher bereits ein extrem ausuferndes SF-Projekt zu Ende geführt hat, sorgt sicher dafür, dass man es in Wilde Life mit einer gereiften Erzählerin zu tun hat, die ihr Handwerk beherrscht.

Wilde Life ist ein aus dem Leben gegriffener Comic, der moderne Technik, modernen Sprachgebrauch und die entsprechenden Verhaltensweisen wie selbstverständlich in die entrückte Atmosphäre von Podunk einbaut. Dass man in der Pampa sitzt, heißt ja noch lange nicht, dass man kein Tinder benutzen kann, richtig?
Ein weiterer Pluspunkt ist der warmherzige und zugleich trockene Humor, der Wilde Life durchdringt und Oscar hilft, mit den ungewöhnlichen Situationen klarzukommen, in die er am laufenden Band stolpert. Das und Oscars Herangehensweise, das Übernatürliche einfach in seinen Alltag zu integrieren, helfen dem Leser auch dabei, den ganzen Wahnwitz zu schlucken, der über ihn herfällt.

Banner Wilde Life
Demnächst werden die ersten Kapitel von Wilde Life wohl auch in Buchform erscheinen (via Crowdfunding), und bis dahin lohnt es sich, ein bisschen in diesen zurückgenommenen, thematisch ganz leicht neben dem Gewohnten liegenden Webcomic hineinzuschmökern.

Eselsohr Über den Tellerrand

Bibliotheka Phantastika gratuliert Hayao Miyazaki, der heute 75 Jahre alt wird. Viele unserer Leser und Leserinnen werden bei diesem Namen an einen oder mehrere der Animes denken, die der am 05. Januar 1941 in Tokyo geborene Hayao Miyazaki in den letzten dreißig Jahren als kreativer Mastermind des von ihm mitgegründeten Studio Ghibli gedreht hat – angefangen von Tenkū no Shiro Rapyuta (1986; dt. Das Schloss im Himmel (2006)) über Tonari no Totoro (1988; dt. Mein Nachbar Totoro (2007)), die Kinderbuchverfilmung Majo no Takkyūbin (1989; dt. Kikis kleiner Lieferservice (2005)), den auf einem Manga basierenden Kurenai no Buta (1992; dt. Porco Rosso (2006)), Mononoke Hime (1997; dt. Prinzessin Mononoke (2001)), Sen to Chihiro no Kamikakushi (2001; dt. Chihiros Reise ins Zauberland (2003)), Hauru no Ugoku Shiro (2004; dt. Das wandelnde Schloss (2005) – die Adaption eines Jugendbuchs von Diana Wynne Jones) und Gake no Ue no Ponyo (2008; dt. Ponyo – Das große Abenteuer am Meer (2010)) bis hin zu dem ebenfalls auf einem Manga Miyazakis basierenden Kaze Tachinu (2013; dt. Wie der Wind sich hebt (2014)) – und die vor allem in Japan teilweise extrem erfolgreich waren und mittlerweile weltweit eine große Fangemeinde haben.
Nausicaä 2 von Hayao MiyazakiDoch in diesem Beitrag soll es nicht um den Regisseur und Drehbuchautor, sondern um den Mangaka Hayao Miyazaki gehen, bzw. um seinen wichtigsten und umfangreichsten Manga, der indirekt überhaupt erst zur Gründung von Studio Ghibli geführt hat. In der Ausgabe 2/82 des Magazins Animage startete Miyazaki – der zuvor schon als Animezeichner gearbeitet und mit Rupan Sansei: Kariosutoro no Shiro (1979; dt. Das Schloss des Cagliostro (2006)) auch bereits seinen ersten Anime gedreht sowie einige (nicht allzu umfangreiche) Mangas veröffentlicht hatte – nämlich einen Manga mit dem Titel “Kaze no Tani no Nausicaä”*, anfangs noch unter der Prämisse, dass daraus kein Anime werden würde, die allerdings aufgrund sich häufender Leseranfragen bald fallengelassen wurde – und so kam Kaze no Tani no Nausicaä 1984 (dt. Nausicaä aus dem Tal der Winde (2006)) in die japanischen Kinos und wurde so erfolgreich, dass dieser Erfolg die Gründung von Studio Ghibli nach sich zog.
Da der Manga zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal annähernd abgeschlossen war – er sollte mit Unterbrechungen bis zum Februar 1994 in Animage weiterlaufen –, beinhaltet der Anime nur etwa ein (teilweise auch noch leicht verändertes) Viertel der Handlung des Manga, der fast elfhundert Seiten umfasst und nach der Magazinvorveröffentlichung zwischen Juli 1983 und Dezember 1994 in unregelmäßigen Abständen in sieben Sammelbänden nachgedruckt wurde, die wiederum die Grundlage für die diversen Übersetzungen – auch ins Deutsche – bilden.
Aber worum geht es denn jetzt in Nausicaä aus dem Tal der Winde, diesen sieben Bänden, die 2001/02 ein erstes Mal auf Deutsch erschienen sind, rasch vergriffen und gesucht waren und 2010/11 schließlich wiederveröffentlicht wurden? Nausicaä – die sich übrigens Nausica-a spricht** – lebt in einer düsteren Zukunft, in der die ökologische Katastrophe längst eingetreten ist, etwa tausend Jahre, nachdem sich die industrielle Zivilation in einem allumfassenden, als “Sieben Tage des Feuers” bezeichneten Krieg selbst ausgelöscht hat. Die Industriegesellschaft, die jahrhundertelang die Erde, die Luft und das Wasser vergiftet hat, ist verschwunden, doch ihr Erbe ist noch da, bedeckt als “Meer der Fäulnis” genannter giftiger, von riesigen Insekten und anderen genetisch veränderten Wesen bewohnter, sich stetig ausdehnender Pilzwald den größten Teil der Erdoberfläche und bedrängt die auf eine pseudo-mittelalterliche Kulturstufe zurückgefallenen überlebenden Menschen (die allerdings noch über fliegende Gleiter und andere Flugmaschinen verfügen) in ihren letzten Refugien am Rande der Kontinente. Den Pilzwald zu vernichten, ist unmöglich, da etwaige Versuche nur zu Angriffen der in ihm lebenden Tiere – vor allem der gigantischen asselartigen Ohmu – und zur weiteren Ausdehnung des Waldes führen.
