Bibliotheka Phantastika erinnert leicht verspätet an T.H. White, dessen Geburtstag sich gestern zum 110. Mal gejährt hat. Im Reigen der Autorinnen und Autoren, die einen mehr oder weniger bedeutenden Beitrag zur Fantasy geleistet haben, ist der am 29. Mai 1906 in Bombay, Britisch-Indien, (dem heutigen Mumbai) geborene Terence Hanbury White wahrscheinlich eine der tragischeren Gestalten. Um näher auf die Gründe einzugehen, die White zeit seines Lebens zu einem von Ängsten geplagten und unter dem Gefühl drohenden Unheils leidenden Mann gemacht haben – Gründe, zu denen laut seinen Biographen eine unglückliche Kindheit (Whites Vater war Alkoholiker, seine Mutter kalt und abweisend), die sadistischen Quälereien, denen er in einem englischen Internat ausgesetzt war, eine Tuberkulose-Erkrankung in jungen Jahren sowie vermutlich eine latente Neigung zur Homosexualität zählen –, ist an dieser Stelle nicht der geeignete Ort. Aber zu alledem passt irgendwie, dass auch sein Hauptwerk The Once and Future King erst mehr als dreißig Jahre nach seinem Tod in der von ihm gewünschten Form veröffentlicht wurde.
T.H. Whites literarische Karriere begann 1929 mit der Veröffentlichung zweier Gedichtbände, auf die zwischen 1931 und ’33 fünf nicht-phantastische Romane folgten, an die sich wiederum zwei Katastrophenromane anschlossen. 1936 begann er schließlich mit den Arbeiten an dem Zyklus The Once and Future King, den man wohl am ehesten als moderne Interpretation von bzw. als Kommentar zu Sir Thomas Malorys Le Morte d’Arthur bezeichnen kann.
Im ersten Band The Sword in the Stone (1938) widmet sich White, der Malory bereits in seiner Kindheit gelesen hatte, Artus’ Jugend und damit einer Zeitspanne, die Malory ausgespart hatte. In ihm wird gezeigt, wie Merlyn den jungen Art(us) – bzw. Wart, wie er anfangs genannt wird – u.a. dadurch unterrichtet bzw. auf seine Aufgabe als Herrscher Britanniens vorbereitet, indem er ihn in verschiedene Tiere verwandelt. Aber natürlich erlebt Wart auch in Menschengestalt diverse Abenteuer und begegnet beispielsweise einem Geächteten namens Robin Wood. Schon in diesem Band treten immer wieder Anachronismen auf, die nicht zuletzt damit zu tun haben, dass Merlyn – im Gegensatz zu allen anderen Menschen – rückwärts in der Zeit lebt. Im zweiten Band The Witch in the Wood (1939) bekommt es der mittlerweile zum König gekrönte Artus mit König Lot und rebellischen Baronen zu tun und entwickelt das Konzept der Tafelrunde, während im Mittelpunkt des dritten Bandes The Ill-Made Knight (1940) Lancelot steht, der zwar Artus’ bester Freund und tapferster Ritter ist, aber auch ein überaus hässlicher, affenartiger Mann (eben der titelgebende “Ill-Made Knight”). Was Artus’ neue Königin Guenever jedoch nicht daran hindert, sich mit ihm anzufreunden und sich schließlich in ihn zu verlieben – und wir alle wissen, wo das hinführen wird: nämlich letztlich zum im vierten Band The Candle in the Wind (1958) thematisierten Untergang Camelots.
