Category: Eselsohr

Oscar Wilde ist Schriftsteller, und wie sein Namenspate genießt auch er gern das Leben in vollen Zügen, doch nach einem erschütternden Ereignis (über das wir nur ein paar vage Hinweise erfahren) zieht es ihn in die Einsamkeit, aufs Land, in ein Örtchen namens Podunk mitten in Oklahoma, wo er von einer gewissen B. Jaga ein unschlagbar günstiges Haus mieten konnte. Und wie das mit unschlagbar günstigen Angeboten so ist, hat das Ganze einen Haken: Es spukt.
Podunk ist ein merkwürdiges Kaff, in dem nichts und niemand ist, was er oder sie zu sein scheint, in dem man nur ein paar Meter in den Wald spazieren muss, um sich plötzlich sprechenden Bären, Sagengestalten oder hilfreichen Spinnen gegenüber zu finden, und manchmal besuchen sie einen sogar auf der Türschwelle. Oscar verdient einen Preis für die stoische Ruhe, mit der er diese Dinge hinnimmt und Podunk zunächst treu bleibt, statt schreiend davonzulaufen.

Mit seinen Rückgriffen auf die örtliche Mythologie einerseits und das allgemein bekannte Figurenrepertoire des Genres andererseits könnte man Wilde Life als Urban-Fantasy-Comic bezeichnen, nur dass Podunk und “urban” unter keinen Umständen in einem Satz vorkommen können. Rural Fantasy also, in der die Natur, die Wildnis, niemals weit weg ist, und zwar äußerlich wie innerlich.
Neben Oscar, dem Tagebuch führenden Helden, der doch nichts aus seinem Inneren preisgibt und bei dem nach und nach der Verdacht aufkommt, dass er zwar wie der einzig Normale im übernatürlichen Hexenkessel seines neuen Zuhauses wirkt, eigentlich aber eine mindestens ebenso merkwürdige Geschichte wie seine neuen Nachbarn mit sich herumschleppt, kreist die Geschichte um den bindungsgestörten Teenager Cliff und die sympathische, aber nur selten solide Mathematikerin Sylvia.

Wilde Life Chapter 4 von Pascalle LepasObwohl Wilde Life schon ein Jahr (mit zuverlässigen 2-3 Updates pro Woche) läuft, hat man das Gefühl, dass die Erzählung sich noch entfaltet, die Figuren sich noch einfinden und die Mythologie, die auch stark auf indianische Überlieferungen gründet, sich ganz langsam ausweitet. Es ist aber kein schlechtes Gefühl – das reduzierte Tempo kommt dem Konzept der “Rural Fantasy” sehr entgegen.
Schöpferin Pascalle Lepas erweist sich dabei als versierte und fokussierte Erzählerin: In den inzwischen vier Kapiteln von Wilde Life gibt es jeweils einen definierten Handlungsbogen, der das Mysterium von Podunk – und auch das Mysterium dessen, was Oscar dort eigentlich wirklich zu finden hofft – ergründet. Die ausgeklügelte Konstruktion der Kapitel macht zuversichtlich, dass Lepas ihren Stoff gut im Griff hat und ihn nicht zu sehr wuchern lässt, wie es im Webcomic häufig vorkommt. Dazu kommt ihr Händchen für visuelle Ästhetik, sei es mit den clever konstruierten Panels, die durch ihr Foreshadowing die Stimmung einer Szene oder eines Kapitels mit oft sinistren Untertönen in eine andere Richtung kippen lassen, oder die atmosphärischen Landschaftsbilder, mit denen sie die Weite und Einsamkeit von Podunk heraufbeschwört.
Dass sie vorher bereits ein extrem ausuferndes SF-Projekt zu Ende geführt hat, sorgt sicher dafür, dass man es in Wilde Life mit einer gereiften Erzählerin zu tun hat, die ihr Handwerk beherrscht.

Wilde Life ist ein aus dem Leben gegriffener Comic, der moderne Technik, modernen Sprachgebrauch und die entsprechenden Verhaltensweisen wie selbstverständlich in die entrückte Atmosphäre von Podunk einbaut. Dass man in der Pampa sitzt, heißt ja noch lange nicht, dass man kein Tinder benutzen kann, richtig?
Ein weiterer Pluspunkt ist der warmherzige und zugleich trockene Humor, der Wilde Life durchdringt und Oscar hilft, mit den ungewöhnlichen Situationen klarzukommen, in die er am laufenden Band stolpert. Das und Oscars Herangehensweise, das Übernatürliche einfach in seinen Alltag zu integrieren, helfen dem Leser auch dabei, den ganzen Wahnwitz zu schlucken, der über ihn herfällt.

