Bibliotheka Phantastika gratuliert nachträglich Elizabeth A. Lynn, die bereits am vergangenen Mittwoch ihren 70. Geburtstag feiern konnte.* Immer wieder bzw. eigentlich sogar erstaunlich oft kommt es vor, dass Autoren oder Autorinnen in der Phantastikszene auftauchen, deren frühe Werke zu großen Hoffnungen Anlass geben – und die nach einem Dutzend Kurzgeschichten und/oder einer Handvoll Romane schlagartig verstummen und wieder aus dem Blickfeld der Öffentlichkeit verschwinden. Genau das war auch bei der am 08. Juni 1946 in New York City geborenen Elizabeth A. Lynn der Fall.
Lynns erste Story “We All Have to Go” erschien 1976 in der Original-Anthologie Tricks and Treats, und interessanterweise wurde auch ein Großteil der anderen fünfzehn Geschichten, die sie bis 1981 geschrieben hat, in Original-Anthologien (die zu diesem Zeitpunkt noch ein ernstzunehmendes Marktsegment waren) und nicht in den einschlägigen SF&F-Magazinen veröffentlicht.
1978 kam mit A Different Light (dt. Das Wort heißt Vollkommenheit (1981)) ihr erster Roman auf den Markt, in dem der an einer unheilbaren Krebserkrankung leidende Maler Jimson Alleca vor einer schwierigen Entscheidung steht: Soll er auf seiner Heimatwelt New Terrain bleiben, wo sein Krebs so weit behandelt werden kann, dass ihm noch zwanzig oder sogar mehr Lebensjahre bleiben, oder soll er hinaus ins All fliegen, um fremde Welten und neue Motive zu entdecken, auch wenn jeder Flug durch den Hyperraum die ihm verbleibende Lebensspanne drastisch verkürzen wird? Alleca ist Künstler durch und durch, und als sein früherer Liebhaber ihm ein Foto von einer fremden Welt schickt, weiß er, was er tun muss – denn was kann es für einen Maler Größeres geben, als die Dinge einmal in einem anderen Licht zu sehen?
Mit ihrem nächsten Roman wandte sich Lynn, die auch bei ihren Stories zwischen den Genres hin und her gesprungen war, der Fantasy zu, denn Watchtower (1979) bildet den Auftakt der Chronicles of Tornor, einer aus drei Bänden bestehenden Reihe locker zusammenhängender Romane, die keine Trilogie im üblichen Sinn darstellt. Watchtower erzählt die Geschichte von Ryke, einem Soldaten, der im hoch im Norden gelegenen Tornor Keep – einer von mehreren Grenzfesten, die früher einmal das Land Arun vor den kriegerischen Horden des nördlichen Nachbarlandes Anhard geschützt haben – viele Jahre lang seinem Herrn, Lord Athor, gedient hat. Doch jetzt ist Athor tot, und der aus dem Süden Aruns stammende Eroberer Col Istor, der neue Herrscher der Feste, bietet Ryke an, als Mitglied der Wache in seine Dienste zu treten – denn nur dann wird er Errel, den Sohn Athors, am Leben lassen. Ryke tut sein Bestes, um einerseits Col Istor zu dienen und sich andererseits so gut es geht um Errel – der den Hofnarren geben muss – zu kümmern. Als eines Tages zwei Boten nach Tornor kommen, die sich alsbald als ausgezeichnete Kriegerinnen entpuppen, bietet sich ihm ein Ausweg aus seinem Dilemma: mit Hilfe der beiden Frauen können er und Errel nicht nur fliehen, sondern sie dürfen ihre Retter auch in deren Heimatdorf Vanima begleiten, wo Ryke eine Gemeinschaft kennenlernt, die völlig anders lebt, als er es bislang kannte. Und das bezieht sich nicht nur darauf, dass diese Cheari Tanz und waffenlose Kampfkunst auf einzigartige Weise miteinander verschmolzen haben …
Wie schon Lynns Erstling ist auch Watchtower ein eher langsam erzählter, leiser Roman, der für manche Leser und Leserinnen sogar spannungsarm wirken mag, da es vergleichsweise wenig Action gibt. Stattdessen punktet er mit fein gezeichneten, psychologisch glaubwürdigen Figuren und originellen, zum Zeitpunkt seines Erscheinens durchaus revolutionären Ideen wie der pazifistischen, egalitären Gesellschaft der Cheari, in der auch gleichgeschlechtliche Beziehungen ganz selbstverständlich ihren Platz haben, und dürfte einer der ersten Fantasyromane überhaupt sein, in dem homosexuelle und lesbische Hauptfiguren auftauchen.