Wer sich über die lange Pause zwischen der Veröffentlichung des dritten und vierten Bandes wundert, dem/der sei verraten, dass The Candle in the Wind zudem – und ganz im Gegensatz zu den Vorgängerbänden – nie als einzelner Roman erschienen ist, sondern immer nur als Teil des Sammelbands mit dem Titel The Once and Future King (1958). Was daran liegt, dass White Anfang der 40er Jahre seinem Verleger einen Brief geschickt hat, in dem er angekündigt hat, den Zyklus mit einem fünften Band mit dem Titel The Book of Merlyn (1977) abzuschließen – einem Roman, der angesichts der für White schwer zu ertragenden Schrecken des Zweiten Weltkriegs zu einem flammenden Plädoyer gegen den Krieg und für den Pazifismus geworden ist. Besagter Verleger hat The Book of Merlyn abgelehnt, und auch wenn man das vielleicht aus wirtschaftlichen bzw. Gründen des damaligen Zeitgeists nachvollziehen kann – wer will in Kriegszeiten schon ein Plädoyer für den Pazifismus verlegen, das sich über weite Strecken mehr wie ein politisches Traktat als ein Fantasyroman liest? –, dürfte diese Ablehnung White tief getroffen haben. Was wiederum mit ein Grund gewesen sein dürfte, weswegen es etliche Jahre gedauert hat, bis er nicht nur The Candle in the Wind (der zum damaligen Zeitpunkt wohl bereits vorgelegen hat) so weit überarbeitet hatte, dass er als Abschluss des Zyklus dienen konnte, sondern auch The Sword in the Stone und The Witch in the Wood durch Kürzungen und Änderungen an das neue Konzept angepasst hatte (wobei der letztgenannte Roman im Zuge dieser Überarbeitung mit The Queen of Air and Darkness auch einen neuen Titel bekommen hat). Abgesehen von einer einzigen Aunahme folgen sämtliche in englischer Sprache erschienenen Ausgaben des Once and Future King inhaltlich der Erstausgabe von 1958, d.h. in ihnen sind nur die o.g. ersten vier Bände enthalten; besagte Ausnahme (in der auch The Book of Merlyn enthalten ist, das seinerseits erst 1977 zum ersten Mal überhaupt veröffentlicht wurde), ist 1996 ebenfalls als The Once and Future King in den USA erschienen.
Auch die deutsche Ausgabe Der König auf Camelot, die 1976 – wie in den Frühzeiten der Hobbit Presse üblich – als in diesem Fall zweibändige Paperback-Ausgabe im Schuber auf den Markt kam, orientiert sich an der allgemein verbreiteten Originalausgabe, d.h. Band eins enthält die Romane Das Schwert im Stein und Die Königin von Luft und Dunkelheit, Band zwei die Romane Der missratene Ritter und Die Kerze im Wind; nach mehreren Neuauflagen und Neuausgaben erschien 2004 erstmals eine Ausgabe in einem Band. The Book of Merlyn hat es immerhin bereits 1980 als Das Buch Merlin zu einer deutschen Ausgabe gebracht.
Interessant ist vielleicht noch, dass die (nie in dieser Form ins Deutsche übersetzte) Urversion von The Sword in the Stone im englischen Sprachraum immer noch neu aufgelegt wird und die Grundlage für den gleichnamigen Disney-Zeichentrickfilm von 1963 bildet, der bei uns als Merlin und Mim bzw. Die Hexe und der Zauberer gelaufen und auch auf DVD erhältlich ist.
The Once and Future King war die erste moderne Bearbeitung des Artus-Stoffs und deutlich anders als vorangegangene Versionen, denn in ihr geht es nicht primär um Artus, den großen Feldherrn und Krieger, sondern vor allem um Fragen wie die nach dem Verhältnis von Macht und Gerechtigkeit oder die nach der Verantwortung der Herrschenden. Whites Leistung liegt u.a. darin, diese Fragen zu stellen, während er sich gleichzeitig auf alte Mythen bezieht bzw. an Malorys Le Mort d’Arthur entlanghangelt (Malory selbst taucht übrigens als Page in der Saga auf), und er dürfte durch seine Herangehensweise anderen, späteren Interpretationen des Stoffes wie beispielsweise der “realistischen” von Parke Godwin oder der “dekonstruierenden” von Richard Monaco den Boden bereitet haben.*
Auch wenn Whites sonstige, teils in der Jugendbuchecke zu verortende Beiträge zur Fantasy bzw. phantastischen Literatur neben seinem Hauptwerk vielleicht ein bisschen verblassen, sollen sie zumindest kurz erwähnt werden, denn auch sie bieten zumeist interessante Themen und Fragestellungen. In Mistress Masham’s Repose (1946; dt. Das Geheimnis von Liliput (1951), NÜ als Schloss Malplaquet oder Lilliput im Exil (1981)) geht es um eine Liliputaner-Kolonie, die Gulliver von seinen Reisen mitgebracht hat und die jetzt im überwucherten Garten eines englischen Landhauses lebt, während The Elephant and the Kangaroo (1947; dt. Mr White treibt auf der reissenden Liffey nach Dublin (1984)) sich um eine ins zeitgenössiche Irland verlegte Sintflut dreht, bei der der überzeugte Atheist Mr White (der dem gleichnamigen Autor gar nicht so unähnlich ist) sich doch tatsächlich bemüßigt sieht, auf göttlichen Befehl eine Arche zu bauen, und in The Master (1957; dt. Der Herrscher im Fels (1983) bekommen es die Zwillinge Judy und Nicky auf dem winzigen Felseiland Rockall mit einem mehr als 150 Jahre alten Wissenschaftler zu tun, der fast wie ein moderner dunkler Bruder Merlins wirkt und vorhat, die Welt zu vernichten, aber die Menschheit zu retten. Last but not least sind in The Maharajah and Other Stories (1981; dt. Kopfkalamitäten und andere Geschichten (1982)) so ziemlich alle von Whites phantastischen Kurzgeschichten versammelt.
