Tag: Kurzgeschichten

In  der zweiten Ausgabe unserer Jubiläumsaktion, zehn Kurzgeschichten in jeweils zehn Sätzen vorzustellen, widmen wir uns einem Autor, der die Grenze zwischen “Hoch-” und “Genreliteratur”, die so mancher Feuilletonist gerne scharf gezogen sehen würde, ganz erstaunlich verwischt: Jorge Luis Borges.

Jorge Luis Borges: Tlön, Uqbar, Orbis Tertius
in: Jorge Luis Borges: Fiktionen, 1992, 978-3596105816

Jorge Luis Borges ist den meisten wahrscheinlich als Autor der Erzählung Die Bibliothek von Babel ein Begriff, auf die wiederum in Umberto Ecos Der Name der Rose angespielt wird.
Borges verfasste jedoch eine ganz Reihe wunderbarer Erzählungen; eine davon, nämlich Tlön, Uqbar, Orbis Tertius sei hier näher vorgestellt. Mit der Entdeckung eines eigentlich unmöglichen Artikels über das Land Uqbar in einer (wie kann es anders sein?) alten Ausgabe der Anglo-American Cyclopedia in den 1940ern beginnt eine literarische Spurensuche nach Hinweisen, die die Faszination der Recherche, des Stöberns nach mehr Information und des Aufspürens von Querverweisen wunderbar einfängt. Was nicht zuletzt an Borges’ Sprachgefühl liegt, das einen Eintauchen lässt in die Nachforschungen zu Uqbar und den Hintergründen der wissenschaftlichen Abhandlungen zu diesem unbekannten Land, seiner Gesellschaft und Kultur.
Zugleich bricht mit dieser scheinbar banalen Entdeckung aber auch das Phantastische über Ich-Erzähler sowie Leser und Leserin herein, das zunehmend schwindelerregende Ausmaße annimmt. Denn – so viel sei verraten – der nur in dieser Ausgabe enthaltene Artikel ist keineswegs ein Einzelfall und schon gar kein Versehen gewesen. Die Erzählung ist ein wunderbares Beispiel für eines der zentralen Themen in Borges’ Œuvre, nämlich die Verflechtung von Realität und Fiktion sowie das Eigenleben, das (erfundene) literarische Werke entwickeln können. Schließlich spielt Tlön, Uqbar, Orbis Tertius selbst damit, dass Autor und Erzähler ineinanderfließen, ebenso wie sich fiktive Referenzwerke zu historischen gesellen, sodass die Spurensuche zu einer wahrhaft phantastischen wird. Wem das noch nicht genug Meta-Ebenen sind, der kann sich noch den Spaß machen, die Anspielungen auf philosophische und epistemologische Strömungen weiterzuverfolgen.
Tlön, Uqbar, Orbis Tertius ist zuletzt in deutscher Sprache im Sammelband Fiktionen erschienen, der unter anderem auch Die Bibliothek von Babel enthält sowie weitere bedeutende Erzählungen, etwa Der Garten der Pfade, die sich verzweigen oder Die kreisförmigen Ruinen.

 

Eselsohr

A Test of Mettle von Kevin HearneWährend Atticus in Asgard das Gefüge der nordischen Götter ins Wanken bringt, bleibt sein Lehrling Granuaile in Arizona zurück, wo sie der Erdelementaren Sonora helfen will, ein ökologisches Ungleichgewicht wieder ins Lot zu bringen. Unvorhergesehen tauchen jedoch die Tuatha Dé Danann auf und unterziehen Granuaile einem Test, der leicht tödlich ausgehen könnte.

Zur Rezension bitte hier entlang.

Neue Inhalte

Zehn Jahre Bibliotheka Phantastika. Anlässlich dieses tollen Jubiläums haben gero und ich uns vorgenommen, insgesamt zehn Kurzgeschichten in jeweils zehn Sätzen vorzustellen. Den Anfang mache ich mit Die Screwfly Solution, die zuletzt in dem Sammelband Zu einem Preis in deutscher Sprache erschienen ist.

