Titelkatalog: l

Cover des Buches "Der letzte Minotaur" von Thomas Burnett SwannDie lebenslustige Dryade Zoe erzählt die Geschichte von Eunostos, dem letzten Minotaur des Zauberwaldes der Tiere auf Kreta.
Der junge Tiermensch ist in die wunderschöne Dryade Kora verliebt, doch diese mag ihn nicht erhören, denn sie träumt einen sonderbaren Traum und will daher warten. Aber warum folgt Saffron, die Königin eines der neu angekommenen Stämme der Thriae, dem Minotaur mit so lüsternem Blick? Als sich schließlich der Paniskus Phlebas, ein Ziegenjunge mit ungewöhnlich kriminellen Charakter, besonders aufdringlich gegenüber Kora verhält, nimmt das Unheil seinen Lauf …

-Ich bin dreihundertsechzig und stolz darauf, daß ich in all dieser Zeit bestimmt gut doppelt so viele Liebhaber erfreuen durfte, wie ich Jahre genoß.-
Erster Teil, Eunostos, 1.

Die Geschehnisse im Zauberwald finden zur Zeit der Minoischen Palastkultur statt, als der legendäre Minos noch König ist und die Archäer zwar schon Überfälle unternehmen, aber noch keine ernste Bedrohung darstellen. Kreta wird von freundlichen, den Augenblick lebenden Menschen bewohnt, auf dem Lande geht es zwar etwas einfacher und zurückhaltender zu, doch in der Stadt Knossos herrscht ein freizügiges und buntes Treiben, welches sich in den farbenfrohen und vielgestaltigen Palästen widerspiegelt; dort hat der weise und gerechte König Minos seinen Herrschersitz.
Doch die Menschen haben einen Pakt geschlossen mit den Tiermenschen Kretas, deren Heimat soll von Menschen nicht betreten werden. Der Zauberwald ist hauptsächlich ein Wald, in dem seine Bewohner sehr angepasst an diesen leben, so sind die Häuser nicht aus dem Wald gebaut, sondern mit dem Wald gebaut. Das Zauberhafte beschränkt sich allerdings auf die Bewohner.

Die Tiermenschen sind der Mythologie Kretas entlehnt, einige, wie der Minotaur, sind sehr bekannt und im stärkeren Maße an die Mythologie angelehnt, andere, wie die Thriae, sind weniger bekannt und mit mehr Phantasie ausgestaltet. Ein Eigenart der meisten Tiermenschenvölker ist es, entweder nur aus Frauen, wie die Dryaden, oder nur aus Männern, wie die Minotauren, zu bestehen. Nur in wenigen finden sich sowohl Frauen als auch Männer, wie bei den Thriae. Die kriegerischen und draufgängerischen Zentauren werden angeführt vom weisen Chiron; die Panisken – vom Äußeren Satyren sehr ähnlich – entwickeln sich nicht weiter als Jugendliche, sie sind stets auf Nonsens aus; die Artemisbärinnen, zur Hälfte Bär, zur Hälfte Frau, sind auf ewig scheue Mädchen; die Telchin sind großartige Handwerker mit der Gestalt einer übergroßen Ameise; die Thriae, die Bienen, sind sehr dünne mit Flügeln versehene menschenartige Wesen, deren Volk aus Königin, Arbeiterinnen und Drohnen besteht; die Dryaden sind schöne Frauen, die sich nicht lange von ihrer Eiche trennen können.

Eunostos, der letzte Minotaur, ist zur Hälfte Bulle, zur Hälfte Mensch, statt Füße hat er Hufe und aus seinem seidigen, roten Haar ragen Hörner heraus. Wenn er erst ausgewachsen ist, wird er eine gewaltige Statur haben. Wie für Minotauren üblich, arbeitet er als Zimmermann. Er ist ein lebhafter und stürmischer junger Bulle, doch kann er auch sehr sanft und poetisch sein. Er ist unsterblich in die Dryade Kora verliebt.
Diese ist eine junge, romantische Dryade, vielleicht die älteste Jungfrau (sie ist schon neunzehn) im ganzen Wald. Sie wirkt durch ihre Zurückhaltung auf viele erhaben, vielleicht ist sie aber einfach nur unsicher.
Saffron ist die Königin eines Thriae-Stammes, sie ist lüstern und arrogant; sie erwartet von anderen, dass diese sich ihr – der schönen Königin! – fügen. Zudem ist sie eitel und gierig.

Zoe, die Dryadin, ist die Erzählerin der Geschichte, sie ist äußerst beliebt und hat sowohl zu Kora und deren Mutter als auch zu Eunostos, mit dessen Mutter sie befreundet war, ein gutes Verhältnis. Eunostos nennt sie Tante Zoe, obgleich sie sich diesen Titel nicht wünscht, da sie heimlich andere Gefühle für ihn hegt. Schließlich ist da noch der menschliche Kreter Aeacus, der Bruder König Minos’. Ihn verschlägt es im zweiten Teil der Geschichte in den Wald – auch er verliebt sich in die schöne Dryade Kora.
Die Charaktere sind einfach, was nicht weiter stört, da die Tiermenschen einfache Geschöpfe sind, doch manchmal agieren sie ein wenig zu typisch. Dieses mag im Konzept so angelegt sein, um die Schlichtheit der Natur besser gegen die komplizierte Zivilisation abheben zu können, nimmt der Geschichte aber ein wenig an Spannung.

