Zum 75. Geburtstag von Hayao Miyazaki

Bibliotheka Phantastika gratuliert Hayao Miyazaki, der heute 75 Jahre alt wird. Viele unserer Leser und Leserinnen werden bei diesem Namen an einen oder mehrere der Animes denken, die der am 05. Januar 1941 in Tokyo geborene Hayao Miyazaki in den letzten dreißig Jahren als kreativer Mastermind des von ihm mitgegründeten Studio Ghibli gedreht hat – angefangen von Tenkū no Shiro Rapyuta (1986; dt. Das Schloss im Himmel (2006)) über Tonari no Totoro (1988; dt. Mein Nachbar Totoro (2007)), die Kinderbuchverfilmung Majo no Takkyūbin (1989; dt. Kikis kleiner Lieferservice (2005)), den auf einem Manga basierenden Kurenai no Buta (1992; dt. Porco Rosso (2006)), Mononoke Hime (1997; dt. Prinzessin Mononoke (2001)), Sen to Chihiro no Kamikakushi (2001; dt. Chihiros Reise ins Zauberland (2003)), Hauru no Ugoku Shiro (2004; dt. Das wandelnde Schloss (2005) – die Adaption eines Jugendbuchs von Diana Wynne Jones) und Gake no Ue no Ponyo (2008; dt. Ponyo – Das große Abenteuer am Meer (2010)) bis hin zu dem ebenfalls auf einem Manga Miyazakis basierenden Kaze Tachinu (2013; dt. Wie der Wind sich hebt (2014)) – und die vor allem in Japan teilweise extrem erfolgreich waren und mittlerweile weltweit eine große Fangemeinde haben.
Nausicaä 2 von Hayao MiyazakiDoch in diesem Beitrag soll es nicht um den Regisseur und Drehbuchautor, sondern um den Mangaka Hayao Miyazaki gehen, bzw. um seinen wichtigsten und umfangreichsten Manga, der indirekt überhaupt erst zur Gründung von Studio Ghibli geführt hat. In der Ausgabe 2/82 des Magazins Animage startete Miyazaki – der zuvor schon als Animezeichner gearbeitet und mit Rupan Sansei: Kariosutoro no Shiro (1979; dt. Das Schloss des Cagliostro (2006)) auch bereits seinen ersten Anime gedreht sowie einige (nicht allzu umfangreiche) Mangas veröffentlicht hatte – nämlich einen Manga mit dem Titel “Kaze no Tani no Nausicaä”*, anfangs noch unter der Prämisse, dass daraus kein Anime werden würde, die allerdings aufgrund sich häufender Leseranfragen bald fallengelassen wurde – und so kam Kaze no Tani no Nausicaä 1984 (dt. Nausicaä aus dem Tal der Winde (2006)) in die japanischen Kinos und wurde so erfolgreich, dass dieser Erfolg die Gründung von Studio Ghibli nach sich zog.
Da der Manga zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal annähernd abgeschlossen war – er sollte mit Unterbrechungen bis zum Februar 1994 in Animage weiterlaufen –, beinhaltet der Anime nur etwa ein (teilweise auch noch leicht verändertes) Viertel der Handlung des Manga, der fast elfhundert Seiten umfasst und nach der Magazinvorveröffentlichung zwischen Juli 1983 und Dezember 1994 in unregelmäßigen Abständen in sieben Sammelbänden nachgedruckt wurde, die wiederum die Grundlage für die diversen Übersetzungen – auch ins Deutsche – bilden.
Aber worum geht es denn jetzt in Nausicaä aus dem Tal der Winde, diesen sieben Bänden, die 2001/02 ein erstes Mal auf Deutsch erschienen sind, rasch vergriffen und gesucht waren und 2010/11 schließlich wiederveröffentlicht wurden? Nausicaä – die sich übrigens Nausica-a spricht** – lebt in einer düsteren Zukunft, in der die ökologische Katastrophe längst eingetreten ist, etwa tausend Jahre, nachdem sich die industrielle Zivilation in einem allumfassenden, als “Sieben Tage des Feuers” bezeichneten Krieg selbst ausgelöscht hat. Die Industriegesellschaft, die jahrhundertelang die Erde, die Luft und das Wasser vergiftet hat, ist verschwunden, doch ihr Erbe ist noch da, bedeckt als “Meer der Fäulnis” genannter giftiger, von riesigen Insekten und anderen genetisch veränderten Wesen bewohnter, sich stetig ausdehnender Pilzwald den größten Teil der Erdoberfläche und bedrängt die auf eine pseudo-mittelalterliche Kulturstufe zurückgefallenen überlebenden Menschen (die allerdings noch über fliegende Gleiter und andere Flugmaschinen verfügen) in ihren letzten Refugien am Rande der Kontinente. Den Pilzwald zu vernichten, ist unmöglich, da etwaige Versuche nur zu Angriffen der in ihm lebenden Tiere – vor allem der gigantischen asselartigen Ohmu – und zur weiteren Ausdehnung des Waldes führen.