Banner Wilde Life
Demnächst werden die ersten Kapitel von Wilde Life wohl auch in Buchform erscheinen (via Crowdfunding), und bis dahin lohnt es sich, ein bisschen in diesen zurückgenommenen, thematisch ganz leicht neben dem Gewohnten liegenden Webcomic hineinzuschmökern.

Eselsohr Über den Tellerrand

Bücherwelten von Artlit
© Johannes Follmer, Klaus Raasch / Edition Artlit

Gewöhnlich geht es auf Bibliotheka Phanstastika um komplette Bücher, doch davon, dass es manchmal einzelne Sätze sind, die einen bleibenden Eindruck hinterlassen, legen die Signaturen vieler Mitglieder unseres Forums beredt Zeugnis ab. Kein Wunder also, dass auch Künstler sich von aus dem Werkkontext gelösten Zitaten inspirieren lassen. Ein eindrucksvolles Beispiel dafür sind die Drucke, die unter dem Motto “Wenn Worte Kunst werden” in der Edition Artlit in einer enormen Bandbreite von Stilrichtungen und künstlerischen Techniken erscheinen. Von Shakespeare bis Strindberg sind alle möglichen Autoren der Weltliteratur mit sehr unterschiedlichen Äußerungen vertreten, von denen einige durchaus auch den eingefleischten Phantastikfan ansprechen mögen.

Wagnis Europa von Artlit
© Karin Bauer / Edition Artlit

Das Wechselspiel zwischen Literatur und bildender Kunst gestattet dabei ganz andere Akzentuierungen, als sie bei einem typographisch nicht weiter hervorgehobenen Satz innerhalb eines längeren Texts möglich oder gewollt sind. In manchem Fall wird durch die Verknüpfung von Bild und Text sogar eine zusätzliche Aussage an das Ursprungszitat herangetragen, das so eine Umdeutung und Aktualisierung erfahren kann, wie etwa bei Karin Bauers Umsetzung von Schillers Ode an die Freude, deren Berechtigung als Hymne der (zumindest aus der Außensicht) paradiesischen, aber nicht für jeden erreichbaren Europäischen Union kritisch hinterfragt wird.

Drachen und Prinzessinnen von Artlit
© Malte Knaack / Edition Artlit

Wenngleich nicht alle bei Artlit versammelten Werke diese dezidierte politische Dimension haben, schwingt doch in jedem eine Nachdenklichkeit mit, die auch den Betrachter zur genauen Auseinandersetzung noch mit kleinsten Formulierungen anregt und einen Gegenpol zu der Neigung bildet, sich von schnell verschlungenem “Lesefutter” eher oberflächlich unterhalten zu lassen. Sich auf diese andere Art der Wertschätzung von Literatur zu besinnen, kann in Zeiten eines immer schnelllebigeren Buchmarkts sicher nicht schaden. Und wer weiß? Vielleicht können die Bilder auf artlit.de ja auch dazu motivieren, sich Gedanken darüber zu machen, welches noch fehlende Zitat man selbst gern einmal kreativ umsetzen würde …

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SSSS Prolog-CoverDie Welt geht nicht mit einem Knall unter, sondern mit verschärften Hygienevorschriften, panischer Flucht in die Einsamkeit und einem langsamen Ausdröseln der Zivilisation, wenn es nach Stand Still. Stay Silent geht, dem postapokalyptischen Webcomic von Minna Sundberg. Doch etwas hat überlebt, auch Generationen nach der Seuche, die weite Teile der Weltbevölkerung ausgelöscht hat, und es will den wenigen Enklaven, die sich die Menschheit erhalten hat, ans Leder. Die neue Hauptstadt der Rest-Welt heißt im Übrigen Reykjavík, und wie die Isländer haben sich auch die übrigen Skandinavier auf ein etwas einfacheres Leben besonnen und versuchen sich in einer feindseligen Umwelt zu behaupten, von der sie mithilfe des Militärs und (meist finnischer) Magier nur ein paar armselige Flecken zurückerobern konnten.