Die Geschichte ist in zwei Teile geteilt, die durch die Liebe Eunostos’ zu Kora zusammengehalten werden. Im ersten Teil geht die Bedrohung von der Königin Saffron aus, dieser Teil ist wesentlich humorvoller und handlungsreicher. Während hier Liebe und Lust die Figuren motivieren, sind es im zweiten Teil Liebe und Pflicht. Aeacus ist der Mann in Koras Traum, aber er hätte nicht in das Reich der Tiere kommen dürfen, denn auch wenn er und die Dryade sich lieben, werden seine Kinder doch königlichen Geblütes sein. Hinzu kommt, dass der sanfte Eunostos viel besser mit den Kindern umgehen kann. Wenn Tugend und Laster einander gegenüberstehen, ist ein gutes Ende immer möglich, aber wenn zwei Tugenden sich gegenüberstehen, dann ist eine Tragödie am Ende unausweichlich. So gibt es zwar wiederum komische oder harmonische Episoden, dieser Teil ist aber deutlich melancholischer und dem Leser wird schnell klar, dass am Ende das Leid unvermeidbar sein wird.

Auch wenn die Geschichte eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Märchen Die Schöne und die Bestie von Jeanne Marie Leprince de Beaumont hat, ist Eunostos der Einzige, der seine Physis negativ beurteilt. Auch wenn die Thematik Liebe sehr dominant ist, gibt es doch einige gefahrvolle Momente und überraschende Wendungen zu überstehen in dieser ungewöhnlichen Geschichte. Dieses ist zwar der zweite Teil aus der Minotaurus Reihe, aber er kann völlig unproblematisch nur für sich gelesen werden.

Die Erzählung wird zwar von Zoe erzählt, doch diese gibt bisweilen sogar die Gedanken der Figuren wieder, wie ein antiker Historiograph seinen Protagonisten eine Rede in den Mund legen mag. Die Geschichte ist somit aus einer unüblichen Perspektivenmischung von auktorialer Erzählstruktur und Ich-Erzählsituation dargestellt. Die flüssigen Sätze und die treffende Wortwahl passen gut zu dieser schnellen und frivolen Geschichte.

Das Labyrinth der träumenden BücherGelockt von einem geheimnisvollen Manuskript, kehrt Hildegunst von Mythenmetz 200 Jahre nach seiner Flucht aus Buchhaim zurück in die Stadt der träumenden Bücher. Denkfaul und träge geworden, gleicht die Echse eher einem verwöhnten Balg als einem ehemals ormdurchströmten Schriftsteller, und dennoch begibt er sich auf die Reise. Und obwohl sich das nach dem verheerenden Feuer wiederaufgebaute Buchhaim von einer völlig neuen Seite zeigt, schafft es die Stadt bald, den Schriftsteller in seinen Bann zu ziehen und ihm neuen Schreibmut zu schenken. Und, wer weiß – vielleicht wartet ja irgendwo auch das Orm?

– Unter allem vibrierte das unverwechselbare Grundgeräusch, der Kammerton jeder größeren Stadt, der sich aus tausenden durcheinanderplappernden Stimmen speist und wie das anhaltende Raunen eines Publikums klingt. Ich war angekommen. –
Die neue Stadt, S. 41

Rauchverbot, Latte Macchiato mit oder ohne Milchschaum, Regenbogenpresse – Willkommen im Buchhaim des 21. Jahrhunderts. Eingeholt von Fortschritt und Entwicklung präsentiert sich die Bücherstadt von ihrer modernen Seite, und während die Stadt der träumenden Bücher aus der Asche wiederauferstand, befindet sich Hildegunst von Mythenmetz, der unselige Protagonist des Romans, am Tiefpunkt seines künstlerischen Schaffens. Die Echse badet eitel im großen Schaumbad des schnellen Erfolges und pflegt ihre einmalig erworbenen Lorbeeren mit größerem Eifer als ihre eingerostete Schreibfeder. In seiner dramatisierten Großartigkeit ist er trotz Schuppenkleid und Klauenhand den Akteuren des realen Literaturbetriebes oft sehr ähnlich. Und wahrlich: an Seitenhieben auf unseren deutschen Büchermarkt mangelt es nicht. Während buchhaim’sche Insider die Verdrängung des papierenen Wortes durch das revolutionäre Wurstbuch heraufbeschwören, erstickt so mancher Kritik verachtende Autor, trotz offensichtlichen Unvermögens, in Fanpost. Klingt bissig? Treffend? Pointiert?
Nichts liegt dem Roman ferner. Die parodistischen Elemente sind nach starren Regeln strukturiert: das Humor-Reportoire des Autors beschränkt sich in diesem Buch zumeist auf die fleißige Anagramm-Bildung und die kulturgeschichtliche Anspielung durch Namensverfremdungen. Nicht nur die Lettern von Schriftstellernamen werden munter gemischt, auch die der Größen der klassischen Musik. Kenner entdecken den Walkürenritt, ebenso wie Freude schöner Götterfunken. Keine Kunstepoche ist sicher vor der schablonenhaften Verfremdung, kein gesellschaftliches Phänomen gefeit vor einer zamonischen Entsprechung. Moers hat mit Das Labyrinth der träumenden Bücher ein Gagfeuerwerk erschaffen, welches partout nicht zünden will. Seine Einfälle funktionieren als kurzweilige Pointe – wie die Werbeausgabe des Zamonischen Kuriers oder die Alles-in-Fraktur!-Zwerge beweisen -, doch durch die konsequente Wiederholung der Lachstrickmuster wird der moers’schen Absurdität der genussvolle Stachel des Unerwarteten genommen. Auch sprachlich reflektiert Moers mit seinem Roman die schriftstellerische Verfassung seiner Hauptfigur – erfolgsverwöhnt und mit dem unerschütterlichen Glauben, dass der geneigte Leser jeden Lapsus, jede handlungsarme Durststrecke für einen Geniestreich hält.