Nausicaä ist die Prinzessin des Tals der Winde, das durch den Seewind vor den giftigen Sporen des Pilzwalds geschützt wird – eine wissbegierige junge Frau, die auf ihrem Gleiter nicht nur die Umgebung des Tals der Winde erforscht, sondern auch immer wieder ins Meer der Fäulnis vordringt und dabei interessante Entdeckungen macht. Als das benachbarte große Kaiserreich Torumekia, dem das Tal der Winde als Vasall verpflichtet ist, einen Krieg gegen das Fürstentum Doruk beginnt, ändert sich Nausicaäs Leben gewaltig, denn sie muss in Vertetung ihres kranken Vaters zusammen mit einigen Kriegern aus dem Tal unter dem Kommando der torumekischen Prinzessin Kushana in den Kampf ziehen und gerät schon bald in einen wahren Wirbel aus Geschehnissen, in denen es selbst ihr schwerfällt, einen klaren Kopf zu bewahren …
Es ist schlicht unmöglich, die komplexe Handlung von Nausicaä aus dem Tal der Winde in wenigen Sätzen zu beschreiben, ohne dabei allzu viel über deren Entwicklung zu verraten; von daher mag es an dieser Stelle genügen, dass Nausicaä nur allzu rasch feststellen muss, dass beide Kriegsparteien – die hochgezüchtete Militärmaschinerie von Torumekia ebenso wie die auf Biotechnologie setzenden Doruks – in diesem Krieg zu höchst fragwürdigen Mitteln greifen (vor allem die Machenschaften der Doruks erweisen sich als überaus gefährlich und bedrohen nicht nur ihre Gegner, sondern die ganze Welt) und sie selbst aufgrund ihres Verhaltens und ihres Denkens den Mächtigen beider Parteien ein Dorn im Auge wird. Aber sie erfährt auch Neues über das Meer der Fäulnis und sieht den Pilzwald und die Ohmu von da an mit anderen Augen, findet dank ihrer herzlichen, offenen Art auch dort Freunde, wo man es nicht unbedingt erwarten würde, und erkennt, dass die Mächte der Vergangenheit noch immer Einfluss auf die Gegenwart haben. Schließlich fällt ihr eine Rolle zu, in der sie eine schwierige Entscheidung treffen muss, die Auswirkungen auf die Zukunft der gesamten Menschheit haben wird.
Die von Hayao Miyazaki mit großem Atem erzählte, im wahrsten Sinne des Wortes epische Geschichte lebt zunächst einmal von Nausicaä selbst, die laut ihrem Schöpfer eine Mischung aus der gleichnamigen Phäakenprinzessin aus Homers Odyssee und dem Mädchen Mushimezuru-Himegimi (“die Insekten liebende Prinzessin”) aus der Konjaku monogatari (der “Geschichtensammlung von Jetzt und Einst”) ist und die mit ihrer Warmherzigkeit und ihrer vorurteilslosen Offenheit eine ungemein sympathische und liebenswerte Figur darstellt, die sich allerdings durchaus auch durchzusetzen weiß und im Verlauf der Handlung mit ihren eigenen Schwächen konfrontiert wird. (Eine Figur, die zumindest eine vage Ähnlichkeit mit Nausicaä besitzt, ist beispielsweise Mena aus David Anthony Durhams Acacia Trilogy.) Hinzu kommen unzählige, teils nur knapp umrissene, teils eingehender charakterisierte Nebenfiguren wie etwa Prinzessin Kushana (die Nausicaä 7 von Hayao Miyazakidie vielleicht interessanteste Wandlung durchmacht), vor allem aber die großen Fragen, um die sich letztlich alles dreht (und die in Miyazakis Œuvre immer eine wichtige Rolle spielen): Fragen wie die nach dem Umgang mit der Natur oder mit dem Machtstreben der Menschen, oder die Frage, was letztlich gut und böse ausmacht – und ob eine Läuterung der/des Bösen möglich ist.
Grafisch ist Nausicaä aus dem Tal der Winde (wenn man einmal von der sehr jugendlichen Darstellung etlicher Figuren absieht) kein typischer Manga, wirkt tendenziell eher europäisch, auch wenn die teilweise fast schon überladenen Seiten anfangs gewöhnungsbedürftig sind und nicht so klar strukturiert erscheinen wie die ebenfalls ungewöhnlich gestalteten Seiten des hier erst vor kurzem erwähnten Andreas (was wahrscheinlich auch an der ungewohnten japanischen Leserichtung liegt). Doch wenn man an die Sache ähnlich offen herangeht wie Nausicaä an das Neue und Unbekannte, kann man sich sehr schnell einlesen und wird mit einem Epos belohnt, das den Vergleich mit Werken wie Frank Herberts Dune (aka Der Wüstenplanet) – und das nicht nur wegen des ökologischen Themas bzw. der Messiasfigur – oder J.R.R. Tolkiens The Lord of the Rings (aka Der Herr der Ringe) nicht zu scheuen braucht und nach dem Lesen noch lange nachwirkt. Ungeachtet all seiner sonstigen Verdienste hat sich Hayao Miyazaki allein mit Nausicaä aus dem Tal der Winde einen Platz im Pantheon der großen phantastischen Erzähler erschrieben, und es wäre zu wünschen, dass diese Geschichte auch hierzulande, wo Comics immer noch einen eher schweren Stand haben – es sei denn, sie nennen sich graphic novel – den Erfolg haben wird, den sie verdient.
Die 2010/11 neu aufgelegte siebenbändige deutsche Ausgabe ist weiterhin lieferbar, aber wer will, kann natürlich auch auf die entsprechende englische Ausgabe zurückgreifen (oder es mit einer japanischen versuchen 😉 ).