Nausicaä ist die Prinzessin des Tals der Winde, das durch den Seewind vor den giftigen Sporen des Pilzwalds geschützt wird – eine wissbegierige junge Frau, die auf ihrem Gleiter nicht nur die Umgebung des Tals der Winde erforscht, sondern auch immer wieder ins Meer der Fäulnis vordringt und dabei interessante Entdeckungen macht. Als das benachbarte große Kaiserreich Torumekia, dem das Tal der Winde als Vasall verpflichtet ist, einen Krieg gegen das Fürstentum Doruk beginnt, ändert sich Nausicaäs Leben gewaltig, denn sie muss in Vertetung ihres kranken Vaters zusammen mit einigen Kriegern aus dem Tal unter dem Kommando der torumekischen Prinzessin Kushana in den Kampf ziehen und gerät schon bald in einen wahren Wirbel aus Geschehnissen, in denen es selbst ihr schwerfällt, einen klaren Kopf zu bewahren …
Es ist schlicht unmöglich, die komplexe Handlung von Nausicaä aus dem Tal der Winde in wenigen Sätzen zu beschreiben, ohne dabei allzu viel über deren Entwicklung zu verraten; von daher mag es an dieser Stelle genügen, dass Nausicaä nur allzu rasch feststellen muss, dass beide Kriegsparteien – die hochgezüchtete Militärmaschinerie von Torumekia ebenso wie die auf Biotechnologie setzenden Doruks – in diesem Krieg zu höchst fragwürdigen Mitteln greifen (vor allem die Machenschaften der Doruks erweisen sich als überaus gefährlich und bedrohen nicht nur ihre Gegner, sondern die ganze Welt) und sie selbst aufgrund ihres Verhaltens und ihres Denkens den Mächtigen beider Parteien ein Dorn im Auge wird. Aber sie erfährt auch Neues über das Meer der Fäulnis und sieht den Pilzwald und die Ohmu von da an mit anderen Augen, findet dank ihrer herzlichen, offenen Art auch dort Freunde, wo man es nicht unbedingt erwarten würde, und erkennt, dass die Mächte der Vergangenheit noch immer Einfluss auf die Gegenwart haben. Schließlich fällt ihr eine Rolle zu, in der sie eine schwierige Entscheidung treffen muss, die Auswirkungen auf die Zukunft der gesamten Menschheit haben wird.
Die von Hayao Miyazaki mit großem Atem erzählte, im wahrsten Sinne des Wortes epische Geschichte lebt zunächst einmal von Nausicaä selbst, die laut ihrem Schöpfer eine Mischung aus der gleichnamigen Phäakenprinzessin aus Homers Odyssee und dem Mädchen Mushimezuru-Himegimi (“die Insekten liebende Prinzessin”) aus der Konjaku monogatari (der “Geschichtensammlung von Jetzt und Einst”) ist und die mit ihrer Warmherzigkeit und ihrer vorurteilslosen Offenheit eine ungemein sympathische und liebenswerte Figur darstellt, die sich allerdings durchaus auch durchzusetzen weiß und im Verlauf der Handlung mit ihren eigenen Schwächen konfrontiert wird. (Eine Figur, die zumindest eine vage Ähnlichkeit mit Nausicaä besitzt, ist beispielsweise Mena aus David Anthony Durhams Acacia Trilogy.) Hinzu kommen unzählige, teils nur knapp umrissene, teils eingehender charakterisierte Nebenfiguren wie etwa Prinzessin Kushana (die Nausicaä 7 von Hayao Miyazakidie vielleicht interessanteste Wandlung durchmacht), vor allem aber die großen Fragen, um die sich letztlich alles dreht (und die in Miyazakis Œuvre immer eine wichtige Rolle spielen): Fragen wie die nach dem Umgang mit der Natur oder mit dem Machtstreben der Menschen, oder die Frage, was letztlich gut und böse ausmacht – und ob eine Läuterung der/des Bösen möglich ist.
Grafisch ist Nausicaä aus dem Tal der Winde (wenn man einmal von der sehr jugendlichen Darstellung etlicher Figuren absieht) kein typischer Manga, wirkt tendenziell eher europäisch, auch wenn die teilweise fast schon überladenen Seiten anfangs gewöhnungsbedürftig sind und nicht so klar strukturiert erscheinen wie die ebenfalls ungewöhnlich gestalteten Seiten des hier erst vor kurzem erwähnten Andreas (was wahrscheinlich auch an der ungewohnten japanischen Leserichtung liegt). Doch wenn man an die Sache ähnlich offen herangeht wie Nausicaä an das Neue und Unbekannte, kann man sich sehr schnell einlesen und wird mit einem Epos belohnt, das den Vergleich mit Werken wie Frank Herberts Dune (aka Der Wüstenplanet) – und das nicht nur wegen des ökologischen Themas bzw. der Messiasfigur – oder J.R.R. Tolkiens The Lord of the Rings (aka Der Herr der Ringe) nicht zu scheuen braucht und nach dem Lesen noch lange nachwirkt. Ungeachtet all seiner sonstigen Verdienste hat sich Hayao Miyazaki allein mit Nausicaä aus dem Tal der Winde einen Platz im Pantheon der großen phantastischen Erzähler erschrieben, und es wäre zu wünschen, dass diese Geschichte auch hierzulande, wo Comics immer noch einen eher schweren Stand haben – es sei denn, sie nennen sich graphic novel – den Erfolg haben wird, den sie verdient.
Die 2010/11 neu aufgelegte siebenbändige deutsche Ausgabe ist weiterhin lieferbar, aber wer will, kann natürlich auch auf die entsprechende englische Ausgabe zurückgreifen (oder es mit einer japanischen versuchen 😉 ).

