Tag: Übersetzer-Empfehlung

Heute gibt es nach langer Zeit mal wieder einen Gastbeitrag aus der Rubrik Übersetzer-Empfehlung (in dem es unserer Meinung nach um den Auftakt eines der wichtigsten und faszinierendsten Fantasy-Werke der letzten Jahre geht). Die Übersetzerin Susanne Gerold ist in unserem Forum als Timpimpiri unterwegs.

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Bisher hatte ich ja das Glück, dass ich die meisten Bücher, die ich übersetzt habe, auch empfehlen konnte. Hin und wieder sind aber echte Perlen dabei, die mir zum Beispiel immer mal wieder ein Lächeln ins Gesicht zaubern. Zu den echten Perlen zähle ich auch N.K. Jemisins Zerrissene Erde, auch wenn mich der Roman nie richtig zum Lächeln gebracht hat, geschweige denn zum Lachen. Es gibt einfach nichts zu lachen in dieser Welt, die ganz und gar darauf ausgerichtet ist, bestmöglich auf eine Katastrophe vorbereitet zu sein, von der jeder weiß, dass sie früher oder später kommen wird. Denn das ist die Folge eines weit in der Vergangenheit liegenden unrühmlichen Umgangs der Menschen mit der Erde, und jetzt ist Vater Erde dauerhaft sauer und macht seinen Bewohnern das Leben schwer.
Zerrissene Erde von N.K. JemisinVielleicht ist es die Parallele zu unserem eigenen Umgang mit der Welt – schließlich sind wir kräftig dabei, unsere Lebensgrundlage zu zerstören (und nicht nur unsere) – weshalb mir der Roman so gefallen hat. Oder die Tatsache, dass Jemisin sich stilistisch wohltuend vom üblichen Erzählduktus abhebt und ihre Sprache einen unglaublichen Sog entwickelt. Oder ihre Art, dass Missbrauchtwerden von Menschen oder ganzer Gruppen von Menschen mit bestimmten Kennzeichen auf eine beinahe unbarmherzig eindringliche Weise zu schildern, die die Wahrheit offen zutage treten lässt. Und Bücher, in denen tiefere Wahrheiten ausgesprochen werden, hatten schon immer einen Reiz für mich, auch wenn diese unbequem oder unangenehm sein können. Aber es sind die Bücher, die mir ein Gefühl für das Wesentliche im Leben geben, die ich sowohl beim Lesen als auch beim Übersetzen am meisten genieße. Und Jemisin macht das virtuos, behandelt anhand ihrer Figuren und ihres Plots nicht nur die Frage, wie man in einer solchen Welt leben und überleben kann, sondern, auf einer “übergeordneten” Ebene, ganz besonders die, wie die Menschlichkeit überlebt. Auch und gerade die Menschlichkeit in einem selbst.
Diesen Aspekt teilt Zerrissene Erde übrigens mit den Romanen eines anderen Autors, den ich sehr schätze, und der ebenfalls eine grausame, unbarmherzige Welt schildert, in der es dennoch immer wieder Menschlichkeit im Kleinen, im zwischenmenschlichen Bereich gibt. Und wenngleich N.K. Jemisins Zerrissene Erde (bzw. die ganze Broken Earth Trilogy) ansonsten wenig mit Steven Eriksons Spiel der Götter gemein haben mag – in genau diesem, für mich sehr wichtigen Punkt kommen sie sich sehr nahe und üben eine vergleichbare Faszination aus.

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Heute gibt es wieder einen Gastbeitrag aus der Rubrik Übersetzer-Empfehlung. Die Übersetzerin Susanne Gerold ist in unserem Forum als Timpimpiri unterwegs.