Was gäbe es noch über T.H. White zu sagen, der am 17. Januar 1964 im Alter von 57 Jahren an Bord eines Schiffs vor Piräus an Herzversagen gestorben ist? Viel mehr als dieser Beitrag leisten kann und will. Deshalb vielleicht zum Abschluss ein Zitat aus dem weiter oben als politisches Traktat bezeichneten Buch Merlin, das White Merlin in den Mund legt, und in dem sichtbar wird, wie er auf die Menschen und die Welt geblickt hat: “Nach unseren Feststellungen setzen sich zur Zeit je hundert Vertreter der menschlichen Rasse politisch aus einem Weisen, neun Schurken und neunzig Toren zusammen. Das sind die Feststellungen eines optimistischen Beobachters. Die neun Schurken versammeln sich unter dem Banner des Schurkischsten und werden “Politiker”; der Weise macht nicht mit, weil er weiss, dass er eine hoffnungslose Minderheit ist, und widmet sich der Poesie, der Mathematik oder der Philosophie; die neunzig Toren trotten derweil hinter den Fahnen der neun Schurken je nach Neigung in die Labyrinthe des Betrugs, der Bosheit und der Kriege. Sancho Panza hat festgestellt, es sei angenehm, auch nur eine Schafherde zu kommandieren, und deshalb erheben die Politiker ihre Banner. Darüber hinaus ist es für die Schafe gleichgültig, was auf dem Banner steht. Ist es Demokratie, dann werden die neun Schurken Abgeordnete; ist es Faschismus, werden sie Parteiführer; ist es Kommunismus, werden sie Kommissare. Nichts ist anders außer den Namen. Die Toren sind immer noch Toren, die Schurken immer noch Führer, das Ergebnis ist immer noch Ausbeutung. Was den Weisen angeht, so ist sein Los unter jeder Ideologie so ziemlich das gleiche. In der Demokratie wird man ihn ermuntern, in einer Dachkammer zu verhungern, im Faschismus steckt man ihn in ein Konzentrationslager, im Kommunismus wird er liquidiert. Das ist eine optimistische, aber insgesamt wissenschaftliche Feststellung über die Gepflogenheiten des Homo impoliticus.”**
* – in diesem Zusammenhang ist es bedauerlich, dass ich es nicht geschafft habe, einen Text zu Gillian Bradshaw zu verfassen, die ebenfalls in diesem Monat Geburtstag hatte, und die für ihre Artus-Trilogie Down the Long Wind einen ganz anderen, romantisierenden Ansatz gewählt hat (auch wenn die Stimmung im Verlauf der drei Bände deutlich düsterer wird, als sie es zu Anfang ist), und die damit eine Nachdichtung des Artus-Stoffs geschaffen hat, die weithin als eine der schönsten gilt.
** – aus Das Buch Merlin, übersetzt von Irmela Brender, Diederichs 1980, S. 52/53
Nur noch ein Jahr bis zum Einundelfzigsten. 😉
Yepp. 🙂
So gesehen hätte ich auch noch ein Jahr warten können, statt mir heute hektisch einen abzubrechen – aber hinterher ist man immer schlauer.
Andererseits war der letzte Blogbeitrag schon wieder so lange her – weil es bei zwei, drei im Laufe des Mai möglichen KandidatInnen so gar nicht hingehauen hat -, dass ich mich dann doch endlich mal aufraffen wollte. Sonst komme ich womöglich noch aus der Übung … 😉
Ein gelungener Beitrag. Fand ich sehr interessant zu lesen, da mir der Name T. H. White zwar in Verbindung mit der Artus-Saga ein Begriff war, ich aber eigentlich nichts über ihn wusste und auch nichts von ihm gelesen habe.
Und das Zitat finde ich auch toll. Allein das macht mir Lust, den Autor zu lesen. 😉
Die Verfilmung “Die Hexe und der Zauberer” hat mich als Kind übrigens, neben “Taran und der Zauberkessel”, enorm geprägt, was mein Interesse an Fantasy angeht, da ich ihn bestimmt schon, 10 bevor ich das erste Fantasybuch las, gesehen habe.