* – es existiert auch die Schreibweise “Kaze no Tani no Naushika”; da ich über keinerlei Japanisch-Kenntnisse verfüge, weiß ich nicht, welche der beiden Versionen die richtige oder richtigere ist (und habe mich für die entschieden, bei der Nausicaäs Name wie im Deutschen und Englischen geschrieben wird)
** – die Tüdelchen auf dem hinteren a sind ein Trema, das in diesem Fall auf eine Diärese – die getrennte Aussprache zweier aufeinanderfolgender Vokale – verweist und nicht etwa wie sonst den deutschen Umlaut ä kennzeichnet

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Bibliotheka Phantastika gratuliert Andreas, der heute 65 Jahre alt wird. Es dürfte nur wenige Künstler geben, auf die der Spruch vom Propheten, der nichts im eigenen Land gilt, so gut zutrifft wie auf den am 03. Januar 1951 in Weißenfels an der Saale geborenen Comicautor und -zeichner Andreas Martens, der seit Ende der 70er Jahre in Frankreich lebt, dort unter seinem Künstlernamen Andreas mittlerweile rund 60 Alben veröffentlicht hat und in der frankobelgischen Comicszene längst zu einer festen Größe geworden ist. Auch wenn man zugeben muss, dass eine derartige Karriere im Comic-Entwicklungsland Deutschland niemals möglich gewesen wäre, ist es ebenso erstaunlich wie bedauerlich, dass von diesem umfangreichen Œuvre bislang nur ein kleiner Teil ins Deutsche übersetzt wurde.
Andreas hat das Comiczeichnen sozusagen von der Pike auf gelernt: nachdem seine Eltern mit ihm 1960 nach Westdeutschland gezogen waren, studierte er nach Abitur und Zivildienst ein Jahr lang an der Akademie der Schönen Künste in Düsseldorf und anschließend von 1973 bis 1976 am renommierten Institut Saint-Luc in Brüssel. Parallel dazu besuchte er die Comickurse des Luc-Orient-Schöpfers Eddy Paape an der Académie Saint-Gilles, dem er auch bei dem Comic Udolfo assistierte, der 1978 für das Comicmagazin Tintin entstand.
Rock von AndreasIm gleichen Jahr, in dem Udolfo in Tintin erschien, hatte dort in der Geschichte “Un siècle pour une maison” (in Tintin 47/78) mit Rork auch Andreas’ erste selbst kreierte Comicfigur ihren ersten Auftritt, dem rasch weitere folgen sollten. Rork ist ein trotz seiner langen weißen Haare jung – oder zumindest alterslos – wirkender Mann unbekannter Herkunft, der einen langen schwarzen Mantel trägt und von Legenden und geheimnisvollen Begebenheiten fasziniert ist. Letzteres sorgt dafür, dass er immer wieder in … merkwürdige Geschehnisse verwickelt wird, bei denen es ihm zugute kommt, dass er in andere Realitäten wechseln kann. In den ersten Geschichten – die 1984 in dem Album Fragments gesammelt erschienen sind – ist Rork häufig ein eher passiver Beobachter, etwa wenn er den Wissenschaftler und Alchimisten Adam Neels besucht, der den “point fatal” (im Deutschen “Druckpunkt”) entdeckt hat – einen Punkt, der jeden kugelförmigen Körper unabhängig von seiner Größe bersten lässt, wenn man auf ihn Druck ausübt – oder erstmals Bekanntschaft mit “la tache” bzw. dem “Fleck” macht. In den im zweiten Album Passages (1984) gesammelten Geschichten kristallisiert dich dann allmählich ein roter Faden heraus, der ab dem dritten Album Le cimetière des cathédrales (1988) – der ersten Geschichte in Albenlänge – die weitere Handlung der Rork Saga bestimmt. Von nun an geht es vor allem um Rorks unbekannte Herkunft und seine Bestimmung, die er herauszufinden versucht. Nicht nur thematisch hat Andreas ein paar Geschichten gebraucht, um seine Linie zu finden, auch grafisch ist vor allem in den ersten Geschichten eine Entwicklung festzustellen, die allerdings bereits in Passages abgeschlossen ist. Oder, anders gesagt, ab hier waren fast alle Elemente vorhanden, die für Andreas’ Grafik viele Jahre lang typisch sein sollten, wie etwa der Einsatz von Schraffuren, detailverliebte Hintergründe oder auch immer wieder auftauchende architektonische und/oder geometrische Motive. Hinzu kommen teils extreme Perspektiven und ein ungewöhnliches Seitenlayout. Das alles macht Rork – zusammen mit der verrätselten, sich eher in Andeutungen als klaren Aussagen ergehenden Geschichte – zu einem gewiss nicht schnell zu konsumierenden, sondern fordernden Comic, der sich problemlos mehrfach lesen lässt; sei es, weil man auf den kunstvoll komponierten Seiten immer mal wieder etwas Neues entdeckt, oder weil sich plötzlich plottechnische Zusammenhänge erschließen, die so manche Fragen beantworten … und gleich wieder neue aufwerfen.
In gewisser Hinsicht dürfte daher Cromwell Stone (1984) eine etwas leichtere, eingängigere Lektüre darstellen. In diesem Album erzählt Andreas in grandiosen schwarzweißen Bildern die Geschichte seines Titelhelden, der zusammen mit einem Dutzend weiterer Passagiere den Schiffbruch der “Leviticus” überlebt hat und sich auf die Suche nach einem verschwundenen Freund begibt – der ebenso wie die anderen Überlebenden auf mysteriöse Weise verschollen ist. Irgendetwas war damals an Bord der “Leviticus” – und scheint jetzt für das Verschwinden der Überlebenden verantwortlich zu sein … In Cromwell Stone und den Fortsetzungen Le retour de Cromwell Stone (1994) und Le testament de Cromwell Stone (2004) zeigt sich der Einfluss, den das Werk H.P. Lovecrafts auf den jungen Andreas hatte, wohl am deutlichsten (auch wenn er in den frühen Rork-Geschichten ebenfalls zu erahnen ist), und die Geschichte ist zwar ebenfalls verrätselt und mystisch, aber leichter entschlüsselbar als die Rork Saga und eignet sich daher – und wegen ihrer faszinierenden Schwarzweiß-Grafik, in der Andreas’ großartige Schraffurtechnik voll und ganz zur Geltung kommt, so dass manche Panels an die Kupferstiche eines Gustave Doré erinnern – vielleicht am besten als Einstieg in das Œuvre dieses Ausnahmekünstlers. Vor allem, wenn man eine Vorliebe für gothic novels hat, kann man hier eigentlich nichts falsch machen.
Im fünften – oder sechsten, wenn man die 2012 erschiene Vorgeschichte Les fantômes in die Zählung mit einbezieht – Rork-Album Capricorne (1990) hatte der gleichnamige Astrologe seinen ersten Auftritt, der es einige Zeit später zur Hauptfigur der 1997 mit L’objet begonnenen, mittlerweile neunzehn Bände umfassenden und immer noch laufenden gleichnamigen Albenserie gebracht hat (und der – ganz im Gegensatz zu Rork – dem Übernatürlichen anfangs skeptisch gegenübersteht und seinen wohlhabenden Kunden bewusst etwas vormacht) und im gleichen Jahr hat Andreas mit Ailleurs eine weitere, dieses Mal ebensosehr der SF wie der Phantastik zuneigende Serie namens Arq begonnen, die mittlerweile mit dem achtzehnten Album Ici (2015) ihren Abschluss gefunden hat.
Darüberhinaus hat er mit Cyrrus (1984) und Mil (1987) zwei Bände eines ebenfalls von H.P. Lovecraft inspirierten geplanten Dreiteilers sowie diverse Einzelalben – u.a. La caverne du souvenir (1985), Fantalia (1986), Coutoo (1989; dt. Unsterblich wie der Tod (1991)), Raffington Event – Détective (1989; dt. Raffington Event – Privatdetektiv (1992)), Dérives (1991), Aztèques (1992; dt. Azteken (1992)), Le Triangle rouge (1995; dt. Das rote Dreieck (1995)) und Quintos (2006; dt. Quintos (2010)) – geschaffen.
Während der größte Teil der Einzelalben – wie man sehen kann – auch auf Deutsch erschienen ist, hat es in dieser Hinsicht bei Andreas’ Zyklen und Serien bis vor kurzem ziemlich schlecht ausgesehen. Die ersten vier Rork-Alben, die ersten beiden Cromwell-Stone-Alben und Cyrrus sind als Fortsetzungen in Schwermetall erschienen und haben es danach – mit Ausnahmen von Cyrrus – auch zu einer Albenausgabe gebracht (als Fragmente, Passagen, Der Friedhof der Kathedralen und Sternenlicht (1988-92) in der Reihe Schwermetall präsentiert bzw. als Cromwell Stone und Die Rückkehr von Cromwell Stone (1993 und ’97) in einer limitierten Ausgabe), und von Capricorne sind die ersten beiden Alben als Das Objekt und Energie (beide 1998) hierzulande auf den Markt gekommen – und das wars dann für lange Zeit.
Cromwell Stone von AndreasDoch inzwischen ist mit Quintos – einer ausnahmsweise einmal nicht phantastischen, im spanischen Bürgerkrieg spielenden Geschichte, die sich grafisch deutlich von früheren Werken unterscheidet – nicht nur eines der neuesten Einzelalben von Andreas auf Deutsch erschienen, sondern mit der wirklich sehr empfehlenswerten Cromwell Stone Gesamtausgabe (2014) und der zweibändigen Rork Gesamtausgabe (2015) haben es auch bedeutende Pfeiler in Andreas’ Gesamtwerk endlich komplett nach Deutschland geschafft – und momentan sieht es so aus, als stünde tatsächlich eine Capricorn Gesamtausgabe vor der Tür. Somit besteht zumindest eine gewisse Chance, dass die eingangs erwähnte Aussage vom Propheten, der nichts im eigenen Land gilt, vielleicht in absehbarer Zeit revidiert werden muss und der Comicautor und -zeichner Andreas, der sich selbst in erster Linie als Erzähler sieht, der in den Comics das für ihn optimale Medium gefunden hat, endlich die verdiente Anerkennung erfährt.
Natürlich macht es Andreas seinen Lesern und Leserinnen häufig nicht leicht; er verfügt nicht über den schwungvollen Strich oder den Humor eines Jeff Smith, und seine Figuren mit ihren kantigen, teilweise fast schon karikierend überzeichneten Gesichtern fehlt die Körperlichkeit der Schöpfungen eines Richard Corben, doch seine unverwechselbare Grafik – vor allem seine die Grenzen des Mediums auslotenden spektakulären Seitenlayouts – und seine bewusst in der Schwebe gehaltenen und häufig mit einer gewissen distanzierten Kühle erzählten Geschichten bieten ein einzigartiges, mehrfach wiederholbares Leseerlebnis … wenn man sich auf sie einlässt.