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Wenn man einseitige Gespräche mit dem Mond in lebensbedrohlichen Situationen als Phantastik betrachten könnte, oder das Überwältigtsein von einem grandiosen Sternenhimmel und der Weite des Universums irgendwo allein in der Wildnis als fantasyhaft, und wenn man dann noch die Fähigkeit, enorme Kraftquellen in sich zu erschließen, irgendwie als Magie bezeichnen könnte – dann würde mir die Einleitung zu meiner Empfehlung für dieses Buch ein bisschen leichter fallen.
Denn dann würde ich einen Fantasy-Roman vorstellen, der zu diesem Blog passt. Aber um der Wahrheit die Ehre zu geben: Ruthless – Die Gnadenlose ist keine Fantasy, nicht einmal Phantastik im allgemeineren Sinne. Es handelt sich vielmehr um einen Serienkiller-Roman, der allerdings eines ist: phantastisch gut.
Phantastisch ist z.B. die Protagonistin selbst, die sechzehnjährige Ruth, die von einem Serienkiller entführt wird und das Schicksal diverser Vorgängerinnen erleiden soll. Aufgrund ihrer geringen Körpergröße hält der Killer sie jedoch für jünger, als sie tatsächlich ist, und als ehrgeizige Reitsportlerin verfügt sie über eine Willensstärke, wie sie ihm noch nie untergekommen ist. Vor allem aber ist sie in der Lage, Schmerz auszuhalten, körperliche Symptome kraft ihres Willens zu unterdrücken, sich nicht wie ein Opfer zu verhalten. “Denk nicht wie ein Opfer”, zieht sich ein bisschen wie ein Mantra durch das Buch. Und so ist es nicht verwunderlich, dass sie eben nicht die erstbeste, sondern die erste vielversprechende Gelegenheit nutzt, um zu fliehen – nach fünfzig von etwas mehr als dreihundert Seiten.
Und das ist das andere Phantastische. Noch nie habe ich einen Roman gelesen – und schon gar nicht übersetzt –, in dem die Protagonistin lange Zeit unbekleidet herumläuft und dies niemals irgendwie voyeuristisch oder sonstwie unangenehm ausgeschlachtet wird. Es ist einfach der beste Moment, um wegzulaufen, als der Killer sie draußen mit einem Wasserschlauch abspritzt, nachdem er sie unter einem Haufen Pferdeheu begraben in eine einsame Jagdhütte verschleppt hat und nun der Meinung ist, sie würde stinken. Als er sich mit sich selbst beschäftigt, flieht sie nackt in die Wildnis – etwas, womit er nie gerechnet hat.
Phantastisch ist auch die folgende Flucht. Ruth versucht, in die Zivilisation zurückzukehren, kennt aber diese Wildnis nicht – die Blue Ridge Mountains, die nach dem Übersetzen prompt auf meiner Liste vermutlich nie verwirklichter Urlaubsziele gelandet sind –, und sie hat weder etwas zu trinken noch etwas zu essen dabei. Dennoch gelingt es ihr dank ihrer enormen Willenskraft, durchzuhalten – und irgendwann den Jäger zum Gejagten zu machen.
Begleitet wird ihr Kampf ums Überleben von Gedanken an das, was er ihr – als sie noch in der Jagdhütte in seiner Gewalt war – vorgeworfen hat, von ihren inneren Auseinandersetzungen mit ihrer Moral, ihrem Leben, und wir erleben nichts weniger als die wunderbare Wandlung eines Mädchens, das durch eine derart existenzielle Situation zutiefst herausgefordert wird und diese Herausforderung so meistert wie sie einen Wettkampf meistern würde: durch eine Mischung aus Anpassung an die Gegebenheiten und den unbedingten Ehrgeiz, zu gewinnen.
Was mich beim Übersetzen dieses Romans mit einer ungewöhnlichen, aber dennoch glaubwürdigen Heldin besonders begeistert hat, ist aber nicht nur Ruths geistige Stärke und körperliche Zähigkeit und ein absolut – schon wieder – phantastischer Showdown.
Es ist auch die Sprache, die Atmosphäre, der gesamte Erzählton. Die Geschichte bekommt einen Drive, eine Intensität (auch durch zwischengeschachtelte Rückblenden in Ruths Leben und das des Killers), entwickelt einen ganz eigenen Sog. Häufig musste ich an Filme wie Die Nacht des Jägers oder – an anderen Stellen – Life of Pi: Schiffbruch mit Tiger denken.
Selten habe ich es so bedauert, dass die Arbeit an einer Übersetzung irgendwann beendet war. Und obwohl ich noch sehr viel mehr über Ruthless – Die Gnadenlose schreiben könnte, möchte ich es jetzt hierbei belassen – und lediglich noch darauf hinweisen, dass auf meinem Blog eine ausführlichere Rezension zu finden ist und es dort demnächst auch ein Interview mit der Autorin Carolyn Lee Adams geben wird.

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Torsten Fink begleitet mich inzwischen schon seit ein paar Jahren – ich lektoriere ihn seit seinem zweiten Fantasy-Roman und konnte miterleben, wie er vom Jugendbuch langsam zu erwachseneren Stoffen gewandert ist und von Geschichte zu Geschichte mehr zu erzählen hatte. Von seinen eher an ein jüngeres Publikum gerichteten Romanen hat mir Drachensturm am besten gefallen (verkürzt gesagt „Conquistadoren mit Drachen“, falls jemand einen Tipp fürs bisherige Oeuvre möchte).
Mit Tochter der Schwarzen Stadt (ISBN 978-3-442-26980-8), dem zweiten Roman, der meiner Lesart nach voll im Erwachsenenbereich angekommen ist, steigt man relativ spät in eine Welt ein, die vorher bereits in einer noch etwas jugendbuchigeren Trilogie (Prinz der Schatten) und einem Einzelroman (Prinz der Rache) Schauplatz des Geschehens war. Beim „Geschehen“ handelt es sich in diesen lose zusammenhängenden Abenteuer- und Intrigengeschichten um die politische Gesamtsituation am Goldenen Meer, einer zentralen, mehr oder weniger geschützten See, in deren Anrainerstaaten sich sowohl der hanse-artige, militärisch formidable Seebund als auch das orientalische Oramar um Einfluss und Herrschaft streiten. In den vier vorausgehenden Büchern wurde dieses Gefüge bereits schwer erschüttert, aber man kann Tochter der Schwarzen Stadt durchaus einzeln lesen – mit Kenntnis der Vorgeschichte gewinnt die Welt an Tiefe.

Tochter der Schwarzen Stadt von Torsten FinkDie Großereignisse geben aber „nur“ den Hintergrund für eine neue Geschichte einer neuen Figur ab – Alena, eine schlitzohrige Kriminelle, die günstigerweise eine frappierende Ähnlichkeit mit Caisa aufweist, der einzigen Tochter des Herrschers einer strategisch wichtigen Inselnation, Ziel etlicher Attentate und Heiratsanträge. Es folgt ein Doppelgänger- und Intrigenspiel, in dem aus der Straßengöre eine richtige Prinzessin werden muss – und man sich ständig fragt, wer eigentlich mit wem spielt, und ob das Schicksal auch mit von der Partie ist. Denn Alena ist nicht so naiv, wie der Berater des Herzogs sie gerne hätte, und Torsten Fink wirft im Laufe des sich aufschaukelnden Hin und Hers nebenbei auch einen ironischen Blick auf die typische Prinzessinnengeschichte mit dem Warten auf den Märchenprinzen und allem drum und dran.

Man verrät vermutlich nicht zu viel, wenn man eine Warnung für Romantiker ausgibt, denn so läuft’s nicht. Torsten Fink bringt seine Figuren zwar sehr menschlich und warm aufs Papier, aber die Welt des Goldenen Meeres ist ein zynischer, kriegerischer Ort, an dem Geld und Macht alles ist und diejenigen, die beides besitzen, wenn nicht zur Grausamkeit, dann doch zu einer gewissen Sorglosigkeit und auf jeden Fall zu Egoismus neigen.
Es gibt viele Parteien in Tochter der Schwarzen Stadt, und Sympathien sind dünn gesät, so dass das Straßenmädchen am Ende als die integerste Figur dasteht. Und wie schon in den Vorgängern glänzt Torsten Fink durch starke Nebenfiguren (an die man allerdings nicht zwingend sein Herz hängen sollte … denn am Goldenen Meer wird es meistens verlustreich, wenn die Intrigen in Auseinandersetzungen überkochen). Besonders auf einer schroffen Klosterinsel, auf der ein Teil der Handlung stattfindet, spielt sich auf Charakterebene viel ab. Außerdem trifft man alte Bekannte aus den vorausgehenden Romanen wieder, deren Geschichten und Einflussnahme auf die Welt sich vertiefen.