* – es existiert auch die Schreibweise “Kaze no Tani no Naushika”; da ich über keinerlei Japanisch-Kenntnisse verfüge, weiß ich nicht, welche der beiden Versionen die richtige oder richtigere ist (und habe mich für die entschieden, bei der Nausicaäs Name wie im Deutschen und Englischen geschrieben wird)
** – die Tüdelchen auf dem hinteren a sind ein Trema, das in diesem Fall auf eine Diärese – die getrennte Aussprache zweier aufeinanderfolgender Vokale – verweist und nicht etwa wie sonst den deutschen Umlaut ä kennzeichnet

4 Kommentare zu Zum 75. Geburtstag von Hayao Miyazaki

  1. Pogopuschel sagt:

    Mein Lieblingsregisseur! Wer sich näher für ihn interessiert, dem empfehle ich die Dokumentation “Kingdom of Dreams and Madness”, für den er während der Dreharbeiten zu seinem letzten Film von einer Filmemacherin begleitet wurde. Habe ihn auf meinem Blog kürzlich besprochen. Gibt es leider nicht auf Deutsch.
    https://translateordie.wordpress.com/2015/08/02/wie-der-wind-sich-hebt-the-kingdom-of-dreams-and-madness/

    Ich muss unbedingt mal seine Bücher lesen.

  2. mistkaeferl sagt:

    Ich hatte letztens die biographischen Essaybände “Starting Point” und “Turning Point” in der Hand, die auch verflixt spannend aussahen … Sobald Geld & Zeit mal zur Hand sind, müssen die her, glaube ich.

  3. molosovsky sagt:

    Wunderbarer Text, Gero. Danke!

  4. gero sagt:

    Danke für das Lob, Alex!

    Wie du siehst, gibt’s halt doch immer mal wieder Künstler oder Künstlerinnen, bei deren Einschätzung wir beide gar nicht so weit voneinander weg sind … 😉

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