Alice B. Sheldon (aka James Tiptree Jr.): Die Screwfly Solution
in: James Tiptree Jr.: Zu einem Preis, 2012, ISBN: 978-3902711069

Alice B. Sheldons Erzählung Die Screwfly Solution (The screwfly solution) ist nichts, was man als leichte Lektüre bezeichnen könnte. Vielmehr sollte man sich Zeit dafür nehmen, weniger für’s Lesen, sondern vielmehr für das Verarbeiten der Implikationen der wenige Seiten langen Handlung. Diese wird (sehr gelungen) überwiegend indirekt über Briefe, Zeugenaussagen oder andere Dokumente erzählt und entfaltet rasch einen ganz eigenen Sog des Grauens. Als Leser/in verfolgt man dabei hauptsächlich das Schicksal des Schädlingsbekämpfers Alan und seiner Frau – eine Auswahl, die für das Ende große Bedeutung hat. Noch mehr als die global grassierenden und sich ausbreitenden Morde an Frauen und der seltsam hilflos-laxe Umgang der Regierungen mit diesen beschäftigt einen deren Grundlage. Die Ursache der Morde offenbart dagegen das mit bösem Witz geschriebene Ende der Kurzgeschichte. Über einen längeren Zeitraum verfolgen wird einen jedoch besagte Grundlage der Morde. Man muss damit nicht vollständig einverstanden sein, man sollte es aber auch nicht gleich verwerfen. Denn dann eröffnet dies neue Perspektiven auf jene Missstände im Geschlechterverhältnis, die unsere Gesellschaft immer noch prägen. Und durch eine spannende Geschichte einen solchen Denkanstoß zu erhalten, ist ein absoluter Empfehlungsgrund.

Eselsohr

1. Joe Haldeman: Ein anderer Krieg
Diese Kurzgeschichte hat mich dazu verleitet, mir Joe Haldemans Hauptwerk Der ewige Krieg zuzulegen. Und auch, wenn ich das nicht bereut habe, kann ich sagen, dass alles, was den Charme des Romans ausmacht, genauso in Ein anderer Krieg zu finden ist. Darin wird das sympathische Heldenduo durch den titelgebenden Krieg getrennt. Für die Soldatinnen und Soldaten der Erde ist es tatsächlich ein ewiger Krieg, sorgen doch die Transporte mit Überlichtgeschwindigkeit dafür, dass die Zeit im Universum schneller vergeht als auf ihren Schiffen. Einerseits lernen unser Held und unsere Heldin so menschliche Gesellschaften kennen, deren Entwicklungen sie ansonsten nie erlebt hätten, andererseits hat dies natürlich gravierende Auswirkungen auf menschliche Beziehungen. Der Gegensatz zwischen der Antiquiertheit der beiden Protagonisten und den neuen menschlichen Gesellschaftsentwürfen tragen dabei deutlich zum Reiz der Geschichte bei. (Fremdling)
Deutsche Übersetzung in: Pandora 3. Das Magazin für internationale Science Fiction & Fantasy, S. 38-62.

2. Neil Gaiman: Schnee, Glas, Äpfel
Grimms Märchen nachzuerzählen und neu zu interpretieren ist das heimliche Hobby etlicher Fantasy-Autoren. Mit Schnee, Glas, Äpfel schafft Neil Gaiman es allerdings mühelos, sich von den häufig eher lahmen Weiterentwicklungen bekannter Märchenstoffe abzuheben. Einerseits emanzipiert er sich vor allem durch einen Perspektivwechsel stark von der Vorlage, andererseits kann er die Geschichte in einer losgelösten Mittelalter-Märchenwelt verorten, die durch viele kleine Details geerdet wird. Die weitere Umdeutung der Märchenelemente bringt sehr düstere Untertöne in Schnee, Glas, Äpfel ein, die es archaischer als die Vorlage erscheinen lassen und die weit von Kindergeschichten entfernten Wurzeln der Märchentradition in Erinnerung rufen, zugleich aber eine moderne Themenkombination ergeben.
Das Tüpfelchen aufs i ist ein für Gaiman etwas ungewöhnlicher getragener Stil, der die Düsternis und Märchenhaftigkeit unter einen Hut bringt und der Erzählerinnenfigur von Schnee, Glas, Äpfel die Eindringlichkeit verleiht, die die Geschichte auszeichnet. (mistkaeferl)
Original: Snow, Glass, Appels (1994), u.a. in der Sammlung Smoke and Mirrors;
Deutsche Übersetzung in: Die Messerkönigin (2001), S. 353-368.