Auch das Worldbuilding rund um Länder und Völker des Goldenen Meeres wird in jedem Roman erweitert. Es ist eine etwas andere Fantasywelt, die sehr authentisch wirkt, ob an Fürstenhöfen oder in Hafenkneipen: Mit ihren oft wirtschaftlich motivierten Konflikten und dem sehr breiten Unterbau wirkt sie meist viel historischer inspiriert als der Genre-Standard. Selbst mit dem Funken Magie, der am Goldenen Meer durchaus existiert, scheint der Stoff wie eine Fantasy, die sehr viel aus für die hiesige Leserschaft vertrauten Motiven zieht, irgendwo zwischen Karl May und Otfried Preußler (was sich alles übrigens auch in der bedachten Wahl von Eigennamen und Bezeichnungen widerspiegelt).
Und wenn die gewitzte Alena diese Bühne betritt, um einiges aufzuwirbeln, kann man sich das durchaus mal anschauen.

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Heute gibt es wieder einen Gastbeitrag aus der Rubrik Übersetzer-Empfehlung. Die Übersetzerin Susanne Gerold ist in unserem Forum als Timpimpiri unterwegs.

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Den x-ten Band eines Mehrteilers zu übersetzen ist normalerweise eine undankbare Aufgabe. Viel Arbeit und doch immer wieder das Gefühl, nie so richtig in die Geschichte reinzukommen. Noch dazu muss man sich an die vorgegebene Nomenklatur halten und womöglich einen Sprachduktus nachahmen, der dem eigenen zuwiderläuft. Eine leichte Frustration ist also oft vorprogrammiert.
Bei der Übersetzung von “Der Monstrumologe und das Drachenei” (OT: “The Monstrumologist: The Final Descent”), dem letzten Band der Reihe “Der Monstrumologe” von Rick Yancey, war das vollkommen anders. Schon beim Aufschlagen des Originals wehte mir eine Atmosphäre entgegen, die einfach mitreißend war: Tragik in ihrer besten Form, nämlich Vergänglichkeit, Scheitern, verbunden mit innerer Wärme, mit großem Mitgefühl und dem steten Appell, dass es auch anders gehen müsse.
Was diese Autorenstimme von Anfang an versprach, hielt sie bis zum Schluss durch (wie auch in den ersten drei Bänden). Ich bin in die Übersetzung eingetaucht wie schon lange nicht mehr, denn das Schicksal des Kindes, um das es hier – erzählt aus der Perspektive eines an den Ort seiner Kindheit und frühen Jugend zurückkehrenden Erwachsenen – geht, wird mittels einer unvergleichlichen literarischen Sprache und Erzählstimme geschildert, zusätzlich vermischt mit Inhalten und Auszügen aus Dantes Inferno.
Der Monstrumologe und das Drachenei von Rick YanceyWas ich nicht ganz verstanden habe: warum das Buch im Original als Jugendbuch gilt. Die Geschichte von Will Henry, der 1888 in New York nach dem Tod seines Vaters als kleiner Junge in dessen Fußstapfen tritt und eine Art Diener und Assistent des Monstrumologen Dr. Warthrop wird, ist nun wirklich nichts für Kinderseelen. Nicht nur, weil sich etliche Horrorszenen finden und Grausamkeiten an Menschen geschildert werden, die zwar in einer Art medizinischem Kontext ablaufen, aber nichtsdestotrotz ziemlich unter die Haut gehen können. Denn Dr. Warthrops Beruf ist es, die parasitären Monster, die sich in Menschen eingeschlichen haben, zu untersuchen und zu töten – und manchmal auch zuzusehen und zu erforschen, wie sie ihren Wirt töten.
Viel schlimmer, beeindruckender, ist die Fähigkeit von Rick Yancey, den eigentlichen Horror darzustellen, der dem kleinen Will angetan wird: emotionaler Missbrauch in seiner reinsten, klarsten Form.
Es ist selten, dass jemand so plastisch emotionalen Missbrauch und damit verbunden die Verwandlung eines kleinen, lebendigen Jungen in ein Bündel aus abgespalteter Angst, Unempfindlichkeit, Einsamkeit und doch nie endender Sehnsucht nach Wärme ebenso überzeugend schildert, wie seine Flucht in ein bisschen Leben und seine gleichzeitige Abhängigkeit von demjenigen, der ihn aufgezogen hat.
Ich kenne nur einen anderen Autor, der diese Meisterleistung vollbringt, und das ist Steven Erikson. Natürlich in einem völlig anderen Stil, aber wenn ich mich an manche Szenen aus “Das Spiel der Götter” erinnere, verfügen beide Autoren über die gleiche Fähigkeit, diese tieftraurige Stimmung zu zaubern, die zugleich auch hoffnungsvoll ist, weil man spürt, dass man endlich verstanden hat, worum es bei Kindern geht, was sie wirklich brauchen, was sie zerstört, wie zerbrechlich sie sind, was es mit dem Kreislauf der Gewalt auf sich hat – auch Dr. Warthrop war einmal ein Kind –, und was passiert, wenn man die Seelen von Kindern ein ums andere Mal mit Füßen tritt.
Es ist ein Erwachsenenbuch, mit Erwachsenenthemen. Es enthält Horror der direkten Art und es enthält Entsetzen der geistigen, seelischen Art. Es geht um das Böse im Menschen, um Täteridentifikation, um die Frage, wie man sich von jemandem befreien kann, der sich mit aller Macht der eigenen Seele aufgezwängt hat und wie man – ob man – dabei die eigene Seele vor dem eigenen Bösen retten kann.
Ich kann das Buch allen empfehlen, die an solchen Themen Interesse haben oder ihnen gegenüber zumindest offen sind. Es ist natürlich gut und gewiss hilfreich, die ersten Bände auch zu lesen, aber der vierte Band ist so gestaltet, dass es tatsächlich zur Not auch anders ginge. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass Will Henry an den Ort seiner Kindheit zurückkehrt, ein letztes Mal Dr. Warthrop trifft und sich erinnert, während er zugleich in der Gegenwart ein Geschehen beendet, das an eben jenem Ort begonnen hat.
Die Rahmenhandlung, die alle Bände umschließt (jemand bekommt vom Direktor eines Altersheims den Auftrag, die wirren handschriftlichen Aufzeichnungen eines Verstorbenen aufzuschreiben, was dann die vier Bände ergibt) endet übrigens mit einem sehr versöhnlichen, sehr schönen Schluss.
Nur selten habe ich nach der Übersetzung eines Buches das Gefühl, am liebsten immer weitermachen zu wollen, nicht genug kriegen zu können von der Sprache, den Gedanken des Autors.
Dieses Buch ist so eines.