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Bibliotheka Phantastika gratuliert Richard Corben, der heute 75 Jahre alt wird. Der am 01. Oktober 1940 in der Kleinstadt Anderson, Missouri, geborene Richard Vance Corben, dessen Œuvre fast gänzlich außerhalb des Superhelden-Mainstream angesiedelt ist, gilt zweifellos zu Recht als einer der wichtigsten us-amerikanischen Comic-Künstler. Nachdem er zunächst als Trickfilmzeichner gearbeitet hatte, machte er ab 1969 seine ersten Schritte als Comiczeichner in Underground-Magazinen wie Grim Wit, Slow Death oder Skull Comix (und etlichen anderen) sowie in dem von ihm selbst herausgegebenen Fanzine Fantagor. Ab 1970 erschienen von ihm – zumeist nach fremden Texten gezeichnete – Horror- und SF-Comics auch in den Magazinen des Verlags Warren Publishing, vor allem in Creepy und Eerie. Doch ein echter Karrieresprung fand erst statt, als Corben eine seiner Geschichten an das im Januar 1975 in Frankreich als Comicmagazin für Erwachsene gegründete Métal Hurlant schickte, denn in dessen (gut zwei Jahre später gestarteten) us-amerikanischen Pendant Heavy Metal war er von Anfang an ebenso vertreten wie in der deutschen Inkarnation des Magazins, die ab Februar 1980 unter dem Titel Schwermetall hierzulande auf den Markt kam.
Bloodstar von Richard CorbenNoch bevor Corben für Heavy Metal zu arbeiten begann, erschien mit Bloodstar (1976, rev. 1979; dt. Bloodstar (1981)) sein erster längerer Comic als eigenständige Veröffentlichung. Bei Bloodstar – der ersten auf dem Cover ausdrücklich als solche bezeichneten graphic novel – handelt es sich um die Comicversion der Robert-E.-Howard-Story “The Valley of the Worm”, an deren Adaption John Jakes und Gil Kane (bzw. bei der zweiten, überarbeiteten Auflage auch noch John Pocsik) beteiligt waren. Bloodstar erzählt die Geschichte des gleichnamigen Helden, der in einem – im Gegensatz zur Howard-Story – postapokalyptischen neobarbarischen Setting eigentlich nur in Frieden mit seiner Familie leben will, es aber mit einem Rivalen innerhalb seines eigenen Stammes, fremden barbarischen Kriegern und allerlei gefährlichen Tieren wie Säbelzahntigern oder einer riesigen Giftschlange zu tun bekommt – und sich schließlich einem unglaublich gefährlichen monströsen Wesen stellen muss, das als “King of the Northern Abyss” bekannt ist. Bloodstar ist vielleicht Corbens rundum gelungenstes längeres Werk, das einerseits von seiner unglaublich plastischen grafischen Umsetzung (usprünglich in Schwarzweiß) lebt, aber auch mit überzeugend charakterisierten Figuren punkten kann. Außerdem gibt es natürlich auch das, was mehr oder weniger Corbens Markenzeichen ist: Frauen mit üppigen Brüsten und jede Menge durchaus drastisch dargestellte Gewalt.
1978 erschien mit Neverwhere (auch als Den: Neverwhere (1984), dt. Den (1978)) Corbens zweite graphic novel (man könnte auch sagen die Tradepaperback-Ausgabe einer zuvor in Heavy Metal veröffentlichten Serie) die den ersten, einem breiteren Publikum zugänglichen Teil eines umfangreichen Zyklus – der Den Saga – darstellt, den man wohl als Corbens Hauptwerk bezeichnen kann (nicht zuletzt deswegen, weil er ihn in weiten Teilen selbst geplottet und getextet hat). Die Anfänge der Den Saga sind allerdings wesentlich älter, denn bereits 1968 hatte sich Corben in dem Kurzfilm Neverwhere – den man sich übrigens hier anschauen kann – mit dem Konzept beschäftigt. Der Comic stellt eine indirekte Fortsetzung des gleichnamigen Kurzfilms dar, und in ihm begegnen wir dem schmächtigen, bebrillten David Ellis Norman, dem sein Onkel Daniel die Baupläne einer Maschine hinterlassen hat, die ein Tor in ein anderes Universum erzeugen kann. Natürlich baut David die Maschine – und landet in (oder auf) Neverwhere, einer wüstenähnlichen Welt, in der es nicht nur jede Menge gefährlicher bis monströser Wesen, sondern auch (mehr oder weniger nackte) Frauen mit großen Brüsten und ohne jede Neverwhere von Richard CorbenKörperbehaarung (vom Kopf mal abgesehen) gibt. So gesehen trifft es sich gut, dass aus dem schmächtigen Nerd beim Übergang durch das Dimensionstor ein muskulöser, haarloser und sehr gut ausgestatter Mann geworden ist (was sich unschwer feststellen lässt, da er durchgehend nackt ist), der sich zudem noch als Martial-Arts-Experte erweist. David, der sich in Neverwhere Den nennt, trifft auf die üppige, ebenfalls von der Erde stammende Kath und hat ein paar … “Differenzen” mit einigen unangenehmen Zeitgenossen; vor allem aber hat er jede Menge Ärger mit der Red Queen, die ihn (wie einige andere Einwohner Neverwheres) von früher zu kennen scheint, und mit dem Magier Ard, der ebenso wie die Red Queen hinter dem Loc-Nar her ist, der Quelle aller Magie auf Neverwhere. Und dann ist da natürlich noch Uhluhtc, der monströse – und überaus hungrige – Gott dieser Welt …
Neverwhere ist eine Sword-&-Planet-Geschichte, die einerseits stark von Edgar Rice Burroughs und dessen A Princess of Mars beeinflusst ist, in der sich aber auch Bezüge zu den Werken Robert E. Howards, H.P. Lovecrafts und sogar J.R.R. Tolkiens finden lassen, und die – was die unterschwellige oder ausgelebte Sexualität ihrer Figuren angeht – all das deutlich zeigt, was bei Burroughs & Co. nur angedeutet wurde. Man könnte Neverwhere und die im Laufe der Jahre folgenden Ergänzungen der Saga – Muvovum (1984), Children of Fire, Dreams, Elements (alle 1992), “DenSaga # 1-4” (nur als Serie, 1992-94) – durchaus als softpornografische Comics bezeichen, und die Tatsache, dass Richard Corben gerne Frauen mit großen Brüsten zeichnet, hat ihm mehrfach den Vorwurf der Frauenfeindlichkeit eingebracht; ganz so einfach ist es allerdings nicht, denn Corbens Frauenfiguren erweisen sich fast immer als zielstrebiger und klüger als ihre männlichen Partner und/oder Gegner. Erzählerisch ist die Den Saga ein nicht ganz unproblematischer Fall, denn der Zyklus als Ganzes ist alles andere als frei von Widersprüchen oder unlogischen Entwicklungen. Corben scheint selbst gemerkt zu haben, dass er nicht unbedingt der geborene Erzähler längerer Geschichten ist, denn für Dreams und Elements hat er sich einen Texter (in Gestalt von Simon Revelstroke) geholt. Grafisch hingegen bieten vor allem Neverwhere und Muvovum über weite Strecken faszinierende und beeindruckende Visionen einer phantastischen Welt, die man so zumindest bis zum damaligen Zeitpunkt noch nicht gesehen hatte. Das gilt für die zumeist trostlose Landschaft ebenso wie für die Bauwerke und Ruinen (in denen buchstäblich alles hausen kann), für die häufig grotesken, teils humanoiden, teils gänzlich fremdartigen Lebewesen und last but not least auch für die ungemein plastisch dargestellten Hauptfiguren wie Den oder Kath.
The Voyage of Sindbad von Richard CorbenÜber die Den Saga hinaus hat Richard Corben noch eine ganze Reihe weiterer umfangreicher phantastischer Comics geschaffen, in denen sich z.B. Sindbad auf eine allerletzte gefährliche Reise begeben muss – New Tales of the Arabian Nights (Text: Jan Strnad (1978), auch als The Last Voyage of Sindbad (1988)) – oder sich ein etwas einfältiger, aber liebenswerter Mutant mit den Fährnissen einer postapokalyptischen Welt herumschlagen muss – Mutant World (T: Strnad, 1983) und “Son of Mutant World # 1-5” (T: Strnad, 1990) – oder in einem ebenfalls postapokalyptischen Setting die Freundschaft zwischen einem Jungen und seinem Hund auf eine harte Probe gestellt wird (Vic and Blood (1989), die Adaption dreier Harlan-Ellison-Stories) – oder ein Raumfahrer mit seiner Lebensgefährtin auf einem nur auf den ersten Blick paradiesischen fremden Planeten landet – Jeremy Brood (T: Strnad, 1989) – oder es um Zeitreisen geht – Rip in Time (T: Bruce Jones, 1990).
Alle bislang genannten Geschichten sind auch auf Deutsch in Albenform erschienen, zuletzt – mit Ausnahme von Bloodstar und Vic and Blood – in der Reihe Die phantastische Welt des Richard Corben (1991-95). Seine Stories aus Creepy und Eerie sind erst letztes Jahr in einem Prachtband mit dem Titel Creepy präsentiert: Richard Corben herausgekommen, während in Geister der Toten (2015) fünfzehn Geschichten von Edgar Allan Poe enthalten sind, die Richard Corben zwischen 2012 und 2014 adaptiert hat. Da Richard Corbens Gesamtwerk weit über das hinausgeht, was in diesem Beitrag kurz angerissen werden konnte, bleibt abzuwarten, inwieweit noch mehr seiner neueren Werke – wie etwa seine Adaption von William Hope Hodgsons The House on the Borderland – den Weg nach Deutschland finden.

