Bibliotheka Phantastika gratuliert Andreas, der heute 65 Jahre alt wird. Es dürfte nur wenige Künstler geben, auf die der Spruch vom Propheten, der nichts im eigenen Land gilt, so gut zutrifft wie auf den am 03. Januar 1951 in Weißenfels an der Saale geborenen Comicautor und -zeichner Andreas Martens, der seit Ende der 70er Jahre in Frankreich lebt, dort unter seinem Künstlernamen Andreas mittlerweile rund 60 Alben veröffentlicht hat und in der frankobelgischen Comicszene längst zu einer festen Größe geworden ist. Auch wenn man zugeben muss, dass eine derartige Karriere im Comic-Entwicklungsland Deutschland niemals möglich gewesen wäre, ist es ebenso erstaunlich wie bedauerlich, dass von diesem umfangreichen Œuvre bislang nur ein kleiner Teil ins Deutsche übersetzt wurde.
Andreas hat das Comiczeichnen sozusagen von der Pike auf gelernt: nachdem seine Eltern mit ihm 1960 nach Westdeutschland gezogen waren, studierte er nach Abitur und Zivildienst ein Jahr lang an der Akademie der Schönen Künste in Düsseldorf und anschließend von 1973 bis 1976 am renommierten Institut Saint-Luc in Brüssel. Parallel dazu besuchte er die Comickurse des Luc-Orient-Schöpfers Eddy Paape an der Académie Saint-Gilles, dem er auch bei dem Comic Udolfo assistierte, der 1978 für das Comicmagazin Tintin entstand.
Im gleichen Jahr, in dem Udolfo in Tintin erschien, hatte dort in der Geschichte “Un siècle pour une maison” (in Tintin 47/78) mit Rork auch Andreas’ erste selbst kreierte Comicfigur ihren ersten Auftritt, dem rasch weitere folgen sollten. Rork ist ein trotz seiner langen weißen Haare jung – oder zumindest alterslos – wirkender Mann unbekannter Herkunft, der einen langen schwarzen Mantel trägt und von Legenden und geheimnisvollen Begebenheiten fasziniert ist. Letzteres sorgt dafür, dass er immer wieder in … merkwürdige Geschehnisse verwickelt wird, bei denen es ihm zugute kommt, dass er in andere Realitäten wechseln kann. In den ersten Geschichten – die 1984 in dem Album Fragments gesammelt erschienen sind – ist Rork häufig ein eher passiver Beobachter, etwa wenn er den Wissenschaftler und Alchimisten Adam Neels besucht, der den “point fatal” (im Deutschen “Druckpunkt”) entdeckt hat – einen Punkt, der jeden kugelförmigen Körper unabhängig von seiner Größe bersten lässt, wenn man auf ihn Druck ausübt – oder erstmals Bekanntschaft mit “la tache” bzw. dem “Fleck” macht. In den im zweiten Album Passages (1984) gesammelten Geschichten kristallisiert dich dann allmählich ein roter Faden heraus, der ab dem dritten Album Le cimetière des cathédrales (1988) – der ersten Geschichte in Albenlänge – die weitere Handlung der Rork Saga bestimmt. Von nun an geht es vor allem um Rorks unbekannte Herkunft und seine Bestimmung, die er herauszufinden versucht. Nicht nur thematisch hat Andreas ein paar Geschichten gebraucht, um seine Linie zu finden, auch grafisch ist vor allem in den ersten Geschichten eine Entwicklung festzustellen, die allerdings bereits in Passages abgeschlossen ist. Oder, anders gesagt, ab hier waren fast alle Elemente vorhanden, die für Andreas’ Grafik viele Jahre lang typisch sein sollten, wie etwa der Einsatz von Schraffuren, detailverliebte Hintergründe oder auch immer wieder auftauchende architektonische und/oder geometrische Motive. Hinzu kommen teils extreme Perspektiven und ein ungewöhnliches Seitenlayout. Das alles macht Rork – zusammen mit der verrätselten, sich eher in Andeutungen als klaren Aussagen ergehenden Geschichte – zu einem gewiss nicht schnell zu konsumierenden, sondern fordernden Comic, der sich problemlos mehrfach lesen lässt; sei es, weil man auf den kunstvoll komponierten Seiten immer mal wieder etwas Neues entdeckt, oder weil sich plötzlich plottechnische Zusammenhänge erschließen, die so manche Fragen beantworten … und gleich wieder neue aufwerfen.