Der Klappentext verspricht einen Beitrag zur  “Kulturgeschichte” Zamoniens, und einzig das möchte man ihm zugestehen. Voller Unglaube verfolgt der Leser eine repetitive Handlung, die aus dem Vorgängerband Die Stadt der träumenden Bücher hinreichend bekannt ist. Allein die 200 Jahre Unterschied können als Anlass gewertet werden, diese Geschichte niederzuschreiben. Bizarrer Höhepunkt des Wiederholungsreigens ist das moers’sche “play within a play”: Hildegunst wohnt einer Theateraufführung bei, die seine Abenteuer aus Die Stadt der träumenden Bücher erzählt. Der geneigte Leser kennt vielleicht das unangenehme Gefühl, von einem begeisterten Freund die Handlung eines kürzlich gesehenen Filmes nacherzählt zu bekommen: während der Erzählende, noch tausende Bilder vor Augen, begeistert die Handlung nachvollzieht, vergeht das lauschende Gegenüber vor Langeweile. Und nun stelle man sich eine 20-Seitige, begeisterte Nacherzählung einer bereits bekannten Geschichte vor, die nichts von der Begeisterung transportieren kann und zur bloßen Inhaltsangabe verkommt. Lässt Moers hier den selbstverliebten Mythenmetz auf quälende Art und Weise schwadronieren? Ist die Szene ein lebendiges Zeichen für den charakterlichen und schriftstellerischen Niedergang seiner Figur, eine Meta-Ebene des Qualitätsverlustes? Oder ist es tatsächlich ein Zeichen dafür, dass Moers in seinem Roman keinerlei nennenswerte Handlung unterzubringen vermag, sondern sich an dem Glanz seines bereits erschienenen Werkes erfreut?

Auch die kulturgeschichtlichen Abhandlungen über den aufkommenden Puppetismus – professionelles Marionettenspiel –  in Buchhaim sind nur ein schwacher Abglanz jenes Zaubers, den eine moers’sche Schilderung über die Katakomben von Buchhaim heraufzubeschwören vermochte. Seine Versuche, ein lebendiges Bild einer künstlerischen Gemeinschaft zu schaffen, scheitern. Die Aufzählungen zahlreicher wunderlicher Details erschaffen ein Bild, welches an eine kaputte Marionette erinnert: es mag zu Zeiten durchaus lebendig wirken, doch gewiss nicht im jetzigen Zustand. Einzig die gewohnt phantasievollen, aber rar gesäten Illustrationen geben dem Leser einen Einblick in das neue, touristisch erschlossene Buchhaim, dessen Zauber nicht verflogen ist, sondern sich nur verlagert hat (so zumindest versichert es uns Mythenmetz).
Mit dem Prädikat „Mythenmetz’sche Ausschweifungen“ tarnt Moers bodenlose Langeweile – nichts erinnert an den Kitzel des Bizarren, der jede Ausschweifung zur willkommenen Abwechslung machte. Und als die Handlung schließlich Fahrt aufnimmt, endet der Roman. Einen Blick in das sagenumwobene und titelgebende Labyrinth der träumenden Bücher zu werfen, ist dem Leser nicht vergönnt.

Erst das Nachwort des Autors vermag es, dem ungläubigen Leser und Liebhaber des zamonischen Universums eine Erklärung für die Enttäuschung zu präsentieren: der vorliegende Roman wurde laut Moers publiziert, weil er vertraglich dazu verpflichtet war, eine Frist einzuhalten. Das erklärt so einiges: Das Labyrinth der träumenden Bücher ist keinesfalls ein fertiges Buch, allenfalls eine kürzungswürdige Ouvertüre zu einem größeren Roman. Der zweite Teil ist, laut Autor, in Arbeit, was das Kopfschütteln über das ausgefeilte Marketing für den Roman im Voraus nur noch vehementer ausfallen lässt. Nirgendwo verrät uns der Verlag, dass wir einen „Teil 1“ eines unvollendeten Werkes lesen; und entgegen der Klappentext-Ankündigung könnte kein Buch ungefährlicher sein.
Und so bleibt dem Leser nur das altbekannte Flehen: liebe Verlage, lasst euren Autoren Luft zum Atmen und Zeit zum Schreiben. Und – lieber Herr Moers: wir warten gerne länger. Zeigen Sie uns den Weg ins Labyrinth der träumenden Bücher!