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Bibliotheka Phantastika gratuliert Vicente Segrelles, der heute 75 Jahre alt wird. Als 1982 mit El Pueblo del Fuego Sagrado das erste Album der Comicserie El Mercenario in Spanien auf den Markt kam – das noch im gleichen El Mercenario 1 von Vincente SegrellesJahr als Der Söldner auch in Deutschland erschien –, hatte sich der am 09. September 1940 in Barcelona geborene Vicente Segrelles längst weit über die Grenzen seiner Heimat hinaus einen Namen als Illustrator und Coverzeichner gemacht. Und grafisch war schon dieses erste Album mit seinen wie Gemälde komplett in Öl gemalten Panels ein echter Hingucker (vor allem im Vergleich zu dem, was es ansonsten zu diesem Zeitpunkt im Comicbereich gab); erzählerisch hingegen gab es noch jede Menge Luft nach oben – und das sollte auch in den folgenden Alben so bleiben. Wobei Segrelles selbst sagt, dass er gar kein Interesse daran hatte, komplexe Plots zu entwickeln. Seine Geschichten dienen ihm primär als Vehikel, das zu malen, was er am liebsten malt: grandiose Landschaftspanoramen, Gebäude und Stadtsilhouetten, Waffen und Rüstungen – und leicht oder gar nicht bekleidete Frauen.
El Mercenario, der namenlose (und immer namenlos bleibende) Söldner, lebt etwa um das Jahr 1000 herum im Land der Ewigen Wolken, einem Landstrich irgendwo im Himalya, wo die Berge wie Inseln aus den Wolken herausragen, und dessen Bewohner (zumindest die meisten) nichts von der Welt unter den Wolken wissen. Hier gibt es noch Drachen und andere reptilische Ungeheuer, und hier haben die Abenteuer El Mercenarios ihren Ausgangspunkt, die ihn ab dem zweiten Album La Fórmula (1983; dt. Die Formel des Todes (1985)) im Auftrag des Mönchsordens aus dem Krater auch in die Welt unter den Wolken – z.B. in den arabischen Raum, auf die iberische Halbinsel oder ins Reich der Maya und Tolteken – und sogar auf einen anderen Planeten führen. Auf seinen Reisen, die er meist auf dem Rücken eines Drachen antritt, muss El Mercenario sich nicht nur mit allerlei Schurken, Monstren und anderen Widrigkeiten herumschlagen, sondern auch immer mal wieder eine leicht bekleidete damsel in distress retten, die bei ihm anschließend dank seines ausgeprägten Ehrenkodex in den allerbesten Händen ist …
Die Geschichten an sich sind alle eher schlicht und ausgesprochen linear erzählt, aber vor allem in den späteren Alben – etwa ab Band sechs oder sieben – vermitteln sie gelegentlich aufgrund der zunehmend auftauchenden absurd-phantastischen oder SF-Elemente das Feeling eines ungemein farbigen, einer eigenen Logik gehorchenden Traums. El Mercenario selbst ist ein echter good guy, ein Held, wie er im Buche steht – er weiß um seine Stärken und Schwächen, ist treu, ehrlich und loyal und hätte auch in den Pulps der 30er Jahre eine gute Figur gemacht.
Wenn man El Mercenario unter comicspezifischen Gesichtspunkten betrachtet, fällt auf, dass Segrelles’ Bildern die Dynamik, die z.B. in den Zeichnungen eines Jeff Smith oder eines Hayao Miyazaki zu finden ist, größtenteils abgeht. Vor allem die Panels, in denen die Figuren mehr oder weniger freigestellt vor einem diffusen monochromen Hintergrund agieren, wirken recht statisch, während die großen Panoramen durchweg beeindruckende Schauwerte bieten.
El Mercenario 4 von Vincente SegrellesUnd an besagten Schauwerten mangelt es El Mercenario wirklich nicht; was das angeht, hat Vicente Segrelles in den insgesamt vierzehn von 1982 bis 2014 erschienenen Alben den im ersten Band gesetzten Standard gehalten. Wer sich am schlichten Erzählduktus und dessen etwas trashiger Umsetzung im Stil alter Sword-&-Planet-Stories nicht stört oder ein Faible für Letzteres hat, kann daher durchaus Spaß an den Abenteuern El Mercenarios und seiner gelegentlichen Begleiterinnen Nan-Tay und Ky (die beide keine damsels in distress sind – ganz im Gegenteil) haben bzw. in den teilweise wirklich nur grandios zu nennenden Bildern schwelgen.
In Deutschland hatte El Mercenario zwar einen guten bzw. frühen Start (das erste Album ist wie erwähnt schon kurz nach der Originalausgabe erschienen, und die ersten vier Alben wurden von keinem Geringeren als Wolfgang Hohlbein sogar in Buchform nacherzählt), doch aufgrund von Retuschen, Kürzungen und mehreren Verlagswechseln kann man die erste deutsche Ausgabe eigentlich nur als suboptimal bezeichnen. Die neue, ab 2012 beim neuen Splitter Verlag erschienene (und mittlerweile komplett vorliegende) Ausgabe bietet nicht nur in jedem Album Zusatzmaterial zur Serie, zu Segrelles selbst und zu seinen anderen Arbeiten, sondern mit dem speziell für diese Ausgabe entstandenen vierzehnten Album Der letzte Tag (bei dem es sich um keinen Comic sondern um eine mit ganzseitigen Illustrationen versehene längere Erzählung handelt) auch einen runden Abschluss der Abenteuer El Mercenarios.