“Aber es gibt keinen Anfang und kein Ende und
nichts dazwischen
Anfänge sind Enden
Und alle Enden sind gleich

Die Zeit ist eine Linie
aber wir sind Kreise”

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In unserer Übersetzer-Rubrik gibt es heute als Gastbeitrag eine Empfehlung für einen ganzen Zyklus. Die Übersetzerin Susanne Gerold ist in unserem Forum als Timpimpiri unterwegs.

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Der Dämonenkönig von Cinda Williams ChimaMit Büchern ist es manchmal so wie im echten Leben: es gibt manche, die haben hervorragende Startchancen, und andere, die haben es einfach schwerer.
Der von mir übersetzte Zyklus “Der Dämonenkönig” von Cinda Williams Chima fällt leider in diese Kategorie. Die deutsche Version der Geschichte, die – das gleich vorweg – durchgängig sehr schön ist und ein wunderbares Ende hat, leidet bedauerlicherweise ein bisschen unter verlagsinternen Entscheidungen hinsichtlich der “Übersetzungsphilosophie”. Weil das den Lesegenuss allerdings nicht wirklich schmälern muss, vor allem, wenn man etwas über die Hintergründe erfährt, möchte ich den Zyklus unbedingt all jenen ans Herz legen, die gern ein schönes Jugendbuch lesen oder verschenken möchten.

Aber von Anfang an: Das Problem begann eigentlich damit, dass man sich entschied, dem ersten Band der ursprünglich von Goldmann eingekauften Trilogie einen Hardcovervorlauf bei cbj zu verschaffen und ihn erst danach als Taschenbuch bei Goldmann zu veröffentlichen. Da das Buch jetzt bei einem reinen Jugendbuchverlag angesiedelt war, lautete die nächste Entscheidung, auch die Sprache entsprechend anzupassen. Jugendliche, so hieß es, wollten Begriffe lieber auf Englisch lesen, und die Sprache sollte auch flapsiger sein. Ich erfuhr davon, nachdem ich bereits eine Menge Zeit und Arbeit investiert und es mit freundlicher Unterstützung der Autorin geschafft hatte, geeignete deutsche Begriffe für die vier wesentlichen Bevölkerungsgruppen der Welt des “Dämonenkönigs” zu finden, in deren Umfeld sich die Geschichte um die jugendlichen Hauptcharaktere abspielt: die Diebes- und Straßenwelt der Stadt Fellsmarch, in der Han Alister aufgewachsen ist; die indianisch geprägte Welt der Spirit-Clans von Raisa ‘ana Marianna, der Thronerbin der Fells, mit der sie väterlicherseits verwandt ist; die städtische und höfische Welt von Fellsmarch, mit der Raisa mütterlicherseits verbunden ist; und schließlich die Welt der Hohemagier, die versuchen, wieder an die Macht zu kommen, nachdem sie tausend Jahre lang unterdrückt worden waren.
Das Exil der Königin von Cinda Williams ChimaAufgrund der Verlagsentscheidung spielt sich die Geschichte nun zwischen Gangs und Streetlords, Clans und Figuren mit Namen wie Hunts Alone und Nightbird ab, während gleichzeitig Örtlichkeiten als Westmauer oder Brückenstraße daherkommen und die Bewohner der Spirit-Mountains bezogen auf ihre Clan-Zugehörigkeit Highlander genannt werden, aber aus Sicht der Talbewohner der Fells im Hochland leben … und als würde das alles noch nicht reichen, gibt es noch die Flatlander, wie die Bewohner der Reiche außerhalb der gebirgigen Fells genannt werden (und die erst miteinander im Krieg liegen und dann die Fells zu erorbern versuchen).
Eine sehr gewöhnungsbedürftige Mischung, wie ich zugeben muss, auch wenn tatsächlich ein System dahintersteckt. Aber war es eine gute Entscheidung? Das ist schwer zu sagen. Fakt ist jedenfalls, dass das Buch bei cbj floppte und der Hardcovervorlauf daraufhin eingestellt wurde. Was bedeutete, dass das Buch zurück an Goldmann ging. Dort hätte die Eindeutschung der Begriffe nun kein Problem gemacht, ganz im Gegenteil. Da der erste Band jedoch bereits veröffentlicht war, konnte man an dieser Schraube nicht mehr drehen. Auch der flapsigere Sprachduktus war inzwischen gesetzt (veränderte sich allerdings im weiteren Verlauf des Zyklus ein bisschen im gleichen Maß, in dem die Geschichte von Band zu Band ernster wurde).
Dem Buch und seinen Folgebänden tat das alles nicht besonders gut. Normalen Fantasy-Lesern sind englische Begriffe in einer nicht englischsprachigen Welt ein Gräuel, und genau das schleppte diese eigentlich wunderbare Geschichte nun dauerhaft mit sich herum. Manche Dinge behält man eben von Beginn seines Lebens bei, sie sind nicht zu ändern. Es lohnt sich allerdings manchmal, den Blick und die Wahrnehmung dadurch nicht allzusehr beeinflussen zu lassen, denn wenn man einmal davon absieht, sich gar daran gewöhnt – und das kann man durchaus – erhält man eine Geschichte, die schön erzählt ist, die interessante Charaktere hat, tolle jugendliche Helden, eine sehr schöne, von Beginn an nachvollziehbare und überzeugende Liebesgeschichte sowie einen Konflikt, der die gegenwärtige Handlungsebene geschickt mit tragischen, anfangs völlig im Dunkeln liegenden Geschehnissen der Vergangenheit verbindet.