In den beiden jeweils hundert oder zweihundert Jahre nach dem jeweiligen Vorgängerband angesiedelten Folgebänden wird die Geschichte Aruns und seiner Bewohner weitererzählt, wobei die Cheari und ihre Nachfahren eine wichtige Rolle spielen. So haben sie sich in The Dancers of Arun (1979) bereits fast in ganz Arun ausgebreitet und spielen auch im Leben von Kerris, dem Sohn eines Kriegsherrn, der als Kind durch einen Schwerthieb einen Arm verloren hat und somit als Krieger nutzlos ist, eine wichtige, allerdings ganz andere als vielleicht erwartete Rolle. Der dritte Band The Northern Girl (1980) führt uns schließlich tief in den Süden Aruns, in die Handelsmetropole Kendra-on-the-Delta. Hier lebt Sorren, die eigentlich aus dem Norden stammt, als eine Art befristete Leibeigene eines großen Handelshauses – doch sie hat Visionen von Tornor Keep und will unbedingt dorthin, wird allerdings in die Intrigen verwickelt, die den politischen Alltag der reichen Stadt im Flussdelta bestimmen …
In diesen drei Romanen, in denen Magie anfangs eigentlich keine und im weiteren Verlauf nur eine marginale Rolle spielt, entwirft Elizabeth A. Lynn das Bild einer Gesellschaft, in die im Laufe der Zeit immer mehr pazifistische Ideale Eingang finden (was nicht bedeutet, dass es keine Konflikte mehr gibt) und die in ihrer Offenheit neuen Ideen und Lebensweisen gegenüber und der Selbstverständlichkeit, mit der gleichgeschlechtliche Beziehungen akzeptiert werden, fast schon utopische Züge trägt. Die in vielerlei Hinsicht eher ungewöhnlichen Chronicles of Tornor sind auch auf Deutsch erschienen, und das sogar zweimal: zuerst als Die Chronik von Tornor mit den Einzeltiteln Die Zwingfeste, Die Tänzer von Arun und Die Frau aus dem Norden (alle 1983) und dann noch einmal als Die Türme von Tornor mit den Einzeltiteln Die Winterfestung (2000), Der Rat der Hexer und Die Träumer von Kendra (beide 2001).
Zu Beginn der 80er Jahre schien Elizabeth A. Lynn am Beginn einer großen Karriere zu stehen, denn sie hatte nicht nur vier Romane veröffentlicht, die sehr positiv aufgenommen worden waren, und mit einem dieser Romane – Watchtower – 1980 zudem den World Fantasy Award gewonnen, sondern darüberhinaus für die Erzählung “The Woman Who Loved the Moon” (aus der von Jessica Amanda Salmonson herausgegebenen Anthologie Amazons! (1979)), die später als Titelstory des Sammelbandes The Woman Who Loved the Moon and Other Stories (1981; dt. Die Frau, die den Mond liebte (1984)) dienen sollte, im gleichen Jahr einen zweiten World Fantasy Award (in der Kategorie Best Short Fiction) eingeheimst. Und tatsächlich folgte schon 1981 mit The Sardonyx Net (dt. Sardonyxnetz (1983)) eine etwas andere Space Opera, die bewies, dass sie auch dieses Subgenre mit ungewöhnlichen Themen bereichern konnte.
Doch The Silver Horse (1984; dt. Das silberne Pferd (1989)), ein nach einer ersten kurzen Schaffenspause veröffentlichtes Jugendbuch, wirkte – vor allem im Vergleich mit ihren zuvor erschienenen Romanen – ziemlich belanglos, und danach kam lange nichts mehr. Wie Lynn in einem Interview mit dem Fachmagazin Locus erzählt (das man in Auszügen hier nachlesen kann), litt sie ab den frühen 80er Jahren an einem massiven Writer’s Block, den sie erst Mitte der 90er Jahre überwinden konnte. Allerdings scheint sie ihn nicht gänzlich oder dauerhaft überwunden zu haben, denn nach dem aus den Bänden Dragon’s Winter (1998) und Dragon’s Treasure (2003) bestehenden Fantasy-Zweiteiler um Karadur Atani sowie einer Erzählung für eine Originalanthologie ist sie wieder verstummt. Was man in Anbetracht der Tatsache, dass sie die SF und die Fantasy um ungewöhnliche Facetten bereichert hat und überdies auch eine stilistisch interessante Autorin war/ist, durchaus bedauern kann – und zwar ganz unabhängig davon, ob man ihre Themen und Herangehensweisen mag oder nicht.