3. Robert Sheckley: Ein erster Kontakt
»NUR AUFWECKEN, WENN TOP-STORY IN AUSSICHT« – so lautet die Aufschrift über den kryokonservierten Journalisten im Raumschiff der Menschen, dessen Insassen sich alle auf unterschiedliche Art und Weise auf den ersten Kontakt mit einem Alien vorbereiten, das sich auf dem anvisierten Planeten hinter einem Busch versteckt. Und eine Top-Story ist es, die Sheckley uns mit Ein erster Kontakt präsentiert: seine Version des ersten Kontaktes zwischen Mensch und Extraterrestrier ist eine humorvolle und entlarvende Studie über das ewig Menschliche, dessen Skurrilität in den Weiten des Alls weitaus außerirdischer erscheint als der schuppige Extraterrestrier Detringer, der wegen Impertinenz von seinem Heimatplaneten verbannt wurde. Gemeinsam mit seinem metallenen Diener Ichor bekommt er es mit dem Militär, der Bürokratie und der Regenbogenpresse unserer Erde zu tun, und die Geschichte seines ersten und letzten Kontaktes mit den uns allzu vertrauten Vertretern unseres Planten lässt sich mühelos mit dem weisen Ausspruch von Calvin bzw. Bill Watterson zusammenfassen: »Sometimes I think the surest sign that intelligent life exists elsewhere in the universe is that none of it has tried to contact us«. (Colophonius)
Deutsche Übersetzung in: Der widerspenstige Planet (2009). S. 617-653.

Eselsohr

Kurzgeschichten können Keimzellen von Romanen sein, oder etwas völlig anderes als Romane, ein erster Ort zum Austoben und Veröffentlichen für Autoren, und für manche sind sie auch langfristig die Form, in der sie am besten glänzen können (man denke an Stephen King oder Neil Gaiman). Bei den großen Publikumsverlagen finden phantastische Kurzgeschichten allerdings  von wenigen Ausnahmen abgesehen nicht statt, und das, obwohl sie eigentlich hervorragend zur angeblich verkürzten Aufmerksamkeitsspanne der modernen Leserschaft passen sollten.
Es gab und gibt zwar Versuche, auch in Deutschland Magazine mit einem Fokus auf Kurzgeschichten einzuführen (z.B. die Pandora), und kleine Verlage, Zines und Internetseiten bieten eine gewisse Plattform dafür; eine große Rolle spielen sie bislang in der Fantasy-Rezeption allerdings nicht.

Da in unserem eab Kurzgeschichten durchaus geschätzt werden, wollen wir euch in nächster Zeit immer wieder Hinweise auf interessante, lesenswerte Geschichten geben. Dabei handelt es sich hauptsächlich um Phantastik- und SF-Kurzgeschichten, denn die klassische Fantasy ist in der kurzen Form häufig nicht stark vertreten und noch seltener gelungen.
Wir wünschen euch viel Spaß und hoffen, euch zur ein oder anderen Entdeckung verhelfen zu können!

1. Ted Chiang: Liking What You See: A Documentary
Ted Chiangs Erzählung spielt in der ferneren Zukunft, wo es mittels ungefährlicher Manipulation des Gehirns möglich ist, Diskriminierung aufgrund des Aussehens “abzuschalten”, indem die Assoziation eines Gesichtes mit Schönheit oder Hässlichkeit verhindert wird. Oder zumindest dreht sich die fiktive Dokumentation darum, ob dieses Ziel mit Hilfe eines technischen Eingriffs erreicht werden kann (oder sollte) und wie die Menschen darauf reagieren. Schauplatz der Doku ist ein Campus, auf dem diese Manipulation eingeführt werden soll, und verblüfft mit der Vielfalt an Meinungen, Argumentationen und Assoziationen, die zu diesem Thema vorgebracht werden, manche klischeehaft, manche überraschend und radikal, viele sehr persönlich und alle bringen einen zum Nachdenken. Man sieht sich bald hineingezogen in diesen Konflikt zwischen Freiheit und Diskriminierung, Befreiung und Unterdrückung. Neben dieser philosophischen Ebene klingen auch ganz konkrete politische und wirtschaftliche Aspekte an und in den fiktiven Interviews und Nachrichtentexten entfalten sich einige Narrative, die für einen Spannungsbogen sorgen. (Fremdling)
In: Chiang, Ted: Stories of Your Life and Others. Tor Books 2004, S. 283-324.
Eine deutsche Übersetzung ist in Pandora 2. Das Magazin für internationale Science Fiction & Fantasy zu finden.