Der Wolfsthron von Cinda Williams ChimaÄußerlich beginnt der Konflikt, als der Straßendieb Han Alister in Notwehr Micah Bayar, dem Sohn des mächtigsten Magiers, ein Amulett wegnimmt, das dieser wiederum seinem Vater entwendet hatte. Lord Bayar versucht daraufhin mit allen Mitteln, das Amulett zurückzubekommen, schreckt auch vor Mord nicht zurück, während er gleichzeitig seinen Plan verfolgt, die seit langer Zeit verbotene Verbindung von Königinnengeschlecht und Magiern wieder aufleben zu lassen, selbst an die Macht zu kommen und die Hohe Magie endlich von der Knute der Spirit Clans zu befreien, unter der sie durch die Fuegung vor eintausend Jahren stehen.
Die Fuegung – eine Abmachung, die den Spirit-Clans mit ihrer niederen Magie die Kontrolle über die Hohe Magie zuspricht – war eine Reaktion auf das Unheil, das die Magier vor tausend Jahren in einem Krieg angerichtet hatten, der die Welt fast zerstört hätte. Da dieses Wissen überall präsent ist, ruft Lord Bayars allzu offensichtliches Betreiben, die Magier wieder in eine Machtposition zu bringen und sich der verhassten Spirit-Clans zu entledigen, natürlich diese auf den Plan, und es beginnt ein unheilvoller Tanz, in dessen Mittelpunkt die Erbprinzessin der Fells steht, heiß begehrt sowohl von Bayars Sohn wie einem angesehenen Mitglied der Spirit-Clans und schließlich auch von Han Alister, während sich zugleich die Vergangenheit zu regen beginnt …
Wenn man das liest, könnte man meinen, “Der Dämonenkönig” sei eigentlich eine Liebesgeschichte. Und irgendwie ist er das auch; Liebe, Freundschaft und Vertrauen sind tatsächlich zentrale Motive dieses Zyklus. Aber es geht dabei nicht nur um die gegenwärtige Liebesgeschichte oder darum, wer nun die Erbprinzessin bekommt, es geht auch um eine ganz andere Liebesgeschichte, die tausend Jahre zuvor der Grund dafür war, dass die Welt beinahe im Chaos versunken wäre, und die jetzt auf ihre Weise wieder zum Leben erwacht und sozusagen aus dem Hintergrund tatkräftig dazu beiträgt, dass im Reich der Fells die notwendigen Veränderungen eingeleitet werden.

Wenn ich zusammenfassen sollte, was mir beim Übersetzen besonders gefallen hat, dann die Fähigkeit der Autorin, äußerst lebendige, sympathische jugendliche Charaktere zu entwerfen, bei denen ich mich als Erwachsene nicht gelangweilt fühlte. Ihre nicht minder beeindruckende Fähigkeit, den vielen Fallen auszuweichen, die sich in jeder Geschichte auftun und die in diesem Fall vor allem die weibliche Hauptfigur ziemlich geschwächt hätten und den Gang der Geschichte leicht hätten trivial werden lassen können. An Abzweigungen in Richtung Klischees, in Richtung unnatürlichen oder idiotischen Verhaltens, die häufig dazu dienen, künstlich Spannung zu erzeugen oder die Geschichte voranzutreiben, wird einfach vorbeigegangen, obwohl man ahnt, dass sie in einer schlechteren Geschichte genutzt worden wären. Das hat Cinda Williams Chima nicht nötig; zwar ist sie auch nicht immer perfekt in der Inszenierung ihrer jugendlichen Helden und Heldinnen, aber wenn man ihr eines attestieren muss, dann die Fähigkeit, denkende, starke Personen mit tiefen Gefühlen entworfen zu haben, die man vielleicht gern selbst als Role Model gehabt hätte, als man jung war.
Die Purpurkrone von Cinda Williams ChimaDie Einschätzung, ob ein Buch ein gutes Buch – oder ein Zyklus ein guter Zyklus – ist, wird immer dadurch mitbestimmt, wie sein Ende ausfällt. Und das Ende dieser Geschichte ist einfach nur schön. In mehrfacher Hinsicht. Zum einen auf der profanen Ebene der Verlagsentscheidungen, denn Goldmann hat sich nach langem Überlegen schließlich doch noch entschieden, den (auch im Original ursprünglich nicht vorgesehenen – aber auch hier galt wohl, wie so oft: the tale grew in the telling) vierten Band ebenfalls einzukaufen und herauszubringen, auch wenn es lange Zeit nicht danach aussah und man es vor allem der deutschsprachigen Leserschaft zuliebe getan hat – kann es einen schöneren Grund geben? Aber auch das inhaltliche Ende ist – oder besser: beide inhaltlichen Enden sind – sehr gelungen. Wer allerdings die Angewohnheit hat, das Ende zuerst zu lesen, beraubt sich dadurch einer sehr schönen Leseerfahrung.