Labyrinth: The Novelization von Jim Henson und A.C.H. SmithDie 15-jährige Sarah verbringt ihre Tage am liebsten tagträumend damit, Szenen aus ihrem Lieblingsbuch Labyrinth nachzuspielen. Sie ist schrecklich genervt von ihrer Stiefmutter, und das schlimmste von allem, sie muss den Babysitter für ihren kleinen Bruder Toby spielen. Als sie sich leichtisinnigerweise wünscht, der Goblinkönig möge Toby holen und in sein Schloss unter der Goblinstadt bringen, werden Sarahs Tagträume plötzlich zur Realität. Goblingkönig Jareth lässt Sarah 13 Stunden Zeit, um ihren Bruder wiederzubekommen, doch das Labyrinth hält viele Tücken und Tricks bereit.

– Nobody saw the owl, white in the moonlight, black against the stars, nobody heard him as he glided over on silent wings of velvet. The owl saw and heard everything. –
The white owl, S. 11

Wer als Kind in den 80ern aufgewachsen ist, wird mit hoher Wahrscheinlichkeit irgendwann mit dem Film Die Reise ins Labyrinth (OT: Labyrinth) von Jim Henson in Kontakt geraten sein. Ein wirklich lohnenswertes Stück phantastischer Filmgeschichte, mit einer jungen Jennifer Connelly und Pop-Ikone David Bowie in den Hauptrollen. Ein Kunstwerk aus Bühnenbild und Puppentheater, gepaart mit viel Witz und dem musikalischen Pomp der 80er Jahre.
Labyrinth: The Novelization ist, wie der Titel schon sagt, auf Basis dieses Films entstanden und hält sich dabei beinahe Bild- und Wortgenau an die Vorlage. Ab und an finden sich auch ein paar zusätzliche Informationen, die vor allem Sarahs Familienverhältnissen mehr Substanz verleihen und manches nachvollziehbarer erscheinen lassen, als es der Film macht.

Das Labyrinth des Goblinkönigs Jareth ist ein Ort voller Magie und magischer Kreaturen. Kichernde Goblins, Gnome, bissige Feen, riesige Monster, düstere Tunnel und sprechende Türklopfer sind erst der Anfang. An jeder Ecke warten Rätsel, die Unangenehmes zur Folge haben, wenn sie vorschnell beantwortet werden. Mit humorvollen und sehr plastischen Beschreibungen, die beinahe jedes optische Detail des Films perfekt wiedergeben, wurde hier eine atmosphärisch und inhaltlich liebevolle Geschichte erschaffen. Es ist ein Roman mit dem nostalgischen Flair alter Märchen und Mythen, der es dabei schafft ganz zeitlos zu bleiben. Wer gerne in eine magische Welt eintauchen möchte, die sich mehr auf die Wurzeln der phantastischen Literatur besinnt, der darf sich Labyrinth wirklich nicht entgehen lassen.

Sarah, die Hauptfigur, fühlt sich am laufenden Bande unfair behandelt und vom Leben gebeutelt. Babysitten am Wochenende – eine Plage; ein Kuscheltier an das personifizierte Übel von Bruder abtreten müssen – undenkbar. Sie ist egoistisch und grundlos motzig ihrer Stiefmutter gegenüber, sie nimmt nur das Offensichtliche wahr und hinterfragt nichts. Es interessiert sie auch nicht, was hinter dem äußeren Anschein stecken könnte, denn Sarah interessiert sich eigentlich nur für Sarah. Als sie sich in Jareths Labyrinth begeben muss, um ihren Fehler zu korrigieren und Toby wieder sicher nach Hause zu bringen, muss sie schnell viel dazu lernen und ihren selbstzentrierten Horizont erweitern, wenn sie Erfolg haben will.
Man merkt der Figur schnell an, wozu sie geschaffen wurde. Sarah ist ein Mädchen an der Schwelle zum Erwachsenwerden. Sie benimmt sich in vielen Situationen wie ein naives Kind, muss aber nun lernen, dass die Kindheit für jeden irgendwann endet und es Zeit wird, für das eigene Handeln geradezustehen. Jedes Rätsel, jede Hürde, die Sarah nehmen muss, wird von symbolischen Szenen und Dialogen getragen, die Sarahs Entwicklung voranbringen. Es geht darum, Entscheidungen zu treffen, über mögliche Folgen nachzudenken, Verantwortung zu übernehmen, auf andere Individuen Rücksicht zu nehmen und vieles mehr. So kann man Labyrinth wohl am ehesten als Übergangsreise vom Kind zum Erwachsenen sehen, wobei es kaum realistisch erscheint, dass Kinder oder junge Heranwachsende, die dieses Buch bevorzugt genießen werden, imLabyrinth der Film von Jim Henson Stande sind, all die Lehren schon zu sehen und zu verstehen. Auf der anderen Seite ist es aus Erwachsenensicht eine liebevolle Erfahrung, durch diesen Roman noch einmal in die eigene Jugendzeit versetzt zu werden und zu erkennen, wie sehr man sich selbst verändert hat.