Stand Still. Stay Silent beginnt mit dem heraufziehenden Weltuntergang und springt dann, als man eine vage Ahnung hat, was passiert, 90 Jahre in die Zukunft, wo sich die Nachkommen der Überlebenden durchschlagen – in einer merkwürdig veränderten und entvölkerten Welt, die als sehr stimmiges und atmosphärisches Konzept präsentiert wird. Zusammen mit einer Truppe junger (weil billiger) Abenteuerwilliger erkundet man die “Stille Welt” jenseits der Gräben, Mauern und anderen Abriegelungen, die die letzten Enklaven umgeben. Aber was genau lauert eigentlich dort draußen? Wovor kann man sich nur schützen, indem man sich nicht mehr regt und keinen Mucks mehr von sich gibt?
Die Beantwortung dieser Fragen ist das hauptsächliche Spannungsmoment von Stand Still. Stay Silent, dessen Geschichte sich ansonsten bisher um das Zusammenfinden des schlecht vorbereiteten Teams und den Aufbruch zum ersten Auftrag rankt. Wie bei Webcomics öfter der Fall, sorgt die fehlende Seitenzahlbegrenzung auch hier dafür, dass die Handlung etwas mäandert und nicht mit maximaler Stringenz durchgezogen wird – die Schrulligkeiten der Figuren, ihre Sprachbarriere und ihre Planlosigkeit werden voll ausgekostet, wohingegen klassische actionreichere Plot-Elemente dünn gesät sind.

SSSS BeispielseiteStand Still. Stay Silent ist Minna Sundbergs zweiter Webcomic, und seit A Redtail’s Dream hat sie ihre künstlerischen Fähigkeiten noch einmal erheblich erweitert: SSSS besticht wie schon der Vorgänger durch beeindruckende Zeichnungen – zu den Naturdarstellungen kommen jetzt auch technische Aspekte und die Verschmelzung von Errungenschaften der fast vergessenen Zivilisation mit vorneuzeitlicher Handwerkskunst. Darüber hinaus wird das Ganze mit wunderschöner Konzeptarbeit präsentiert und durch eingestreute Infoseiten ergänzt, die den Status quo der Stillen Welt erläutern.
Die großartige Optik, das interessante und faszinierende Setting, in dem sich postapokalyptische SF auf ziemlich einzigartige Weise mit nordischer Mythologie verbindet, und die liebenswerten Figuren ergeben zusammen einen der schönsten aktuellen Webcomics. Momentan steht die Geschichte noch relativ am Anfang. Viermal pro Woche gibt es Updates, und das Ganze ist auch als Printausgabe geplant. Wer lieber auf Papier liest als im Netz, hat gerade noch eine Woche lang die Chance, sich den ersten Band über Minnas Crowdfunding-Aktion zuzulegen – das Buch ist schon lange finanziert, und man kann ein paar Extras abstauben und ein künstlerisch herausragendes Projekt unterstützen. Oder sich erst einmal einen Abend freinehmen und auf der Webseite in die Stille Welt eintauchen.

Bisher bei bp vorgestellte Webcomics:
Widdershins
Die Wormworld-Saga
A Redtail’s Dream
Digger
Nimona

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Nach langer Pause lädt Bibliotheka Phantastika wieder einmal zu einem Ausflug in die Welt der Webcomics ein, um ein Werk zu empfehlen, das sich nicht nur in Bezug auf Geschlechterrollen wohltuend wenig um Konventionen schert (bzw. diese munter hinterfragt und durch den Kakao zieht): Noelle Stevensons Nimona.

Nimona von Noelle Stevenson
© Noelle Stevenson (www.gingerhaze.com)

Die Titelheldin Nimona, eine jugendliche Gestaltwandlerin mit sehr destruktiven Tendenzen (“I’m not a kid. I’M A SHARK”), überredet den selbsternannten Schurken Ballister Blackheart, sich von ihr im Kampf gegen die umtriebige Institution of Law Enforcement and Heroics unterstützen zu lassen, die, offiziell im Namen der Regierung, ihr eigenes Süppchen kocht und als Helden vom Dienst den strahlenden Ritter Ambrosius Goldenloin beschäftigt, dem Ballister einst sehr nahestand. Dass bei solch einer Ausgangslage nicht alles so ist, wie es auf den ersten Blick zu sein scheint, versteht sich von selbst, und so beginnt bald eine höchst unterhaltsame tour de force durch eine Welt, die unbefangen eine typisch pseudomittelalterliche Ästhetik (samt Ritterturnier und Kapuzenträgern) mit moderner Technik, zerstörerischen Schusswaffen, großer Regierungsverschwörung und verrückten Wissenschaftlern kombiniert. Manch liebgewonnener Topos sowohl der Fantasy als auch des Superheldengenres wird dabei aufs Korn genommen, und das mit verblüffend einfachen Mitteln: Zeichenstil und Figurenriege sind auf das Nötigste reduziert, wobei ersterer allerdings im Laufe des Comics eine merkliche Verfeinerung erfährt.
Parallel dazu ändern sich auch Inhalt und Atmosphäre Stück für Stück: Herrschen zu Beginn noch schräger Humor (durchaus passend zur Namensgebung der Protagonisten) und eine (wenn auch nur scheinbar) episodische Struktur vor, wird die Haupthandlung im weiteren Verlauf zunehmend ernster und dramatischer, wobei Stevenson sich auch nicht scheut, hier und da kräftig auf die Tränendrüse zu drücken. Wenn man sich durch den Stimmungswandel bereitwillig mitschleifen lässt, dann auch deshalb, weil die Charaktere bei allem Spiel mit den Klischees ihre Individualität und ihren Charme bewahren und man gar nicht umhinkann, wissen zu wollen, wie es mit ihnen ausgeht. Das dürfte man übrigens bald erfahren: Mit dem 11. Kapitel nähert sich Nimona nun der Vollendung, und für 2015 ist eine Veröffentlichung in Buchform geplant.