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Band 1: Der Dämonenkönig (ISBN: 978-3442469741)
Band 2: Das Exil der Königin (ISBN: 978-3442469758)
Band 3: Der Wolfsthron (ISBN: 978-3442469765)
Band 4: Die Purpurkrone (ISBN: 978-3442481538)

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Kane - Der Blutstein von Karl Edward WagnerKürzlich hat eines der spannendsten Projekte das Licht der Welt erblickt, an denen ich letztes Jahr gearbeitet habe, und damit tritt ein Gigant der Sword & Sorcery erneut auf den Plan: Kane, der rothaarige Hüne, der aber kein Barbar ist, sondern ein gebildeter, sogar in dunklen Künsten bewanderter Reisender, ein erfahrener Stratege und ein Kämpfer vieler Schlachten. Darüber hinaus hat er ein paar richtig miese Charaktereigenschaften, die zum Teil schlicht aus Langeweile resultieren, der Mann streift nämlich schon mehr oder weniger seit Anbeginn der Zeit verflucht durch die Welt. Und zwar durch eine ganz großartige: Weit und alt und erhaben, bevölkert von den merkwürdigsten Wesen und voller Magie, von der aber die meisten vernünftigen Leute lieber die Finger lassen, weil man einen hohen Preis dafür bezahlt (und der Sache ohnehin nicht ganz traut).
Magie und der Preis der Macht, den sie verleiht, und die normalen, mehr oder weniger vernünftigen Herrscher zweier Stadtstaaten, die sich in einem guten alten Nachbarschaftskonflikt befinden und eine Intrige nach der anderen spinnen, stellen das Thema des ersten Bandes der Neuauflage der Kane-Romane, Der Blutstein (ISBN: 978-3-942396-91-2). Für einen Mann wie Kane ist so ein Szenario die reinste Spielwiese …

Die Sammelbände mit den Kane-Geschichten waren jahrelang nur gebraucht erhältlich, und das nicht einmal zu ganz kleinen Preisen. Nochmal (oder auch überhaupt) sollte man sich Der Blutstein aber nicht nur wegen der schicken einheitlichen Aufmachung kaufen, sondern vor allem, weil der Text im Vergleich zur alten Fassung nicht nur kosmetisch behandelt, sondern komplett angepasst und vervollständigt wurde. Eine Übersetzung vom Ende der 1970er, als der Band ursprünglich auf Deutsch erschien, kann man mit heutigen Übersetzungen nicht vergleichen: Sie waren nicht selten gekürzt (z.B. um bestimmte Längenvorgaben nicht zu überschreiten), manchmal hatte auch der Jugendschutz seine Finger im Spiel und nicht zuletzt waren die Recherchemöglichkeiten deutlich geringer. Die Übersetzung wurde bisweilen um ganze Szenen ergänzt und vollständig durchgesehen, und auch der ursprüngliche Übersetzer Martin Baresch hat sie noch einmal überarbeitet – man bekommt also einen wirklich rundum überholten Kane.

Aber auch, wenn man Kane noch nicht im Regal hat, lohnt es sich durchaus, ihn kennenzulernen. Damit erkundet man nicht nur ein Stück Genre-Historie, sondern hat einen alles in allem gut gealterten, stilistisch ansprechenden Roman mit viel Action, wunderbaren Beschreibungen und einem schönen Figurenensemble, denn die Herrscher der Stadtstaaten, sei es der gebildete, als unmännlich verunglimpfte Dribeck oder sein Rivale, der rustikale Haudrauf Malchion, machen viel Spaß, ebenso ihre Schergen, und vor allem die faszinierende Hauptfigur Kane. Besonders hervorzuheben ist auch die weibliche Hauptfigur, die heute noch progressiv wirkt und eine tragende (und schlagkräftige) Rolle spielt – anders als der düstere, abgehobene Kane ist sie auch eine für Leserinnen und Leser zugängliche Figur.
Da das Original ziemlich harter Tobak ist, gibt es sozusagen keine bessere Gelegenheit, sich einen der ambivalentesten Helden der Sword & Sorcery einmal anzuschauen!

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Ein wenig Schummeln muss erlaubt sein, um euch in dieser Kategorie ein Buch vorstellen zu können, das ein Lächeln auf das Gesicht eines jeden Genre-Fans zaubern dürfte. In einer anderen Welt von Jo Walton habe ich nämlich nicht übersetzt, sondern lediglich lektoriert, aber das soll der Empfehlung keinen Abbruch tun.

In einer anderen Welt von Jo WaltonMan liest das Tagebuch der 15jährigen Morwenna, die 1979 das englische Mädcheninternat Arlinghurst besucht. Dort hat sie es nicht leicht, denn sie ist nicht nur eine Hinterwäldlerin aus Wales, sondern kommt aus schlimm zerrütteten Verhältnissen (obwohl ihr Familie über alles geht) und humpelt zum Missfallen der sportfanatischen Mitschülerinnen auch noch. Nur zwei Sachen halten sie über Wasser: Bücher und Magie.
Wer sich nun schon davonmachen will, weil Internatsgeschichten mit Magie ein fader Fantasy-Fauxpas sind: Hiergeblieben! Weiterlesen! Der magische Realismus von In einer anderen Welt dürfte besonders Leser und Leserinnen ansprechen, die jetzt die Nase rümpfen.
Vordergründig ist der Roman fest in der Realität verankert, in seiner Zeit, in der walisischen Landschaft, und im Internatsleben, das gewöhnlicher nicht sein könnte, denn in einer Art Anti-Harry-Potter-Manier hat Arlinghurst kaum Spannendes zu bieten, nur Morwenna selbst bringt ihre Magie mit. Die allerdings ist leise, undurchschaubar und könnte beinahe genauso gut lediglich der Einbildung des schwer traumatisierten Mädchens entstammen, das erst kürzlich seine Zwillingsschwester verloren hat.

Während die echte Magie also so stark im Alltag integriert ist, dass sie beinahe damit verschmilzt (ohne ihre andersweltliche Anmutung zu verlieren), ist das, was Morwenna ihre Außenseiterrolle ertragen lässt und sie aus dem Alltag wegbringen kann, die Fantasy und SF, die sie sich aus der Bibliothek ausleiht.
In einer anderen Welt ist eine Liebeserklärung an das Lesen, die SF und ihre Leser und Leserinnen. Es ist ein Fest aus Anspielungen und ein Who’s Who des Genres in den 70ern, es beschreibt, wie Literatur das Erwachsenwerden begleitet und in die Welt zurückwirkt und Seelenverwandte zusammenbringt. Gleichzeitig ist es ein nostalgischer Blick zurück auf ein Fandom, wie es heute – in Zeiten des Internets – nicht mehr existiert, und man wird durchaus mit Wehmut feststellen, dass auch etwas verlorengegangen ist, weil man nicht mehr urplötzlich in der Buchhandlung die Entdeckung machen kann, dass HIERLIEBLINGSAUTOREINFÜGEN ein neues Buch geschrieben hat!

