Forumos-Übersetzer empfehlen: Carolyn Lee Adams – Ruthless – Die Gnadenlose

Heute gibt es wieder einen Gastbeitrag aus der Rubrik Übersetzer-Empfehlung. Die Übersetzerin Susanne Gerold ist in unserem Forum als Timpimpiri unterwegs.

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Wenn man einseitige Gespräche mit dem Mond in lebensbedrohlichen Situationen als Phantastik betrachten könnte, oder das Überwältigtsein von einem grandiosen Sternenhimmel und der Weite des Universums irgendwo allein in der Wildnis als fantasyhaft, und wenn man dann noch die Fähigkeit, enorme Kraftquellen in sich zu erschließen, irgendwie als Magie bezeichnen könnte – dann würde mir die Einleitung zu meiner Empfehlung für dieses Buch ein bisschen leichter fallen.
Denn dann würde ich einen Fantasy-Roman vorstellen, der zu diesem Blog passt. Aber um der Wahrheit die Ehre zu geben: Ruthless – Die Gnadenlose ist keine Fantasy, nicht einmal Phantastik im allgemeineren Sinne. Es handelt sich vielmehr um einen Serienkiller-Roman, der allerdings eines ist: phantastisch gut.
Phantastisch ist z.B. die Protagonistin selbst, die sechzehnjährige Ruth, die von einem Serienkiller entführt wird und das Schicksal diverser Vorgängerinnen erleiden soll. Aufgrund ihrer geringen Körpergröße hält der Killer sie jedoch für jünger, als sie tatsächlich ist, und als ehrgeizige Reitsportlerin verfügt sie über eine Willensstärke, wie sie ihm noch nie untergekommen ist. Vor allem aber ist sie in der Lage, Schmerz auszuhalten, körperliche Symptome kraft ihres Willens zu unterdrücken, sich nicht wie ein Opfer zu verhalten. “Denk nicht wie ein Opfer”, zieht sich ein bisschen wie ein Mantra durch das Buch. Und so ist es nicht verwunderlich, dass sie eben nicht die erstbeste, sondern die erste vielversprechende Gelegenheit nutzt, um zu fliehen – nach fünfzig von etwas mehr als dreihundert Seiten.
Und das ist das andere Phantastische. Noch nie habe ich einen Roman gelesen – und schon gar nicht übersetzt –, in dem die Protagonistin lange Zeit unbekleidet herumläuft und dies niemals irgendwie voyeuristisch oder sonstwie unangenehm ausgeschlachtet wird. Es ist einfach der beste Moment, um wegzulaufen, als der Killer sie draußen mit einem Wasserschlauch abspritzt, nachdem er sie unter einem Haufen Pferdeheu begraben in eine einsame Jagdhütte verschleppt hat und nun der Meinung ist, sie würde stinken. Als er sich mit sich selbst beschäftigt, flieht sie nackt in die Wildnis – etwas, womit er nie gerechnet hat.
Phantastisch ist auch die folgende Flucht. Ruth versucht, in die Zivilisation zurückzukehren, kennt aber diese Wildnis nicht – die Blue Ridge Mountains, die nach dem Übersetzen prompt auf meiner Liste vermutlich nie verwirklichter Urlaubsziele gelandet sind –, und sie hat weder etwas zu trinken noch etwas zu essen dabei. Dennoch gelingt es ihr dank ihrer enormen Willenskraft, durchzuhalten – und irgendwann den Jäger zum Gejagten zu machen.
Begleitet wird ihr Kampf ums Überleben von Gedanken an das, was er ihr – als sie noch in der Jagdhütte in seiner Gewalt war – vorgeworfen hat, von ihren inneren Auseinandersetzungen mit ihrer Moral, ihrem Leben, und wir erleben nichts weniger als die wunderbare Wandlung eines Mädchens, das durch eine derart existenzielle Situation zutiefst herausgefordert wird und diese Herausforderung so meistert wie sie einen Wettkampf meistern würde: durch eine Mischung aus Anpassung an die Gegebenheiten und den unbedingten Ehrgeiz, zu gewinnen.
Was mich beim Übersetzen dieses Romans mit einer ungewöhnlichen, aber dennoch glaubwürdigen Heldin besonders begeistert hat, ist aber nicht nur Ruths geistige Stärke und körperliche Zähigkeit und ein absolut – schon wieder – phantastischer Showdown.
Es ist auch die Sprache, die Atmosphäre, der gesamte Erzählton. Die Geschichte bekommt einen Drive, eine Intensität (auch durch zwischengeschachtelte Rückblenden in Ruths Leben und das des Killers), entwickelt einen ganz eigenen Sog. Häufig musste ich an Filme wie Die Nacht des Jägers oder – an anderen Stellen – Life of Pi: Schiffbruch mit Tiger denken.
Selten habe ich es so bedauert, dass die Arbeit an einer Übersetzung irgendwann beendet war. Und obwohl ich noch sehr viel mehr über Ruthless – Die Gnadenlose schreiben könnte, möchte ich es jetzt hierbei belassen – und lediglich noch darauf hinweisen, dass auf meinem Blog eine ausführlichere Rezension zu finden ist und es dort demnächst auch ein Interview mit der Autorin Carolyn Lee Adams geben wird.

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