Bisher bei bp vorgestellte Webcomics:
Widdershins
Die Wormworld-Saga
A Redtail’s Dream
Digger

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Manchmal kann man es sich mit einer Empfehlung ganz einfach machen und darauf setzen, dass nach den ersten fünf Schlagwörtern eh schon alle Interessierten verschwunden sind … um sich auf die erste Seite des großartigen Webcomics Digger von der schon im bp-Seeungeheuer-Reigen vertretenen Künstlerin Ursula Vernon zu stürzen. Wollen wir es mal ausprobieren?
Eine pragmatische Wombat-Heldin auf epischer Queste, Göttergeschichten mit etwas Philosophie durch die Hintertür, Grrlpower (mit ganz viel Grrrrr), Orakelschnecken und tonnenweise zitierwürdige Wortduelle.

What good is a god that does not fossilize?

Für alle, die sich noch immer nicht zum Nachlesen verkrümelt haben, gibt es natürlich auch eine längere Version:
Digger Banner
Digger, die Heldin des gleichnamigen, bereits etwas älteren – und deswegen auch komplett vorliegenden – Webcomics (der sich u.a. mit einem Hugo Award schmücken kann), ist ein Wombat, und auch wenn ich der Meinung bin, dass die Welt auf einen epischen Wombat gewartet hat, so sind sie doch eine Spezies, die nicht weiter vom Abenteuerhelden entfernt sein könnte: Praktisch veranlagt, ohne Geduld für übernatürlichen Firlefanz, und das Glück dieser Erde liegt für sie definitiv in dieser Erde, denn sie sind wahre Meister des fortgeschrittenen Buddelns. Die Zwangsheroisierung Diggers erfolgt dann auch durch einen etwas missglückten Tunnel, der leider gar nicht dort herauskommt, wo er sollte. Es geht nicht mit rechten Dingen zu, als Digger fern der Heimat und ohne Weg zurück strandet, und so bleibt es auch: Sie stolpert von einer Merkwürdigkeit in die nächste und verstrickt sich immer tiefer in eine Geschichte, mit der sie eigentlich – wie sie nie müde wird zu beteuern – gar nichts zu tun hat.

Soweit könnte es, Wombat hin oder her, eine ganz gewöhnliche Questengeschichte sein, doch Ursula Vernon weiß sehr genau, wie sie stereotype Elemente geschickt auf den Kopf stellen kann. Das beginnt mit der Lösung (bis hin zur Umkehrung) von Geschlechterrollen, denn an Diggers Seite sammeln sich eine Menge starker Frauenfiguren, die unter anderem aus einer durchdachten (und auf biologischen Fakten beruhenden – es sind nämlich Hyänen!) matriarchalischen Clan-Gesellschaft stammen, mit der Vernon einige sehr interessante Konstellationen aufzeigt.
Auch sonst kreuzen etliche skurrile Gestalten Diggers Weg, die meisten sind undurchschaubar und widersetzen sich gängigen Klischees, und die eingangs erwähnte Orakelschnecke setzt ganz neue Maßstäbe in Sachen Skurrilität. Andererseits arbeitet Vernon mitunter auch mit klassischen Zutaten wie der Macht von Namen oder Prophezeiungen.

Digger Band 1 von Ursula VernonAuf den schwarz/weißen Seiten von Digger verstecken sich immer wieder charmante Details, der Stil wird insgesamt im Verlauf der Geschichte etwas glatter. Die niedlichen Tierzeichnungen sollten jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass es ein relativ textlastiger Comic ist, der von geistreichen, scharfzüngigen Kommentaren, Wortspielen und nur scheinbar simplen Gedankengängen lebt, die nahezu pratchetteske Betrachtungen zum Zusammenspiel von Göttern und Menschen Wombats und den Welthintergründen enthalten.
Dass Digger die Lachmuskeln strapaziert, heißt auch nicht, dass es bisweilen nicht unheimlich und intensiv werden kann, vor allem die Hintergrundgeschichten, die nach und nach durchscheinen, haben es in sich, auch wenn die Heldin alle übersinnlichen Anwandlungen sehr schnell zu erden versteht. (Pragmatische Wombat-)Philosophie rettet letztlich sogar mehr als einmal den Tag.