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Bibliotheka Phantastika gratuliert Jeff Smith, der heute seinen 55. Geburtstag feiert. Wenn es eine Synthese von klassischem Comic-Erzählen und Fantasy im engeren Sinne gibt, dann findet man sie im Werk des am 27. Februar 1960 in McKees Rocks, Pennsylvania, USA, geborenen Jeff Smith.
Doch nicht nur sein Transfer der Motive der epischen Fantasy – und zwar nicht kurzer Abenteuer, sondern eines langen, epischen Handlungsverlaufs mit einer am Questenmotiv orientierten Struktur – verleihen seinem Hauptwerk Bone (55 Folgen von 1991 bis 2004) eine Sonderstellung: Man könnte in Jeff Smith einen Vorläufer der modernen Webcomic-Künstler und Selfpublisher sehen, denn er brachte sein ambitioniertes Projekt zunächst in Eigenregie heraus – und es verkaufte sich so gut, dass es inzwischen etliche Auflagen (in Farbe, in Sammelbänden, als großer Sammelband) gibt, und natürlich eine Verlagsveröffentlichung.
Bone von Jeff SmithWorum geht es nun bei Bone, und was macht den Comic inhaltlich so besonders? Es gibt das Böse in Form des Herrn der Heuschrecken, der über ein friedliches, leicht mittelalterlich angehauchtes Tal herfällt, es gibt Thorn, die ausersehene Heldin, die ihn vielleicht zurückschlagen könnte, es gibt Drachen, aufmüpfige Insekten, Prophezeiungen und ein Heer von dunklen (aber auch sehr lustigen) Schergen – den Rattenmonstern. Und es gibt die Bone-Brüder, drei knubbelige, weiße Gestalten, die auch aus einem Zeitungscartoon stammen könnten, und die es nach einem kriminellen Fehlschlag des gerissenen Bruders in das doch nicht ganz so friedliche Tal verschlägt. Die Bones sind trotz ihrer Verfremdung (alle anderen Figuren sind realistischer gehaltene Menschen oder … Drachen oder Rattenmonster) Typen wie du und ich, die sich in einer fantastischen Welt wiederfinden (und sie dann auch gehörig aufmischen), und zu den drei unterschiedlichen Brüdern, dem Moby-Dick-süchtigen Fone Bone, dem nicht ganz hellen Smiley Bone und dem mit verbrecherischer Ader ausgestatteten Phoney Bone, kann man schnell eine Verbindung herstellen. Der Abenteuer-Geschichte fehlt es nicht an herzerwärmenden Momenten, skurrilen Nebenfiguren und -handlungen und Humor, und sie schafft es wie kaum ein anderer Comic, die Themen der epischen Fantasy mit viel Verständnis für ihre Wirkweise und sanfter Ironie zu transportieren.
Bone gibt es auch auf Deutsch in Einzel- und Sammelausgaben (ab 1994), genauso die beiden Add-ons Stupid, Stupid Rat-Tails (1998, dt. Bone: Legenden (2011)) und Rose (2000-2002, dt. Rose (2011)).
Nach Bone hat sich Smith mit einem selbst herausgebrachten SF-Comic dem Wissenschaftler Rasl (2008-2012) zugewandt und ist mit dem als Webcomic erscheinenden Tüki (ab 2013) in die prähistorische Welt abgetaucht, womit er weiter auf dem Genre-Gebiet bleibt, das er sich mit Bone so perfekt erschlossen hat.

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SSSS Prolog-CoverDie Welt geht nicht mit einem Knall unter, sondern mit verschärften Hygienevorschriften, panischer Flucht in die Einsamkeit und einem langsamen Ausdröseln der Zivilisation, wenn es nach Stand Still. Stay Silent geht, dem postapokalyptischen Webcomic von Minna Sundberg. Doch etwas hat überlebt, auch Generationen nach der Seuche, die weite Teile der Weltbevölkerung ausgelöscht hat, und es will den wenigen Enklaven, die sich die Menschheit erhalten hat, ans Leder. Die neue Hauptstadt der Rest-Welt heißt im Übrigen Reykjavík, und wie die Isländer haben sich auch die übrigen Skandinavier auf ein etwas einfacheres Leben besonnen und versuchen sich in einer feindseligen Umwelt zu behaupten, von der sie mithilfe des Militärs und (meist finnischer) Magier nur ein paar armselige Flecken zurückerobern konnten.

Stand Still. Stay Silent beginnt mit dem heraufziehenden Weltuntergang und springt dann, als man eine vage Ahnung hat, was passiert, 90 Jahre in die Zukunft, wo sich die Nachkommen der Überlebenden durchschlagen – in einer merkwürdig veränderten und entvölkerten Welt, die als sehr stimmiges und atmosphärisches Konzept präsentiert wird. Zusammen mit einer Truppe junger (weil billiger) Abenteuerwilliger erkundet man die “Stille Welt” jenseits der Gräben, Mauern und anderen Abriegelungen, die die letzten Enklaven umgeben. Aber was genau lauert eigentlich dort draußen? Wovor kann man sich nur schützen, indem man sich nicht mehr regt und keinen Mucks mehr von sich gibt?
Die Beantwortung dieser Fragen ist das hauptsächliche Spannungsmoment von Stand Still. Stay Silent, dessen Geschichte sich ansonsten bisher um das Zusammenfinden des schlecht vorbereiteten Teams und den Aufbruch zum ersten Auftrag rankt. Wie bei Webcomics öfter der Fall, sorgt die fehlende Seitenzahlbegrenzung auch hier dafür, dass die Handlung etwas mäandert und nicht mit maximaler Stringenz durchgezogen wird – die Schrulligkeiten der Figuren, ihre Sprachbarriere und ihre Planlosigkeit werden voll ausgekostet, wohingegen klassische actionreichere Plot-Elemente dünn gesät sind.