Der Goblinkönig Jareth nimmt in dem Roman eine etwas weniger imposante Rolle ein als seine filmische Vorlage. Es mag auch daran liegen, dass die musikalische Untermalung fehlt und er etwas wenig Raum bekommt. Als männlicher Gegenpart von Sarah versucht er das Mädchen mit Verführung und Blendung von ihrem Ziel abzulenken und verkörpert dabei natürlich einen weiteren Aspekt des Erwachsenwerdens. Sein äußeres Erscheinungsbild wird dabei als attraktiv geschildert, während seine Handlungen meist recht herzlos sind. Er bleibt recht blass und eindimensional, was es schwierig macht, eine nähere Bindung zu diesem Charakter aufzubauen. Mehr Sympathie gewinnen da einige der Nebenfiguren. Etwa der hin und her gerissene Gnom Hoggle oder der völlig überdrehte Sir Dydimus, der sich vor keinem Gegener fürchtet und mit gezücktem Degen in den Kampf galoppiert. Mit liebevollen Details wird diesen Figuren sehr schnell Leben eingehaucht.

Abschließend bleibt nur zu sagen: Labyrinth bietet dem Kenner des Films zwar nicht allzuviel Neues, dennoch gehört diese Neuauflage in jedes Fanregal. Die Aufmachung ist mit viel Hingabe – von der Gestaltung des Hardcovers bis hin zur Typographie – durchdacht worden; im Anhang finden sich außerdem Konzeptskizzen von Brian Froud und als besonderes Schmankerl die Notizen von Jim Henson aus der Entstehungsphase des Films.
Wer die Möglichkeit noch hat, sollte die Chance nutzen und das Buch lesen, bevor die DVD eingelegt wird. Denn wer einmal die tolle Filmvorlage gesehen – und David Bowie als Goblinkönig neben all den schrulligen Puppen erlebt hat –, der wird es schwer haben, das Buch unvoreingenommen genießen zu können.

Les Lames du Cardinal von Pierre PevelParis 1633. Menschengestaltige Drachen unter Führung der ebenso schönen wie intriganten Vicomtesse de Malicorne streben danach, die Macht in Frankreich an sich zu reißen. Die Lage ist so ernst, dass Kardinal Richelieu sich keinen anderen Rat weiß, als eine vor Jahren aus seinen Diensten entlassene Elitetruppe wieder zusammenzurufen: Die „Klingen des Kardinals“ unter dem erfahrenen Soldaten La Fargue. Doch der Verräter, dessen Untaten einst zur Auflösung der Einheit führten, ist immer noch auf freiem Fuß, und La Fargue ist verwundbarer, als seine Leute ahnen, hat er doch gerade erst erfahren, dass er aus einer lange zurückliegenden Affäre eine Tochter hat, die nun in höchster Gefahr schwebt…

– Haute et longue, la pièce était tapissée de livres dont les élégantes dorures luisaient dans une pénombre roussie à la flamme des bougies. Dehors, derrière les épais rideaux de velours rouge, Paris dormait sous un ciel étoilé et la grande quiétude de ses rues enténébrées parvenait jusqu’ici, où le grattement d’une plume troublait à peine le silence. –
I – L’appel aux armes

Als Fantasysetting tritt das Frankreich des 17. Jahrhunderts gewöhnlich eher selten in Erscheinung, doch als Schauplatz von Mantel-und-Degen-Romanen ist es dafür umso beliebter. An dieses Genre lehnt sich Pierre Pevel mit Les Lames du Cardinal (Drachenklingen) denn auch überdeutlich an, was Atmosphäre, Namensmaterial, Figuren und Handlungsführung betrifft. Wer mit Klassikern dieser Literaturgattung, vor allem mit Alexandre Dumas’ Drei Musketieren, vertraut ist, wird hier bis in den Verlauf einzelner Szenen hinein viel Altbekanntes wiederfinden, zumal in der Charakterisierung Richelieus, die der Schilderung dieser Gestalt bei Dumas weit mehr verpflichtet ist als dem realen historischen Vorbild. Teilweise mag diese Nähe als bewusste Hommage angelegt sein, doch sie bringt zumindest im Kleinen auch eine gewisse Vorhersehbarkeit mit sich.

Die eigentlichen Fantasyelemente treten gegenüber den historischen Details stark in den Hintergrund und bilden eher schmückendes Beiwerk: Zwar kann man in diesem Frankreich auf Lindwürmern reiten und sich Miniaturdrachen als Schoßtier oder Brieftaubenersatz halten, doch das Potential dieser hübschen Ideen wird ebenso wenig ausgeschöpft wie das der aussatzartigen Krankheit, die Menschen bei zu engem Kontakt mit Drachenmagie befallen kann. Die machthungrigen Drachen in Menschengestalt könnten ebenso gut konventionelle Geheimbündler sein, denn dass ihre Intrigen letztendlich auf ein magisches Ritual hinauslaufen, bleibt für den Verlauf der Handlung eher unbedeutend. Auch der Hauch von alternate history, mit dem Pevel arbeitet (so endet z.B. die Belagerung von La Rochelle bei ihm mit einem Sieg der Hugenotten), hat zumindest in diesem ersten Band keine entscheidenden Auswirkungen auf das Gesamtbild.