Für alle, denen es vor lauter Wombats und Hyänen übrigens von zu vielen felligen Tieren wimmelt, sei erwähnt, dass auch Menschen ihre Rolle zu spielen haben, und nicht nur darin erinnert Digger immer wieder an Jeff Smiths Bone. Vergleichbar ist auch die durchgehend hohe erzählerische Qualität, denn hinter dem Spiel mit den Erwartungen und den Überraschungseffekten steht eine starke Geschichte, die noch dazu eine der schönsten Eigenschaften der Fantasy für sich nutzt: Mit Digger betritt man eine neue Welt, in der jederzeit ALLES möglich ist.
Jetzt aber schnell zur ersten Seite! Solche Comic-Perlen findet man nicht alle Tage, weder im Netz noch in gedruckter Form …

bisher bei bp empfohlene Webcomics:
Widdershins
Wormworld-Saga
A Redtail’s Dream

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In  der zweiten Ausgabe unserer Jubiläumsaktion, zehn Kurzgeschichten in jeweils zehn Sätzen vorzustellen, widmen wir uns einem Autor, der die Grenze zwischen “Hoch-” und “Genreliteratur”, die so mancher Feuilletonist gerne scharf gezogen sehen würde, ganz erstaunlich verwischt: Jorge Luis Borges.

Jorge Luis Borges: Tlön, Uqbar, Orbis Tertius
in: Jorge Luis Borges: Fiktionen, 1992, 978-3596105816

Jorge Luis Borges ist den meisten wahrscheinlich als Autor der Erzählung Die Bibliothek von Babel ein Begriff, auf die wiederum in Umberto Ecos Der Name der Rose angespielt wird.
Borges verfasste jedoch eine ganz Reihe wunderbarer Erzählungen; eine davon, nämlich Tlön, Uqbar, Orbis Tertius sei hier näher vorgestellt. Mit der Entdeckung eines eigentlich unmöglichen Artikels über das Land Uqbar in einer (wie kann es anders sein?) alten Ausgabe der Anglo-American Cyclopedia in den 1940ern beginnt eine literarische Spurensuche nach Hinweisen, die die Faszination der Recherche, des Stöberns nach mehr Information und des Aufspürens von Querverweisen wunderbar einfängt. Was nicht zuletzt an Borges’ Sprachgefühl liegt, das einen Eintauchen lässt in die Nachforschungen zu Uqbar und den Hintergründen der wissenschaftlichen Abhandlungen zu diesem unbekannten Land, seiner Gesellschaft und Kultur.
Zugleich bricht mit dieser scheinbar banalen Entdeckung aber auch das Phantastische über Ich-Erzähler sowie Leser und Leserin herein, das zunehmend schwindelerregende Ausmaße annimmt. Denn – so viel sei verraten – der nur in dieser Ausgabe enthaltene Artikel ist keineswegs ein Einzelfall und schon gar kein Versehen gewesen. Die Erzählung ist ein wunderbares Beispiel für eines der zentralen Themen in Borges’ Œuvre, nämlich die Verflechtung von Realität und Fiktion sowie das Eigenleben, das (erfundene) literarische Werke entwickeln können. Schließlich spielt Tlön, Uqbar, Orbis Tertius selbst damit, dass Autor und Erzähler ineinanderfließen, ebenso wie sich fiktive Referenzwerke zu historischen gesellen, sodass die Spurensuche zu einer wahrhaft phantastischen wird. Wem das noch nicht genug Meta-Ebenen sind, der kann sich noch den Spaß machen, die Anspielungen auf philosophische und epistemologische Strömungen weiterzuverfolgen.
Tlön, Uqbar, Orbis Tertius ist zuletzt in deutscher Sprache im Sammelband Fiktionen erschienen, der unter anderem auch Die Bibliothek von Babel enthält sowie weitere bedeutende Erzählungen, etwa Der Garten der Pfade, die sich verzweigen oder Die kreisförmigen Ruinen.

 

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Für einen echten Buchwurm geht doch nichts über Bücher. Geht einem da nicht das Herz auf, wenn man ein Buch findet, in dem es um Bücher geht? Hier kommen fünf Bücher über Bücher!