Der kurzweilige Tagebuchstil, der Internatsklischees auf den Kopf stellt (immerhin stammt das Tagebuch von einer jungen Frau, die man heute als Nerd bezeichnen würde) macht übrigens auch dann Spaß, wenn nicht von Büchern geschwärmt wird, denn das tägliche Leben, seien es nun die Wirren der Jugend oder Morwennas Familienproblematik, bleibt ein Spannungsmotor.
Und nur, damit sich nachher keiner beschwert: Unsere geneigten Leser und Leserinnen haben die Gefahr sicher längst erkannt, aber wenn einem tagtäglich von tollen Büchern vorgeschwärmt wird (Morwenna liest nicht unter sieben die Woche, schon da möchte man grün vor Neid werden), sind Geldbeutel und Regalplatz akut bedroht.

In einer anderen Welt (Among Others (2011), übersetzt von Hannes Riffel): ISBN 978-3-942396-75-2
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Eselsohr

Das Drachenschwert von Daniel HanoverEs ist mal wieder an der Zeit, eine frisch erschienene Übersetzung zu empfehlen, an der ich mit großem Vergnügen gearbeitet habe: Daniel Hanovers Das Drachenschwert (ISBN 978-3-442-26865-8), den ersten Band der auf fünf Teile ausgelegten Reihe Dolch und Münze.
Damit sind auch die beiden Hauptkomponenten abgesteckt, die die Welt antreiben, die die Drachenimperatoren den dreizehn von ihnen geschaffenen Rassen hinterlassen haben: Konflikt, teils offen-kriegerisch, teils verdeckt-intrigant umgesetzt, und Handel, Bank- und Geldwesen. Diese beiden unterschiedlichen Wege zur Macht erweisen sich jeder auf seine Art als grausam, werden aber immer von Menschen eingeschlagen, die ihre ureigenen Gründe für das Machtstreben haben.

Da wäre zunächst Marcus Wester, Söldnerhauptmann und Schrecken von Königen, dem sein Trupp abhanden kommt, als er von einem Fürsten zum Kriegsdienst erpresst werden soll. Um einen Vertrag als Karawanenwache einzuhalten, sieht Wester sich gezwungen, kurzfristig eine Gruppe Schauspieler anzuheuern, die sich als Wächter ausgeben. Gemeinsam mit seinem lakonischen Stellvertreter Yardem bildet er zwar nicht nur im Kampf ein unschlagbares Duo, doch hat er keine Ahnung, was ihn auf dem Treck nach Norden wirklich erwartet: In der Karawane befindet sich nämlich auch das Bankmündel Cithrin, die inkognito die Reichtümer der Bank in ihrem Wagen aus der Stadt schmuggelt.
In die Gegenrichtung unterwegs ist dagegen der dickliche Bücherwurm Geder Palliako, ein junger niederer Adliger auf seinem ersten Feldzug, der leider nicht die erhoffte Schwertkameradschaft erlebt, sondern als Kompanieclown verlacht wird.
Und im Herzen der Macht der erstgeborenen Menschen, der ehemaligen imperialen Hauptstadt von Antea, sitzt Baron Dawson Kalliam, Freund des Königs aus Kindertagen, Ehrenmann, und verzweifelt darum bemüht, das Reich zusammenzuhalten, notfalls auch mit Verschwörungen und Gewalt.

Hanover, der bereits mit George R.R. Martin zusammengearbeitet hat und mit dessen Assistenten unter einem anderen Pseudonym SF schreibt, entwirft Dolch und Münze mit vielen Parallelen zu Das Lied von Eis und Feuer: Die Intrigenspiele des Adels, das Geschacher um Macht, bei dem leichtfertig mit dem Leben der Untertanen gespielt wird, der marode Zustand der Welt, so dass das gegenseitige Zerfleischen nur einer winzigen Anregung durch übernatürliche Mächte von Außen bedarf – und nicht zuletzt die Kapitel, die die Namen der Hauptfiguren tragen, aus deren Perspektive abwechselnd erzählt wird. Dennoch liest sich Das Drachenschwert eher wie ein erwachsenerer Bruder von Martins Epos, denn der Fokus liegt nicht nur beim Umgang mit den Figuren letztlich auf feinen Beobachtungen und Veränderungen, die sich zunächst oft im Verborgenen abspielen, aber später die Welt erschüttern werden. Über die menschlichen, nicht über-menschlichen Helden, die sich nicht immer in die antizipierte Richtung entwickeln, werden politische und gesellschaftliche Themen verhandelt, und ganz nebenbei zaubert Hanover individuelle Interpretationen etlicher Figuren-Klischees – des Tyrannen, des “auserwählten” Waisenkindes, des Heroen, die vermutlich auch die alten Haudegen unter den LeserInnen eiskalt erwischen werden.
Damit gelingt es Hanover, in diesem Auftakt die Anlagen für etwas zu schaffen, das der epischen Fantasy ein realistisches Update geben kann, was die Komplexität der Welt (nicht der Weltschöpfung, wohlgemerkt) und der Beziehungen der Menschen darin angeht. Man darf gespannt sein, was in dieser Reihe noch drinsteckt, wenn sie schon mit dem ersten Band ein so spannendes Geflecht von Figuren und Ereignissen vorlegt und das “Werden” großer Spieler in der Welt auf eine ziemlich einzigartige Art und Weise beleuchtet.

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Der Dieb von Megan Whalen TurnerMit der Übersetzung von Megan Whalen Turners Die Legenden von Attolia  ist für mich – so abgedroschen das auch klingen mag – ein Herzenswunsch in Erfüllung gegangen. Kaum eine Fantasyserie hat mich in den letzten Jahren so überzeugt wie diese außergewöhnliche Reihe.