Wer es als Leser aber vor allem auf Action in einer prallen Kulisse abgesehen hat, wird in diesem Roman durchaus finden, was er sucht. An Cliffhangern, überraschenden Wendungen, Kämpfen, Gefangennahmen und gefahrvollen Missionen herrscht beim besten Willen kein Mangel, und die verschiedenen Milieus, durch die sich die Handlung in rascher Folge bewegt, sind gelungen geschildert, ganz gleich, ob es sich nun um das prunkvolle Leben des Adels, das rauere Dasein der Soldaten und Fechtmeister oder die kriminelle Unterwelt handelt.

Von den Figuren, die auf dieser Bühne eine Fülle von Abenteuern bestehen müssen, sollte man allerdings nicht zu viel erwarten, denn obwohl sie sich überzeugend in ihr Umfeld einfügen, bleiben sie letztlich allesamt recht generische Entlehnungen aus demselben Typenfundus, den schon ein Alexandre Dumas, ein Paul Féval oder ein Théophile Gautier genutzt hat. Wenn man sich an der überwiegend simplen Psychologie der Helden und ihrer Gegner jedoch nicht stört, bieten sie einem durchaus recht ordentliche Unterhaltung.

Das Ende, das den „Klingen“ nicht nur Zuwachs für ihre weiteren Unternehmungen beschert, sondern in den letzten Sätzen auch noch mit einer unglaublichen Enthüllung aufzuwarten weiß, die alle bisherigen Vorgänge in einem anderen Licht erscheinen lässt, macht durchaus Lust auf mehr. Allerdings kann man dabei nur hoffen, dass die Folgebände in sprachlicher Hinsicht etwas liebevoller gestaltet sind, denn Pevels Neigung, in unterschiedlichen Beschreibungen immer wieder auf dieselben Formulierungen zurückzugreifen, trübt das Lesevergnügen nach einer Weile doch beträchtlich.

Cover des Buches "Im Land des Windes" von Licia TroiciObwohl die dreizehnjährige Nihal das einzige Mädchen in ihrer Bande ist, ist sie die Anführerin. Ihr Vater ist der Waffenschmied der Stadt Salazar, und nichts liebt Nihal so sehr wie den spielerischen Schwertkampf. Eines Tages wird sie von einem Jungen zum Duell gefordert, den sie noch nie gesehen hat. Er heißt Sennar und scheint ihr, obwohl älter, körperlich unterlegen zu sein. Aber er ist es, der gewinnt. Sennar ist ein Magier und nun will auch sie das Zaubern erlernen. Nihal beschließt, bei ihrer Tante Soana, einer mächtigen Zauberin, in die Lehre zu gehen. Als die Truppen des Tyrannen in Salazar einfallen und Nihals Vater vor ihren Augen ermorden, will das Mädchen sich dem Orden der Drachenritter anschließen, der gegen den Tyrannen kämpft. Aber in diesen Orden werden nur Männer aufgenommen…

-Die Sonne überflutete die Ebene.-
1 Salazar

Im Land des Windes (Nihal della Terra del Vento) ist ein zum Fantasyroman gewordener Kleinmädchentraum. Nihal meistert fast alle Schwierigkeiten, die sich ihr in den Weg stellen. Natürlich stimmt ihr Vater schließlich zu, als sie die Magie erlernen möchte, obwohl er zunächst dagegen ist. Und wie praktisch, dass er eine Schwester hat, von der Nihal bisher nichts wusste, die eine berühmte Magierin ist. Natürlich besteht das Mädchen den Initiationsritus, den es durchlaufen muss, um eine Zauberin werden zu dürfen. Natürlich ist sie schon als Jugendliche eine hervorragende Kämpferin, die durch das harte Training, das sie selbstverständlich absolvieren muss, nur noch vollkommener wird. Natürlich besitzt sie Durchhaltevermögen, ist sturköpfig, entschlossen und mutig. Natürlich überlebt Nihal, als die Fammin in Salazar einfallen, ein schreckliches Gemetzel anrichten, die Stadt plündern und sie schließlich in Brand setzen. Natürlich ist sie nicht nur aufgrund ihres Aussehens etwas Besonderes – jeder, der schon einmal einen Fantasyroman gelesen hat, kann leicht erraten, zu welchem Volk sie gehört – sondern auch, weil sie die letzte ihrer Art ist. Natürlich wird sie als erste Frau in den Orden der Drachenritter aufgenommen, dazu muss sie auch “nur” die zehn stärksten Schüler der Akademie im Zweikampf besiegen, einen nach dem anderen, ohne eine Pause einlegen zu dürfen.