* – ich habe mir lange überlegt, ob ich diesen Text angesichts der mehrtägigen Verspätung überhaupt noch veröffentlichen soll, aber da die Postings hier momentan eher dünn gesät sind und er schon lange halb fertig war, habe ich mich letztlich doch dafür entschieden, ihn endlich ganz fertig zu machen und zu posten, statt das halb fertige Fragment in die Tonne zu treten
Besser, eine Woche später, als gar nicht 😉
Die Autorin klingt interessant, gerade die Tatsache der leiseren Töne und der pazifistischen Grundhaltung, der Offenheit gegenüber gleichgeschlechtliche Beziehungen und Fremdem verlockt mich … wobei ich auch den Konflikt des Protagonisten ihres ersten Romans ziemlich spannend finde, auch wenn er nicht neu ist: die Lebensspanne verlängern unter der Vorausseztung, in gewohnten, sicheren Bahnen zu bleiben, oder noch einmal ausbrechen und kurz, aber richtig brennen?
Und wo nehme ich jetzt die Zeit zum Lesen her? 😉
Danke für diese Vorstellung, Gero. Ich finde es immer wieder interessant, von AutorInnen zu lesen, die wie ein kurzes Leuchtfeuer mit interessanten Werken aufflackerten, aber leider nicht auf Dauer in Erinnerung blieben. Du müsstest doch mal ein Buch oder zumindest einen Artikel über die zahllosen fast vergessenen FantasyautorInnen herausbringen. Über die bekannten wird eh genug geschrieben. 😉
Ah, je … das kommt davon, wenn man sich vornimmt, auf die Kommentare zu antworten, wenn man das nächste Posting einstellt, und dann mit dem Kopf schon wieder woanders ist … Passend zum verspäteten Posting jetzt also eine seeeehr verspätete Anwort, sorry for this …
@ Timpi:
Ich habe Das Wort heißt Vollkommenheit damals gleich nach Erscheinen gelesen (weil ich immer neugierig auf die Schreibe neuer Autoren und Autorinnen war), und der Roman hat mich ziemlich berührt, und zwar gerade weil er mal ganz weit weg von den üblichen Plots war, in denen wahlweise eine Welt, ein Volk, eine Galaxis oder gar das ganze Universum gerettet werden muss. Nein, in diesem Fall geht es um eine persönliche Entscheidung, die in erster Linie Auswirkungen auf das persönliche Schicksal des Protagonisten hat, und damit war der Plot viel näher dran an dem, mit dem sich der Normalmensch so herumschlägt (denn unsereinem fällt doch ziemlich selten die Aufgabe zu, die Welt etc.pp. zu retten, oder? 😉 ). Und Elizabeth Lynn hat gezeigt, dass man ein solches Thema auch im Rahmen eines SF-Romans spannend aufbereiten kann (wobei die Spannung natürlich anders erzeugt wird als bei den Weltenretter-Plots).
Interessanterweise geht es auch bei den Chronicles of Tornor fast immer um Entscheidungen, die zunächst nur Auswirkungen auf das Leben bzw. das persönliche Schicksal der Protagonisten haben (auch wenn sie manchmal Dinge in Bewegung setzen, die dann viel weitreichendere Auswirkungen haben). Ich könnte mir vorstellen, dass Lynn dieses Thema angesichts ihrer persönlichen Situation bzw. der Entscheidung, die sie selbst getroffen hatte (denn in den 70ern offen als lesbische Frau zu leben, war ganz sicher nicht nur einfach), sehr am Herzen gelegen hat. Und das wiederum könnte mit ein Grund sein, warum ihre Romane – wenn man sich auf sie einlässt – durchaus spannend und mitreißend sind, auch wenn die Handlung generell eher unspektakulär daherkommt.
@ Pogo:
Ich mache mir durchaus Gedanken über eine mögliche “Zweitverwertung” dieser Texte, aber die Sache ist nicht ganz so einfach. Zunächst einmal allein schon deshalb, weil die Texte doch ziemlich heterogen sind, sich in den fünf Jahren, in denen diese Reihe läuft, verändert haben (ob zum Besseren oder Schlechteren müssen/werden die Leser & Leserinnen beurteilen), was jedem “lexikalischen” Ansatz genauso zuwiderläuft wie die Tatsache, dass gerade die bekannteren Autoren und Autorinnen vergleichsweise kurz oder zumindest sehr “anders” abgehandelt werden als die unbekannteren (man nehme nur die Postings zu Michael Moorcock oder Gene Wolfe).
Ich könnte dieses Problem natürlich umgehen, indem ich mich – wie du ja selbst anregst – auf die unbekannteren Autoren & Autorinnen konzentriere – nur, wo zieht man da den Trennstrich? Wer ist unbekannt und wer nicht? Und was ist mit all den Autorinnen & Autoren, die irgendwo am Rande des Genres angesiedelt sind, und die in eine Reihe von Blogposts aufzunehmen ich keinerlei Skrupel habe – aber wäre das auch in einem Buch in Ordnung?
Wie gesagt, ich denke durchaus über diese Dinge nach, bin aber noch nicht zu einer endgültigen Entscheidung gekommen. We’ll see …