Zum 90. Geburtstag von Richard Cowper

Bibliotheka Phantastika erinnert an Richard Cowper, der heute 90 Jahre alt geworden wäre. Allerdings war Richard Cowper nur das Pseudonym des am 09. Mai 1926 in dem kleinen Dörfchen Abbotsbury in der südwestenglischen Grafschaft Dorset geborenen John Middleton Murry, Jr., das er für seine SF-Romane und -Erzählungen benutzt hat. Da sich seine SF-Romane als erfolgreicher erwiesen als die vier nicht-phantastischen Romane, die er zuvor bereits als Collin Murry veröffentlicht hatte, ist Cowper der SF treu geblieben und hat zwischen 1967 und 1986 insgesamt dreizehn Romane sowie etliche Kurzgeschichten und Erzählungen geschrieben, die in fünf Collections mehr oder weniger komplett gesammelt wurden.
Elf dieser Romane und zwei Collections sind auch auf Deutsch erschienen, erstaunlicherweise in der damals eher auf Hard SF spezialisierten Reihe Goldmann Weltraumtaschenbuch bzw. später Goldmann Science Fiction. Erstaunlich ist das vor allem deswegen, weil in Cowpers – häufig in einem Near-Future-Setting angesiedelten – Romanen zwar durchaus typische Hard-SF-Motive zu finden waren, sie sich allerdings hinsichtlich ihrer Atmosphäre, ihres fast schon poetischen Stils und ihrer Figurenzeichnung von der Hard SF der 70er und frühen 80er Jahre deutlich unterscheiden. Dennoch sind diese Romane – deren bester vielleicht The Twilight of Briareus (1974; dt. Dämmerung auf Briareus (1974)) ist – immer noch eindeutig als SF zu erkennen bzw. ihr zuzurechnen. Nicht ganz so eindeutig ist das hingegen bei der unter dem Titel The White Bird of Kinship erschienenen Sequenz, die der Grund ist, warum Cowper hier und heute überhaupt erwähnt wird. (Na gut, das ist jetzt ein bisschen gemogelt, denn formal ist das durchaus SF – allerdings eine SF, die auch für Fantasy-Afficionados interessant sein könnte.)
Den Auftakt der Sequenz (sie Trilogie zu nennen, würde sich irgendwie falsch anfühlen) bildet die Erzählung “Piper at the Gates of Dawn” (in The Magazine of Fantasy and Science Fiction, März 1976), die als eine Art Prolog dient und in das Setting einführt: Zu Beginn des dritten Jahrtausends besteht England infolge einer rund tausend Jahre zurückliegenden Katastrophe, die u.a. zu einem Anstieg des Meeresspiegels geführt hat, aus sieben Inselkönigreichen, die auf ein mittelalterliches zivilisatorisches Niveau zurückgefallen sind. Beherrscht wird das Ganze von einer dogmatischen, machtbewussten Kirche, deren Vertreter zu rigiden Methoden greifen, um ihren Machtanspruch zu erhalten bzw. durchzusetzen. Durch diese Welt zieht Tom, ein dreizehnjähriger Junge, der von einem Magier großgezogen wurde. Tom – der “Piper” des Titels – hat eine gespaltene Zunge und zwei magische Flöten, die er gleichzeitig spielen kann, und er verdient sich seinen Lebensunterhalt damit, dass er die Geschichten, die sein Begleiter Peter erzählt, mit seinem Flötenspiel untermalt. Dieses Flötenspiel hat allerdings auf die Zuhörer eine bewusstseinsverändernde Wirkung; wer Toms Flöte gelauscht hat, sieht die Welt plötzlich mit anderen Augen und beginnt, an den White Bird zu glauben, dessen baldiges Kommen die Welt verändern wird. Für die Kirche ist eine derartige Vorstellung natürlich Ketzerei – und von daher ist die weitere Entwicklung des Geschehens eigentlich vorgezeichnet.
Im Mittelpunkt des sich anschließenden Romans The Road to Corlay (1976), steht mit Thomas of Norwich ein Akolyth des White Birds, der versucht, sich nach Corlay durchzuschlagen, wo sich das Hauptquartier dieser neuen Religion befindet, und der es immer wieder mit den Falcons genannten Häschern der Kirche zu tun bekommt. Außerdem gibt es noch eine Nebenhandlung, die den Roman deutlicher als die Erzählung als SF kenntlich macht, allerdings in den beiden folgenden, jeweils mit neuen Figuren aufwartenden Romanen A Dream of Kinship (1981) und A Tapestry of Time (1982) keine Rolle mehr spielt.
Richard Cowper ist mit diesen drei Romanen und ihrem “Prolog” (der in neueren Ausgaben von The Road to Corlay mit enthalten ist) etwas gelungen, das man vielleicht am ehesten als gleichermaßen spannende wie elegische Meditation über die Entstehung, die Erstarrung und die Wiedergeburt religiöser Ideen bzw. von Religionen bezeichnen könnte, und getragen wird das alles von einem (zumindest im Original) poetischen Stil und einigen wenigen klar gezeichneten Hauptfiguren (neben denen die Nebenfiguren manchmal ein bisschen sehr blass wirken). Natürlich sollte man kein Actionfeuerwerk erwarten, aber wer eine stimmungsvolle Post-Doomsday-Geschichte sucht, in der es trotz der düsteren und bedrückenden Atmosphäre immer einen Silberstreifen am Horizont gibt, würde mit The White Bird of Kinship keine schlechte Wahl treffen.
Wie fast alles von Richard Cowper ist auch diese Sequenz auf Deutsch erschienen, und zwar als Am Tor der Dämmerung (1979), Sänger am Ende der Zeit (1986) und Das Webmuster der Zeit (1986). Allerdings liegt dem ersten Roman die alte Fassung von The Road to Corlay zugrunde, d.h., “Piper at the Gates of Dawn” ist im ersten deutschen Band nicht enthalten; immerhin findet sich die Erzählung als “Morgendämmerung” in der Cowper-Collection Die Zeitspirale (1977) und in der von Terry Carr und Martin Harry Greenberg herausgegebenen Anthologie Traumreich der Magie (1985).
The White Bird of Kinship kann man durchaus als Cowpers Vermächtnis bezeichnen, denn danach hat er nur noch einen Roman geschrieben und ist dann verstummt, da er laut eigener Aussage nichts mehr zu sagen hatte. Und am 22. April 2002 ist er – vier Wochen nach dem Tod seiner Frau, mit der er mehr als fünfzig Jahre verheiratet war (und somit nach Ansicht seiner Töchter an gebrochenem Herzen) – gestorben.

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