War die Geschichte bisher eine Aneinanderreihung altbekannter Fantasy-Topoi, wird es nun langsam albern. Man könnte meinen Pippi Langstrumpf, die bekanntlich das stärkste Mädchen der Welt ist, hätte sich in das Buch eingeschlichen, um mal zur Abwechslung ihre Kräfte dazu zu benutzen, Männer mit dem Schwert zu besiegen, von denen einer auch noch mit Peitsche und Eisenkette auf sie losgeht, anstatt immer nur ihr Pferd in die Luft zu stemmen oder Gauner, Polizisten und Piraten außer Gefecht zu setzen. Leider fehlt Troisi Lindgrens Humor. Sie erzählt ohne jedes Augenzwinkern wie Nihal zehn fast fertig ausgebildete Krieger der Reihe nach besiegt und so ist diese Episode trotz der martialischen Schilderung völlig unglaubwürdig.
Und es möge sich jetzt bitte keiner beschweren, hier bei bp würde wohl neuerdings ein Spoiler an den anderen gereiht. Jeder hier aufgeführte Punkt ist vorhersehbar, und sobald ein Handlungsteil beginnt, weiss der Leser, wie er enden wird. Außer den ganz jungen Leserinnen wird niemand je vermuten, dass Nihal irgendeine Aufgabe letztendlich nicht besteht, und wenn sie einmal den Kürzeren zieht, wie bei dem Kampf gegen Sennar, dann offensichtlich nur, um die Handlung voranzutreiben und Nihal, die am Anfang der Geschichte ja erst dreizehn Jahre alt ist, sich entwickeln und reifen zu lassen, so dass ihr aus der vermeintlichen Niederlage doch noch ein persönlicher Sieg erwächst, und schlussendlich Gutes bewirkt wird. Die Geschichte ist durchsichtig wie eine frischgeputzte Fensterscheibe. Selbst wenn Nihal in aussichtslose Situationen gerät oder ernsthaft verletzt wird, weiss jeder, der älter als zwölf ist, dass er um die Heldin des Romans nicht bangen muß.

Natürlich wird Im Land des Windes auch gestorben, natürlich trifft es einen edlen Recken und natürlich bricht sein Tod Nihal fast das Herz, denn auch die Romantik darf bei einer jugendlichen Heldin nicht zu kurz kommen. Natürlich ist sie bezaubernd und auf eine faszinierende Art schön, wenn sie auch laut Autorin angeblich keinem klassischen Schönheitsideal entspricht. Sie hat lange Wimpern, eine gertenschlanke Figur und “sehr weibliche Rundungen”, womit sie trotz ihrer außergewöhnlichen Augen- und Haarfarbe und den Mr.-Spock-mäßigen Ohren -was in einem Land, das auch von Kobolden, Gnomen, Wassernymphen und Drachen bevölkert ist, so ungewöhnlich auch wieder nicht ist – tatsächlich einem “klassischen Schönheitsideal” genauso wenig entspricht wie Heidi Klum. Natürlich ignoriert sie die begehrlichen Blicke der Soldaten und bleibt unnahbar. Natürlich ist sie eine unerbittliche Kämpferin, die jeden feindlichen Krieger niedermäht und natürlich ist es nicht Nihal, die von den Greueln des Krieges überwältigt wird als sie mit anderen jungen Kriegern zum erstenmal in die Schlacht geschickt wird, sondern ein zartbesaiteter Jüngling und natürlich gelingt es auch nur ihr, dass Oarf sie auf seinem Rücken fliegen lässt, ein Drache, der seit dem Tod seines ersten Herren, niemanden an sich heran lässt und wegen seines aggressiven Verhaltens sein Dasein in einem Käfig fristen muss.

Also: Nichts Neues unter der Sonne, aber immerhin ein unterhaltsam geschriebener Fantasyroman mit einer starken, entschlossenen, tapferen Heldin, mit der sich jüngere Mädchen sicher gerne identifizieren, sofern sie sich nicht von den manchmal brutalen Szenen abschrecken lassen, und für alle, die noch nicht allzuviel Leseerfahrung besitzen auch spannend.

Das Land ManGlaubtEsKaum von Norman MessengerDer Erzähler legt mit seinem Boot an einer merkwürdigen Insel an und macht sich auf Erkundungstour – seine aufgezeichneten Entdeckungen lassen sich in diesem Bilderbuch nachlesen.

-Als ich das Land Manglaubteskaum entdeckte, segelte ich gerade gemütlich mit meinem Boot übers Meer.-
Einführung

“Manglaubteskaum” findet man vermutlich im gleichen Atlas wie Dinotopia, die Quinookta-Insel und Translunarien: Es sind Phantasie-Länder, zu denen mehr oder weniger interessante fiktive Forschungsberichte vorliegen.
Das Land Manglaubteskaum richtet sich dabei an ein eher junges Publikum, das machen die mehr als harmlose Handlung, die gänzlich satirefreien erfundenen Wesen und Orte und auch der geringe Umfang des Buches deutlich: Auf 12 Farbtafeln begleitet man den Erzähler über die Insel, die aus dem Nichts aus dem Meer auftaucht und genauso wieder verschwindet, wenn man ihr nur einmal kurz den Rücken zukehrt, um im Boot nach dem Rechten zu sehen. Die Farbtafeln laden jedoch zum Verweilen ein: Es wimmelt von phantasievollen Naturdarstellungen in einem gedeckten Farbspektrum, man kann auch noch Seitenteile ausklappen und entweder neue Blickwinkel oder etwas völlig anderes sehen, viele Details entdecken und manchmal sogar wie bei einem Vexierbild nach versteckten Kleinigkeiten suchen.
Die Texte sind dagegen kurz und sehr simpel gehalten und zeichnen sich vor allem durch die inflationäre Verwendung des Ausdrucks “man glaubt es kaum” aus, womit wir wieder bei der angepeilten Zielgruppe des Buches wären.