1. Ray Bradbury: Fahrenheit 451
Fahrenheit 451 von Ray BradburyFeuerwehrmann Guy Montag hat eine Aufgabe: Bücher beschlagnahmen und verbrennen. Einfach genug, wäre da nicht sein plötzlich gewecktes Interesse an dem verbotenen Gut. Statt die vermeintlichen Unglücksbringer zu verbrennen, hortet er sie im Geheimen und begibt sich damit in Gefahr.
Ein Klassiker im Regal für dystopische Science-Fiction.

2. Jasper Fforde: Thursday Next Reihe
Der Fall Jane Eyre - Jasper Fforde In der Welt von Thursday Next ist die Literatur allgegenwärtig und LiteraturAgenten wie Thursday arbeiten mit Beharrlichkeit daran, dass Kriminelle keine Verbrechen an den literarischen Meisterwerken begehen.

3. Cornelia Funke: Tintenwelt
Tintenherz von Cornelia FunkeWäre es nicht manchmal traumhaft, wenn Geschichten tatsächlich zum Leben erwachen könnten? In Cornelia Funkes Tintenwelt gibt es Menschen, Vorleser, die die Gabe besitzen, Protagonisten und Gegenstände aus Büchern herauszulesen.

4. Walter Moers: Die Stadt der träumenden Bücher
Die Stadt der träumenden Bücher von Walter MoersIn diesem Buch dreht sich alles um Bücher. Eine Stadt, die für Bücher und von Büchern lebt, wo Buchjäger nach alten Ausgaben suchen und dafür jede Gefahr in Kauf nehmen. Mehr Buch über Bücher kann es fast nicht geben.

5. Arturo Perez-Reverte: Der Club Dumas
Der Club Dumas von Antonio Perez-ReverteKaum zu glauben, aber wahr, so eine Leidenschaft für Bücher birgt mitunter große Gefahren. Davon kann sich Buchjäger Lucas Corso selbst ein Bild machen, als ihm zwei Bücher okkulten Inhalts in die Hände fallen, deren Echtheit er überprüfen soll. Ehe er es sich versieht, gerät er jedoch in ein gefährliches Durcheinander aus okkulten Machenschaften und Intrigen.

Teilweise dürften diese Beispiele einer recht breiten Masse hier bekannt sein, handelt es sich dabei doch um sehr prominente Bücher, die auch in der Bibliotheka Phantastika zur ein oder anderen Gelegenheit bereits vorgestellt wurden. Aber kann das schon alles gewesen sein, was die Phantastik an Büchern über Bücher zu bieten hat? Oder liegen euch vielleicht noch andere Titel auf der Zunge?

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Forumosen wissen mehr – in diesem Fall, dass sie sich auf eine weitere Geschichte von Maike Claußnitzer (aka Wulfila) freuen können, und zwar gleich einen ganzen Roman: Tricontium.

Tricontium von Maike ClaußnitzerWas geht vor im gleichnamigen Landstrich in einem (mit Geistern, Kobolden und Trollen aufpolierten) frühmittelalterlichen Deutschland, in dem die Präsenz der Römer noch nachwirkt, der nächste Überfall von Reiterhorden aus dem Osten nie fern ist und nichts dagegen spricht, im Ernstfall Mars und den heiligen Nikolaus anzubeten und zudem noch einen Zauberer zurate zu ziehen?

Gerechtigkeit ist oft nicht mehr als ein frommer Wunsch – das weiß Herrad, die Richterin, die mit ihrer Versetzung in das abgelegene Tricontium hadert, ebenso gut wie Ardeija, der drachenzähmende Hauptmann ihrer Krieger, oder Wulfila, der Dieb, der Jahre nach seiner Verurteilung unerwartet wieder in ihr Leben tritt. Doch als sich in den Grenzlanden Geisterspuk und gewaltsame Übergriffe zu häufen beginnen, wollen die drei nicht tatenlos zusehen, auch wenn bald keine Menge Tee mehr ausreicht, um gelassen zu bleiben. Denn die Hintergründe der rätselhaften Vorgänge scheinen in einer Zeit zu liegen, die alle gern vergessen würden: Den düsteren Tagen des Bürgerkriegs …

Als ich Tricontium gelesen habe, zu einer Zeit, wo von Buchprojekten noch gar nicht die Rede war, habe ich mich bereits darauf gefreut, eines Tages in gedruckter Form ein Wiedersehen mit den Figuren feiern zu dürfen, und die besten Szenen noch einmal zu erleben, die viel zu schade für nur eine Lektüre sind. Und Illutration zum Roman Tricontium von Maike Claußnitzerjetzt ist es so weit!
Mit Tricontium kann man in eine bunte, detailreiche Welt abtauchen, die zwar nicht gänzlich unvertraut ist, aber dennoch eine Fülle von Entdeckungen bietet, und eine kleine, feine Geschichte erleben, die ganz von den wunderbaren und einprägsamen Charakteren getragen wird, die zwar mitunter herumsitzen und Tee trinken, es aber eigentlich faustdick hinter den Ohren haben. Und wer nach Tricontium reist, wird nicht nur mit diesen Figuren mitfiebern und staunen, sondern vor allem oft schmunzeln und herzlich lachen, wenn Drachen durch die Szenerie wuseln und das ein oder andere Diebesgut seine Tücken offenbart …