SSSS BeispielseiteStand Still. Stay Silent ist Minna Sundbergs zweiter Webcomic, und seit A Redtail’s Dream hat sie ihre künstlerischen Fähigkeiten noch einmal erheblich erweitert: SSSS besticht wie schon der Vorgänger durch beeindruckende Zeichnungen – zu den Naturdarstellungen kommen jetzt auch technische Aspekte und die Verschmelzung von Errungenschaften der fast vergessenen Zivilisation mit vorneuzeitlicher Handwerkskunst. Darüber hinaus wird das Ganze mit wunderschöner Konzeptarbeit präsentiert und durch eingestreute Infoseiten ergänzt, die den Status quo der Stillen Welt erläutern.
Die großartige Optik, das interessante und faszinierende Setting, in dem sich postapokalyptische SF auf ziemlich einzigartige Weise mit nordischer Mythologie verbindet, und die liebenswerten Figuren ergeben zusammen einen der schönsten aktuellen Webcomics. Momentan steht die Geschichte noch relativ am Anfang. Viermal pro Woche gibt es Updates, und das Ganze ist auch als Printausgabe geplant. Wer lieber auf Papier liest als im Netz, hat gerade noch eine Woche lang die Chance, sich den ersten Band über Minnas Crowdfunding-Aktion zuzulegen – das Buch ist schon lange finanziert, und man kann ein paar Extras abstauben und ein künstlerisch herausragendes Projekt unterstützen. Oder sich erst einmal einen Abend freinehmen und auf der Webseite in die Stille Welt eintauchen.

Bisher bei bp vorgestellte Webcomics:
Widdershins
Die Wormworld-Saga
A Redtail’s Dream
Digger
Nimona

Eselsohr Über den Tellerrand

Nach langer Pause lädt Bibliotheka Phantastika wieder einmal zu einem Ausflug in die Welt der Webcomics ein, um ein Werk zu empfehlen, das sich nicht nur in Bezug auf Geschlechterrollen wohltuend wenig um Konventionen schert (bzw. diese munter hinterfragt und durch den Kakao zieht): Noelle Stevensons Nimona.

Nimona von Noelle Stevenson
© Noelle Stevenson (www.gingerhaze.com)

Die Titelheldin Nimona, eine jugendliche Gestaltwandlerin mit sehr destruktiven Tendenzen (“I’m not a kid. I’M A SHARK”), überredet den selbsternannten Schurken Ballister Blackheart, sich von ihr im Kampf gegen die umtriebige Institution of Law Enforcement and Heroics unterstützen zu lassen, die, offiziell im Namen der Regierung, ihr eigenes Süppchen kocht und als Helden vom Dienst den strahlenden Ritter Ambrosius Goldenloin beschäftigt, dem Ballister einst sehr nahestand. Dass bei solch einer Ausgangslage nicht alles so ist, wie es auf den ersten Blick zu sein scheint, versteht sich von selbst, und so beginnt bald eine höchst unterhaltsame tour de force durch eine Welt, die unbefangen eine typisch pseudomittelalterliche Ästhetik (samt Ritterturnier und Kapuzenträgern) mit moderner Technik, zerstörerischen Schusswaffen, großer Regierungsverschwörung und verrückten Wissenschaftlern kombiniert. Manch liebgewonnener Topos sowohl der Fantasy als auch des Superheldengenres wird dabei aufs Korn genommen, und das mit verblüffend einfachen Mitteln: Zeichenstil und Figurenriege sind auf das Nötigste reduziert, wobei ersterer allerdings im Laufe des Comics eine merkliche Verfeinerung erfährt.
Parallel dazu ändern sich auch Inhalt und Atmosphäre Stück für Stück: Herrschen zu Beginn noch schräger Humor (durchaus passend zur Namensgebung der Protagonisten) und eine (wenn auch nur scheinbar) episodische Struktur vor, wird die Haupthandlung im weiteren Verlauf zunehmend ernster und dramatischer, wobei Stevenson sich auch nicht scheut, hier und da kräftig auf die Tränendrüse zu drücken. Wenn man sich durch den Stimmungswandel bereitwillig mitschleifen lässt, dann auch deshalb, weil die Charaktere bei allem Spiel mit den Klischees ihre Individualität und ihren Charme bewahren und man gar nicht umhinkann, wissen zu wollen, wie es mit ihnen ausgeht. Das dürfte man übrigens bald erfahren: Mit dem 11. Kapitel nähert sich Nimona nun der Vollendung, und für 2015 ist eine Veröffentlichung in Buchform geplant.

Bisher bei bp vorgestellte Webcomics:
Widdershins
Die Wormworld-Saga
A Redtail’s Dream
Digger

Eselsohr Über den Tellerrand

Manchmal kann man es sich mit einer Empfehlung ganz einfach machen und darauf setzen, dass nach den ersten fünf Schlagwörtern eh schon alle Interessierten verschwunden sind … um sich auf die erste Seite des großartigen Webcomics Digger von der schon im bp-Seeungeheuer-Reigen vertretenen Künstlerin Ursula Vernon zu stürzen. Wollen wir es mal ausprobieren?
Eine pragmatische Wombat-Heldin auf epischer Queste, Göttergeschichten mit etwas Philosophie durch die Hintertür, Grrlpower (mit ganz viel Grrrrr), Orakelschnecken und tonnenweise zitierwürdige Wortduelle.

What good is a god that does not fossilize?

Für alle, die sich noch immer nicht zum Nachlesen verkrümelt haben, gibt es natürlich auch eine längere Version:
Digger Banner
Digger, die Heldin des gleichnamigen, bereits etwas älteren – und deswegen auch komplett vorliegenden – Webcomics (der sich u.a. mit einem Hugo Award schmücken kann), ist ein Wombat, und auch wenn ich der Meinung bin, dass die Welt auf einen epischen Wombat gewartet hat, so sind sie doch eine Spezies, die nicht weiter vom Abenteuerhelden entfernt sein könnte: Praktisch veranlagt, ohne Geduld für übernatürlichen Firlefanz, und das Glück dieser Erde liegt für sie definitiv in dieser Erde, denn sie sind wahre Meister des fortgeschrittenen Buddelns. Die Zwangsheroisierung Diggers erfolgt dann auch durch einen etwas missglückten Tunnel, der leider gar nicht dort herauskommt, wo er sollte. Es geht nicht mit rechten Dingen zu, als Digger fern der Heimat und ohne Weg zurück strandet, und so bleibt es auch: Sie stolpert von einer Merkwürdigkeit in die nächste und verstrickt sich immer tiefer in eine Geschichte, mit der sie eigentlich – wie sie nie müde wird zu beteuern – gar nichts zu tun hat.