Der Dieb Gen hat durch Prahlereien mit seinen Missetaten selbst kräftig dazu beigetragen, dass er im Gefängnis des mediterranen Kleinstaats Sounis gelandet ist. Bald bietet sich ihm die Gelegenheit, vorzeitig die Freiheit wiederzuerlangen: Er soll dem Magus des Königs helfen, ein sagenumwobenes Artefakt, das die Macht des Herrschers mehren soll, aus dem Nachbarland Attolia zu stehlen …

Was so als scheinbar ganz unspektakuläre Queste einer kleinen Schar ungleicher Gefährten beginnt, erweist sich schon im Laufe des ersten Bandes als weitaus mehr als das. Doch auch das von der Autorin mit spürbarem Genuss betriebene Verwirrspiel, in dem kaum etwas so ist, wie es auf den ersten Blick zu sein scheint,  macht noch nicht den hauptsächlichen Reiz der Legenden von Attolia aus.

Dieser besteht vielmehr darin, wie glänzend es Megan Whalen Turner ohne grelle Effekte, aber dafür mit viel Wärme und Humor gelingt, etwas, das zu einer nicht weiter weltbewegenden Schilderung genretypischer Intrigen und Konflikte hätte geraten können, zu einem über sich selbst hinausweisenden Blick auf das menschliche Dasein zu machen. Welchen Wert die Autorin dabei mit einem Augenzwinkern immer wieder gerade mythischen und phantastischen Geschichten als Weltdeutungshilfe zubilligt, muss eigentlich jeden Fantasyfan bezaubern. Die differenziert gezeichneten Charaktere und die lebensvolle Welt einer in die Frühe Neuzeit hinübergeretteten griechischen Antike tun ein Übriges, die Lektüre zu etwas Besonderem zu machen.

Hier finden sich Leseproben aus den ersten drei Bänden, die am 15. November 2011 erscheinen:

Band 1: Der Dieb (ISBN: 978-3-442-26843-6)
Band 2: Die Königin (ISBN: 978-3-442-26849-8)
Band 3: Der Gebieter (ISBN: ISBN: 978-3-442-26852-8)

Meine Rezensionen zu den englischsprachigen Originalen gibt es hier:

Band 1: The Thief
Band 2: The Queen of Attolia
Band 3: The King of Attolia

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Wir freuen uns, heute den ersten Gastbeitrag in unserem Blog präsentieren zu können: Eine Lese-Empfehlung von Timpimpiri für einen von ihr übersetzten Roman. Timpimpiri ist ansonsten in unserem Forum anzutreffen.

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Es gab in der letzten Zeit nicht viele Bücher, die mich so richtig fasziniert haben, und am Anfang war ich auch bei Glenda Larkes Die Inseln des Ruhms etwas skeptisch. Die Grundidee, einen Archipel aus Inselreichen zum Schauplatz einer sich in ihrer ganzen Dimension erst allmählich entfaltenden Geschichte zu machen, hat mir zwar gefallen, aber im ersten Band (Die Wissende) war der Handlungsort auf eines dieser Reiche verengt, und zusammen mit der Anzahl der Akteure erinnerte das alles insgesamt sehr an ein Kammerspiel – wenn auch an ein durchaus interessantes und eines, das mit einer sehr ungewöhnlichen Hauptdarstellerin aufwarten konnte.

Im zweiten Band mit dem Titel Der Heiler weitet sich der Schauplatz, und jetzt zeigt die australische Autorin, die seit einiger Zeit in Malaysia lebt, dass sie das, was sie im ersten Band versprochen hat, auch tatsächlich hält. Denn nachdem Flamme und Glut von Gorthen-Nehrung nach Mekaté gelangt sind – sozusagen im Off zwischen Band 1 und Band 2 –, bringt sie die beiden Heldinnen mit Kelwyn Gilfeder zusammen, dem Neffen von Garwin Gilfeder, der schon in Band 1 seinen Auftritt hatte.
Das zufällige Zusammentreffen der drei bildet den fulminanten Auftakt des zweiten Bandes – mit einer Szene und einem Anfang, der seinesgleichen sucht: “Ich bin Glut und Flamme das erste Mal begegnet, als ich meine Frau umgebracht habe. Genauer gesagt, am Abend davor.” Das machte neugierig, und meine Neugier wurde nicht enttäuscht. Sowohl die Umstände der Ermordung wie auch die weitere Entwicklung der Geschichte zeugen von einem hohen Maß an Originalität und Intensität. Sicher, richtig groß im epischen Sinne ist auch dieser Band nicht – das wäre auch ein eigenartiger Bruch zum ersten gewesen –, aber er hat ungewöhnliche Ideen, wunderschöne neue Charaktere, einen hintergründigen, humorvollen Ton, und er wartet mit einem Showdown auf, der noch überraschender und frappierender ist als der Anfang. Keine Frage, die Autorin hat die Prämissen ihrer Geschichte wirklich durchdacht und folgt ihnen konsequent bis zum – teilweise bitteren, augenöffnenden – Ende; das gilt sowohl für die Haupthandlung (die abwechselnd von Kelwyn und Glut erzählt wird), wie auch für die Rahmenhandlung um Feldforscher Shor iso Fabold.

Glenda Larke, das ist für mich nach diesem zweiten Band klar, ist eine mutige Autorin, die zwar bemessen an Handlungssträngen, Verflechtungen etc.pp. eine eher kleine Geschichte geschrieben hat, die aber dafür umso mehr in die Tiefe geht und Aspekte des Menschseins und des Lebens so inszeniert, dass ich beim Übersetzen tatsächlich das ein oder andere Mal innehalten musste. Dass sie darüber hinaus vollkommen glaubwürdige und interessante Frauenfiguren erschaffen hat – sodass Die Inseln des Ruhms jeden Bechdel-Test mit Auszeichnung bestehen würden –, ohne eine vorwiegend “weibliche” Geschichte geschrieben zu haben, machte das Lesen und Übersetzen des Bandes zu einem wahren Genuss. Was, wie ich schon mal verraten möchte, auch beim dritten Band der Fall war.

zur Leseprobe bei Random House

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