In gewisser Hinsicht dürfte daher Cromwell Stone (1984) eine etwas leichtere, eingängigere Lektüre darstellen. In diesem Album erzählt Andreas in grandiosen schwarzweißen Bildern die Geschichte seines Titelhelden, der zusammen mit einem Dutzend weiterer Passagiere den Schiffbruch der “Leviticus” überlebt hat und sich auf die Suche nach einem verschwundenen Freund begibt – der ebenso wie die anderen Überlebenden auf mysteriöse Weise verschollen ist. Irgendetwas war damals an Bord der “Leviticus” – und scheint jetzt für das Verschwinden der Überlebenden verantwortlich zu sein … In Cromwell Stone und den Fortsetzungen Le retour de Cromwell Stone (1994) und Le testament de Cromwell Stone (2004) zeigt sich der Einfluss, den das Werk H.P. Lovecrafts auf den jungen Andreas hatte, wohl am deutlichsten (auch wenn er in den frühen Rork-Geschichten ebenfalls zu erahnen ist), und die Geschichte ist zwar ebenfalls verrätselt und mystisch, aber leichter entschlüsselbar als die Rork Saga und eignet sich daher – und wegen ihrer faszinierenden Schwarzweiß-Grafik, in der Andreas’ großartige Schraffurtechnik voll und ganz zur Geltung kommt, so dass manche Panels an die Kupferstiche eines Gustave Doré erinnern – vielleicht am besten als Einstieg in das Œuvre dieses Ausnahmekünstlers. Vor allem, wenn man eine Vorliebe für gothic novels hat, kann man hier eigentlich nichts falsch machen.
Im fünften – oder sechsten, wenn man die 2012 erschiene Vorgeschichte Les fantômes in die Zählung mit einbezieht – Rork-Album Capricorne (1990) hatte der gleichnamige Astrologe seinen ersten Auftritt, der es einige Zeit später zur Hauptfigur der 1997 mit L’objet begonnenen, mittlerweile neunzehn Bände umfassenden und immer noch laufenden gleichnamigen Albenserie gebracht hat (und der – ganz im Gegensatz zu Rork – dem Übernatürlichen anfangs skeptisch gegenübersteht und seinen wohlhabenden Kunden bewusst etwas vormacht) und im gleichen Jahr hat Andreas mit Ailleurs eine weitere, dieses Mal ebensosehr der SF wie der Phantastik zuneigende Serie namens Arq begonnen, die mittlerweile mit dem achtzehnten Album Ici (2015) ihren Abschluss gefunden hat.
Darüberhinaus hat er mit Cyrrus (1984) und Mil (1987) zwei Bände eines ebenfalls von H.P. Lovecraft inspirierten geplanten Dreiteilers sowie diverse Einzelalben – u.a. La caverne du souvenir (1985), Fantalia (1986), Coutoo (1989; dt. Unsterblich wie der Tod (1991)), Raffington Event – Détective (1989; dt. Raffington Event – Privatdetektiv (1992)), Dérives (1991), Aztèques (1992; dt. Azteken (1992)), Le Triangle rouge (1995; dt. Das rote Dreieck (1995)) und Quintos (2006; dt. Quintos (2010)) – geschaffen.
Während der größte Teil der Einzelalben – wie man sehen kann – auch auf Deutsch erschienen ist, hat es in dieser Hinsicht bei Andreas’ Zyklen und Serien bis vor kurzem ziemlich schlecht ausgesehen. Die ersten vier Rork-Alben, die ersten beiden Cromwell-Stone-Alben und Cyrrus sind als Fortsetzungen in Schwermetall erschienen und haben es danach – mit Ausnahmen von Cyrrus – auch zu einer Albenausgabe gebracht (als Fragmente, Passagen, Der Friedhof der Kathedralen und Sternenlicht (1988-92) in der Reihe Schwermetall präsentiert bzw. als Cromwell Stone und Die Rückkehr von Cromwell Stone (1993 und ’97) in einer limitierten Ausgabe), und von Capricorne sind die ersten beiden Alben als Das Objekt und Energie (beide 1998) hierzulande auf den Markt gekommen – und das wars dann für lange Zeit.
Doch inzwischen ist mit Quintos – einer ausnahmsweise einmal nicht phantastischen, im spanischen Bürgerkrieg spielenden Geschichte, die sich grafisch deutlich von früheren Werken unterscheidet – nicht nur eines der neuesten Einzelalben von Andreas auf Deutsch erschienen, sondern mit der wirklich sehr empfehlenswerten Cromwell Stone Gesamtausgabe (2014) und der zweibändigen Rork Gesamtausgabe (2015) haben es auch bedeutende Pfeiler in Andreas’ Gesamtwerk endlich komplett nach Deutschland geschafft – und momentan sieht es so aus, als stünde tatsächlich eine Capricorn Gesamtausgabe vor der Tür. Somit besteht zumindest eine gewisse Chance, dass die eingangs erwähnte Aussage vom Propheten, der nichts im eigenen Land gilt, vielleicht in absehbarer Zeit revidiert werden muss und der Comicautor und -zeichner Andreas, der sich selbst in erster Linie als Erzähler sieht, der in den Comics das für ihn optimale Medium gefunden hat, endlich die verdiente Anerkennung erfährt.
Natürlich macht es Andreas seinen Lesern und Leserinnen häufig nicht leicht; er verfügt nicht über den schwungvollen Strich oder den Humor eines Jeff Smith, und seine Figuren mit ihren kantigen, teilweise fast schon karikierend überzeichneten Gesichtern fehlt die Körperlichkeit der Schöpfungen eines Richard Corben, doch seine unverwechselbare Grafik – vor allem seine die Grenzen des Mediums auslotenden spektakulären Seitenlayouts – und seine bewusst in der Schwebe gehaltenen und häufig mit einer gewissen distanzierten Kühle erzählten Geschichten bieten ein einzigartiges, mehrfach wiederholbares Leseerlebnis … wenn man sich auf sie einlässt.
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