2. David Gerrold: Report from the Near Future: Crystallization
Um die Erwartungen nicht zu hoch zu schrauben, zunächst eine kleine Info über den Autor: David Gerrold hat die Tribbles-Folge für Star Trek geschrieben. Noch Fragen?
In Crystallization macht er allerdings ernst – wir verfolgen aus einer nüchternen nachträglichen Beobachterposition eine Art “end of the world as we know it”, das sich im Kollaps des Verkehrsnetzes von Los Angeles anbahnt: Der Verkehrsfluss kristallisiert aus. Nichtige Ursachen führen zu immer größeren Wirkungen, erst im Nachhinein, im vorliegenden Bericht, kann nachvollzogen werden, was womöglich schief gelaufen ist. Während der distanzierte, beinahe dokumentarische Stil der Geschichte, in dem der Autor besonders zu Beginn viele – dem LA-Fremden weitgehend unbekannte – Straßennamen abspult, nicht sonderlich ins Geschehen hineinzieht, sind es die katastrophalen Abläufe und ihre Unaufhaltsamkeit, die ihre Faszination ausmachen.
Crystallization zeigt die Anfälligkeit unserer vielfach ineinander verzahnten Systeme (und das Verkehrssystem kann man symbolisch sehen, auch wenn Gerrold die Kritik am Auto-Wahn durchaus ein Anliegen ist), die vor dem Hintergrund von Fortschrittglauben und Machbarkeitsphantasien vielleicht lächerlich wirken, aber bei Katastrophen wie Fukushima schmerzlich real werden. (mistkaeferl)
In: Savile, Steven/Konthis, Alethea (Hgg.): Elemental. The Tsunami Relief Anthology, Tor Books 2006, S. 19-35; 2011 als eBook: Crystallization

3. Terry Pratchett: Troll Bridge
Und es gibt sie doch, die Klassische-Fantasy-Kurzgeschichte. Oder zumindest was Terry Pratchett daraus macht. Aber hey, es gibt Trolle und einen Barbaren, das ist doch zumindest etwas, oder?
Die Handlung ist typisch Sword-and-Sorcery: Ein einsamer Held zieht, tapfer den Elementen trotzend, seiner letzten großen Aufgabe entgegen, nämlich einen Troll im heldenhaften Zweikampf zu besiegen.
Natürlich driftet dieses Grundgerüst in Pratchetts Händen schnell ins Absurde ab: Cohen der Barbar, der Held, hat Rücken, sein Pferd wäre viel lieber in wärmeren Gefilden und der Troll leidet unter seiner nörgelnden Ehefrau.
Doch was für mich das gewisse Etwas dieser Geschichte ausmacht ist, dass es Pratchett nicht, wie in seinen frühen Romanen, bei einer reinen Parodie belässt, sondern der Geschichte auch eine gewisse melancholische Note verleiht. Hier treffen sich zwei Angehörige einer untergehenden Welt: die alten düsteren Wälder aus Cohens Jugend müssen Ackerland weichen, die jungen Trolle ziehen lieber in die Stadt, anstatt wie ihre Väter unter Brücken zu leben und auch Frau Troll liegt ihrem Mann in den Ohren, er solle doch lieber im Sägewerk seines Schwagers arbeiten.
“What’s wrong with being a troll under a bridge?” he said. “I was brought up to be a troll under a bridge. I want young Scree to be a troll under a bridge after I’m gone. What’s wrong with that? You’ve got to have trolls under bridges. Otherwise, what’s it all about? What’s it all for?” (maschine)
Zuerst erschienen in: Greenberg, Martin H. (Hrsg.): After the King. Stories In Honour of J.R.R. Tolkien, Tor Books 1991.
Deutsch als Troll Dich in: Andersson, Melissa (Hrsg.): Das große Lesebuch der Fantasy, Goldmann 1995. (In anderen Anthologien auch als Die Trollbrücke)

Eselsohr