Soweit könnte es, Wombat hin oder her, eine ganz gewöhnliche Questengeschichte sein, doch Ursula Vernon weiß sehr genau, wie sie stereotype Elemente geschickt auf den Kopf stellen kann. Das beginnt mit der Lösung (bis hin zur Umkehrung) von Geschlechterrollen, denn an Diggers Seite sammeln sich eine Menge starker Frauenfiguren, die unter anderem aus einer durchdachten (und auf biologischen Fakten beruhenden – es sind nämlich Hyänen!) matriarchalischen Clan-Gesellschaft stammen, mit der Vernon einige sehr interessante Konstellationen aufzeigt.
Auch sonst kreuzen etliche skurrile Gestalten Diggers Weg, die meisten sind undurchschaubar und widersetzen sich gängigen Klischees, und die eingangs erwähnte Orakelschnecke setzt ganz neue Maßstäbe in Sachen Skurrilität. Andererseits arbeitet Vernon mitunter auch mit klassischen Zutaten wie der Macht von Namen oder Prophezeiungen.

Digger Band 1 von Ursula VernonAuf den schwarz/weißen Seiten von Digger verstecken sich immer wieder charmante Details, der Stil wird insgesamt im Verlauf der Geschichte etwas glatter. Die niedlichen Tierzeichnungen sollten jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass es ein relativ textlastiger Comic ist, der von geistreichen, scharfzüngigen Kommentaren, Wortspielen und nur scheinbar simplen Gedankengängen lebt, die nahezu pratchetteske Betrachtungen zum Zusammenspiel von Göttern und Menschen Wombats und den Welthintergründen enthalten.
Dass Digger die Lachmuskeln strapaziert, heißt auch nicht, dass es bisweilen nicht unheimlich und intensiv werden kann, vor allem die Hintergrundgeschichten, die nach und nach durchscheinen, haben es in sich, auch wenn die Heldin alle übersinnlichen Anwandlungen sehr schnell zu erden versteht. (Pragmatische Wombat-)Philosophie rettet letztlich sogar mehr als einmal den Tag.

Für alle, denen es vor lauter Wombats und Hyänen übrigens von zu vielen felligen Tieren wimmelt, sei erwähnt, dass auch Menschen ihre Rolle zu spielen haben, und nicht nur darin erinnert Digger immer wieder an Jeff Smiths Bone. Vergleichbar ist auch die durchgehend hohe erzählerische Qualität, denn hinter dem Spiel mit den Erwartungen und den Überraschungseffekten steht eine starke Geschichte, die noch dazu eine der schönsten Eigenschaften der Fantasy für sich nutzt: Mit Digger betritt man eine neue Welt, in der jederzeit ALLES möglich ist.
Jetzt aber schnell zur ersten Seite! Solche Comic-Perlen findet man nicht alle Tage, weder im Netz noch in gedruckter Form …

bisher bei bp empfohlene Webcomics:
Widdershins
Wormworld-Saga
A Redtail’s Dream

Eselsohr Über den Tellerrand

Wer neuem Lesestoff in Form von Webcomics nicht abgeneigt ist, will vielleicht einen Ausflug nach Finnland wagen: Minna Sundbergs A Redtail’s Dream ist eine optisch atemberaubende Abenteuergeschichte in einer surrealen Traumwelt mit Motiven aus der Kalevala.
Ein junger Fuchs bekommt von seiner mythischen Verwandtschaft die Aufsicht über das Nordlicht aufs Auge gedrückt, und prompt geht es fürchterlich schief. Ein ganzes Örtchen verschwindet, die Bewohner sind schon auf halbem Weg nach Tuonela (dem Totenreich der finnischen Mythologie). Das Füchslein möchte sich keine Blöße geben und findet glücklicherweise den jungen Hannu und seinen Hund Ville, die bei dem Malheur gerade nicht zu Hause waren, und es verpflichtet die beiden, den Dorfbewohnern in der seltsamen Zwischenwelt, in der sie sich befinden und die nach völlig eigenen Regeln tickt, einen Weg zurück in ihre Realität zu bahnen. Dazu müssen der enthusiastische Ville (der in der Traumwelt sprechen kann) und der eher unwillige Hannu einige Aufgaben erledigen.

A Redtail's Dream Kapitel IDie (zunehmend komplizierter werdenden, aber niemals wirklich komplexen) Questen sind weniger epischer Natur, sondern leben von den Neckereien zwischen dem jungen Mann und seinem Hund und ihrem unterschiedlichem Wesen, denn der Hund Ville stellt sich als deutlich menschenfreundlicher als der mindestens soziophobe Hannu heraus, dessen Charakter die Heldenrolle absolut widerspricht und der auch immer wieder damit kollidiert. Die einzig tiefgehende Beziehung, die Hannu überhaupt zulässt, ist die zu Ville. Dazu kommen die “profanen” Begegnungen mit den verschiedenen Dorfbewohnern und die mythischen Übertöne, die sich auch direkt in Gestalt von Tiergeistern und anderen Manifestationen äußern.
Große Erklärungen und Hintergründe gibt es eher selten, doch es trägt auch zum Zauber der Traumwelt bei, dass man als LeserIn genauso wie die Figuren erst einmal hinnimmt, was sich ereignet.
Nach einem eigenwilligen Prolog braucht die Geschichte etwa hundert Seiten, bis sie Fahrt aufnimmt. Das eine oder andere Schwelgen in den charakterlichen Eigenheiten der Protagonisten hätte man vielleicht knapper abhandeln können, doch was schon von Anfang an einen regelrechten Bann ausübt, sind die Bilder – Minna Sundbergs Gespür für Natur, Tiere, Landschaften, Witterung und Nachthimmel ist beinahe unheimlich (und wird im Laufe der mittlerweile mehr als 400 Seiten des Comics stetig besser). Mühelos beschwört sie damit zwischen herbstlichen und winterlichen Nadelwäldern, Klippen und Seenlandschaften die zeitlose Traumwelt in manchmal beinahe monochromen Pastelltönen herauf. Ein Blick auf die wunderschön komponierten Seiten des Comics lohnt sich, selbst wenn man nicht der größte Fan charakterbasierter Geschichten ist.

King of the forest, aus A Redtail's Dream Kapitel IV

A Redtail’s Dream ist bis zum sechsten von geplanten acht Kapiteln gediehen und wird momentan sechsmal die Woche um eine Seite erweitert. Minna Sundberg bezeichnet A Redtail’s Dream übrigens als Übungscomic für ihr eigentliches Herzensprojekt, doch über diesen Status dürfte es mit solchen Seiten allemal hinaus sein.
Auch wenn A Redtail’s Dream erzählerisch nicht 100% geschliffen ist (und die Übersetzung aus dem Finnischen ins Englische hie und da schlingert) lohnt es sich für jeden Comicfreund mit einer Schwäche für liebevoll dargestellte Tiere, berauschende Bildwelten, schrullige Ideen und den Bezug auf eine Mythologie, die in der Fantasy längst nicht so häufig Ideengeber war wie etwa keltische oder nordische Mythen. Ob die abschließenden Kapitel Hannu zu einem warmherzigeren Gesellen machen und die sich andeutenden Brüche in den linearen Questen sich ausweiten, muss sich noch erweisen; dass Minna Sundberg eine Comic-Künstlerin ist, die man im Auge behalten sollte, ist dagegen längst keine Frage mehr.
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Übersicht über die bisherigen Kapitel

bisher bei bp empfohlene Webcomics:
Widdershins
Wormworld-Saga

Eselsohr Über den Tellerrand