Tricontium ist ab sofort in der 666 Seiten starken und von moyashi aufwendig gestalteten Printausgabe bei Amazon zu bestellen, außerdem gibt es eine DRM-freie eBook-Ausgabe (Leseprobe: hier).

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Wer neuem Lesestoff in Form von Webcomics nicht abgeneigt ist, will vielleicht einen Ausflug nach Finnland wagen: Minna Sundbergs A Redtail’s Dream ist eine optisch atemberaubende Abenteuergeschichte in einer surrealen Traumwelt mit Motiven aus der Kalevala.
Ein junger Fuchs bekommt von seiner mythischen Verwandtschaft die Aufsicht über das Nordlicht aufs Auge gedrückt, und prompt geht es fürchterlich schief. Ein ganzes Örtchen verschwindet, die Bewohner sind schon auf halbem Weg nach Tuonela (dem Totenreich der finnischen Mythologie). Das Füchslein möchte sich keine Blöße geben und findet glücklicherweise den jungen Hannu und seinen Hund Ville, die bei dem Malheur gerade nicht zu Hause waren, und es verpflichtet die beiden, den Dorfbewohnern in der seltsamen Zwischenwelt, in der sie sich befinden und die nach völlig eigenen Regeln tickt, einen Weg zurück in ihre Realität zu bahnen. Dazu müssen der enthusiastische Ville (der in der Traumwelt sprechen kann) und der eher unwillige Hannu einige Aufgaben erledigen.

A Redtail's Dream Kapitel IDie (zunehmend komplizierter werdenden, aber niemals wirklich komplexen) Questen sind weniger epischer Natur, sondern leben von den Neckereien zwischen dem jungen Mann und seinem Hund und ihrem unterschiedlichem Wesen, denn der Hund Ville stellt sich als deutlich menschenfreundlicher als der mindestens soziophobe Hannu heraus, dessen Charakter die Heldenrolle absolut widerspricht und der auch immer wieder damit kollidiert. Die einzig tiefgehende Beziehung, die Hannu überhaupt zulässt, ist die zu Ville. Dazu kommen die “profanen” Begegnungen mit den verschiedenen Dorfbewohnern und die mythischen Übertöne, die sich auch direkt in Gestalt von Tiergeistern und anderen Manifestationen äußern.
Große Erklärungen und Hintergründe gibt es eher selten, doch es trägt auch zum Zauber der Traumwelt bei, dass man als LeserIn genauso wie die Figuren erst einmal hinnimmt, was sich ereignet.
Nach einem eigenwilligen Prolog braucht die Geschichte etwa hundert Seiten, bis sie Fahrt aufnimmt. Das eine oder andere Schwelgen in den charakterlichen Eigenheiten der Protagonisten hätte man vielleicht knapper abhandeln können, doch was schon von Anfang an einen regelrechten Bann ausübt, sind die Bilder – Minna Sundbergs Gespür für Natur, Tiere, Landschaften, Witterung und Nachthimmel ist beinahe unheimlich (und wird im Laufe der mittlerweile mehr als 400 Seiten des Comics stetig besser). Mühelos beschwört sie damit zwischen herbstlichen und winterlichen Nadelwäldern, Klippen und Seenlandschaften die zeitlose Traumwelt in manchmal beinahe monochromen Pastelltönen herauf. Ein Blick auf die wunderschön komponierten Seiten des Comics lohnt sich, selbst wenn man nicht der größte Fan charakterbasierter Geschichten ist.

King of the forest, aus A Redtail's Dream Kapitel IV

A Redtail’s Dream ist bis zum sechsten von geplanten acht Kapiteln gediehen und wird momentan sechsmal die Woche um eine Seite erweitert. Minna Sundberg bezeichnet A Redtail’s Dream übrigens als Übungscomic für ihr eigentliches Herzensprojekt, doch über diesen Status dürfte es mit solchen Seiten allemal hinaus sein.
Auch wenn A Redtail’s Dream erzählerisch nicht 100% geschliffen ist (und die Übersetzung aus dem Finnischen ins Englische hie und da schlingert) lohnt es sich für jeden Comicfreund mit einer Schwäche für liebevoll dargestellte Tiere, berauschende Bildwelten, schrullige Ideen und den Bezug auf eine Mythologie, die in der Fantasy längst nicht so häufig Ideengeber war wie etwa keltische oder nordische Mythen. Ob die abschließenden Kapitel Hannu zu einem warmherzigeren Gesellen machen und die sich andeutenden Brüche in den linearen Questen sich ausweiten, muss sich noch erweisen; dass Minna Sundberg eine Comic-Künstlerin ist, die man im Auge behalten sollte, ist dagegen längst keine Frage mehr.
Webseite
Übersicht über die bisherigen Kapitel

bisher bei bp empfohlene Webcomics:
Widdershins
Wormworld-Saga

Eselsohr Über den Tellerrand

Ein wenig Schummeln muss erlaubt sein, um euch in dieser Kategorie ein Buch vorstellen zu können, das ein Lächeln auf das Gesicht eines jeden Genre-Fans zaubern dürfte. In einer anderen Welt von Jo Walton habe ich nämlich nicht übersetzt, sondern lediglich lektoriert, aber das soll der Empfehlung keinen Abbruch tun.

In einer anderen Welt von Jo WaltonMan liest das Tagebuch der 15jährigen Morwenna, die 1979 das englische Mädcheninternat Arlinghurst besucht. Dort hat sie es nicht leicht, denn sie ist nicht nur eine Hinterwäldlerin aus Wales, sondern kommt aus schlimm zerrütteten Verhältnissen (obwohl ihr Familie über alles geht) und humpelt zum Missfallen der sportfanatischen Mitschülerinnen auch noch. Nur zwei Sachen halten sie über Wasser: Bücher und Magie.
Wer sich nun schon davonmachen will, weil Internatsgeschichten mit Magie ein fader Fantasy-Fauxpas sind: Hiergeblieben! Weiterlesen! Der magische Realismus von In einer anderen Welt dürfte besonders Leser und Leserinnen ansprechen, die jetzt die Nase rümpfen.
Vordergründig ist der Roman fest in der Realität verankert, in seiner Zeit, in der walisischen Landschaft, und im Internatsleben, das gewöhnlicher nicht sein könnte, denn in einer Art Anti-Harry-Potter-Manier hat Arlinghurst kaum Spannendes zu bieten, nur Morwenna selbst bringt ihre Magie mit. Die allerdings ist leise, undurchschaubar und könnte beinahe genauso gut lediglich der Einbildung des schwer traumatisierten Mädchens entstammen, das erst kürzlich seine Zwillingsschwester verloren hat.

Während die echte Magie also so stark im Alltag integriert ist, dass sie beinahe damit verschmilzt (ohne ihre andersweltliche Anmutung zu verlieren), ist das, was Morwenna ihre Außenseiterrolle ertragen lässt und sie aus dem Alltag wegbringen kann, die Fantasy und SF, die sie sich aus der Bibliothek ausleiht.
In einer anderen Welt ist eine Liebeserklärung an das Lesen, die SF und ihre Leser und Leserinnen. Es ist ein Fest aus Anspielungen und ein Who’s Who des Genres in den 70ern, es beschreibt, wie Literatur das Erwachsenwerden begleitet und in die Welt zurückwirkt und Seelenverwandte zusammenbringt. Gleichzeitig ist es ein nostalgischer Blick zurück auf ein Fandom, wie es heute – in Zeiten des Internets – nicht mehr existiert, und man wird durchaus mit Wehmut feststellen, dass auch etwas verlorengegangen ist, weil man nicht mehr urplötzlich in der Buchhandlung die Entdeckung machen kann, dass HIERLIEBLINGSAUTOREINFÜGEN ein neues Buch geschrieben hat!

Der kurzweilige Tagebuchstil, der Internatsklischees auf den Kopf stellt (immerhin stammt das Tagebuch von einer jungen Frau, die man heute als Nerd bezeichnen würde) macht übrigens auch dann Spaß, wenn nicht von Büchern geschwärmt wird, denn das tägliche Leben, seien es nun die Wirren der Jugend oder Morwennas Familienproblematik, bleibt ein Spannungsmotor.
Und nur, damit sich nachher keiner beschwert: Unsere geneigten Leser und Leserinnen haben die Gefahr sicher längst erkannt, aber wenn einem tagtäglich von tollen Büchern vorgeschwärmt wird (Morwenna liest nicht unter sieben die Woche, schon da möchte man grün vor Neid werden), sind Geldbeutel und Regalplatz akut bedroht.

In einer anderen Welt (Among Others (2011), übersetzt von Hannes Riffel): ISBN 978-3-942396-75-2
zur Leseprobe (pdf)

Eselsohr