Diese macht sich auch beim Einfallsreichtum in Sachen Inselflora und -fauna bemerkbar: Es gibt Bäume, an denen Buchstaben wachsen, einen Vogel, der Gummistiefel trägt, Gemüse, das im Vergleich zu unserem Gemüse vertauschte Farben hat (wird es damit interessanter oder noch grusliger für Kinder?). Nach der inneren Logik eines vorlesenden Bücherbergs und Bäumen mit Schiffsrümpfen sollte man auch nicht suchen – die unheilvoll durchhöhlten Spukberge oder die zwischen Pflanze und Tier oszillierenden Meereslebewesen verbreiten schon mehr Atmosphäre, vor allem, weil der Stil der Illustrationen sich äußerst gelungen an historischen naturwissenschaftlichen Darstellungen wie etwa von Maria Sibylla Merian orientiert. Geländequerschnitte, eine isometrische Landkarte und Detailzeichnungen von Muscheln, Samen, Federn tragen zum ästhetischen Gesamtbild bei.

Als FantasyleserIn stellt man vielleicht auch einfach etwas größere Ansprüche an fiktive Kreaturen und Länder, denn man hat ja schon einiges gesehen und gehört. Deshalb: Als reines Artbook gelungen, denn das visuelle Konzept weiß zu überzeugen und die Ausstattung tut ein Übriges. Als fiktiver Forschungsbericht zu lahm (und kurz). Als Kinderbuch ziemlich große Klasse, denn die Mash-up-Tiere und –Pflanzen regen garantiert zum Weitererfinden und –forschen an, und die Klappseiten mit den vielen Kleinigkeiten machen sogar entdeckerfreudigen Erwachsenen Spaß.

Die Landkarte der Zeit von Félix J. PalmaSie planen eine Zeitreise? Besser, Sie packen eine passende Landkarte ein! Zeitparadoxa sind in diesem Roman vorprogrammiert und laden den Leser dazu ein, sich irgendwo in der Zeit zu verlieren.
In drei Episoden folgt man einem jungen Mann, der seine Geliebte an Jack the Ripper verloren hat und in die Vergangenheit reist, um das Verbrechen zu verhindern; dann trifft man auf Claire, die sich in ihrer Gegenwart des 19. Jh. fehl am Platz fühlt und sich ins Jahr 2000 flüchtet, wo sie sich unerwartet verliebt; zuletzt begleitet man Inspektor Garrett bei der Jagd nach einem Mörder, dessen Waffe noch gar nicht erfunden wurde – und alles läuft zusammen bei H.G. Wells höchstpersönlich …

– Andrew Harrington wäre gern mehrere Tode gestorben, wenn er sich unter all den Pistolen, die sein Vater in den Vitrinen des Salons aufbewahrte, nicht für eine einzige hätte entscheiden müssen. Entscheidungen waren nicht seine Stärke. Genau besehen erwies sich sein Dasein als eine Kette von Fehlentscheidungen, deren letzte ihren langen Schatten bis in die Zukunft zu werfen drohte. Doch mit diesem wenig beispielhaften Leben voller Fehlgriffe war jetzt Schluss. –
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Die Landkarte der Zeit (El mapa del tiempo) ist kein leicht zu rezensierendes Buch, denn es steckt voller Gegensätze. Autor Félix J. Palma spielt mit den Erwartungen seiner Leser, führt sie bewusst hinters Licht, nur um sie dann mit der nächsten Wendung zu überraschen. Manchmal macht er das sehr geschickt, dann wieder sehr bemüht, manches ist entweder ein schlauer Kniff oder eine bittere Enttäuschung. Das Buch ist außerdem Liebesroman, Science Fiction, Krimi, Historischer Roman und Drama in einem. Der ein oder andere wird jetzt vielleicht schon ahnen, dass Die Landkarte der Zeit die ausgeprägte Fähigkeit besitzt, Meinungen zu spalten.

Der Roman besteht aus drei Teilen. Jeder davon hat andere Hauptfiguren und erzählt eine eigene Geschichte, die in sich abgeschlossen ist. Es gibt dabei aber Charaktere, die in allen Teilen auftauchen und eine interessante Verstrickung der Geschichten offenbaren. Nebenfiguren werden zu Hauptfiguren und umgekehrt, je nachdem, wessen Geschichte man gerade folgt. Dabei ist dieser Roman recht intelligent aufgebaut und ab und an blitzt auch der köstliche Humor des allwissenden Erzählers durch, der an den (Film-)Erzähler von Per Anhalter durch die Galaxis erinnert.

Weltenbau und Charaktere sind ebenfalls allesamt sehr lebendig gezeichnet mit einer deutlichen Liebe fürs Detail. Es ist ein Leichtes, sich das viktorianische Setting der Erzählungen vorzustellen – die schmutzigen Gassen Whitechapels, die prachtvollen Herrenhäuser Londons, die feinen Teesalons, die massiven Heldenstatuen, die Zeitmaschine von H.G. Wells … Gerüche und Figuren werden lebendig, hier erweist sich auch der spielerische Umgang mit der Sprache als großer Vorteil.

Auf der anderen Seite gibt es oft Längen und Monologe, in denen man das Gefühl hat, der Autor hört sich einfach gerne selbst reden. Jene Monologe sind besonders deswegen so störend, weil sie in der Regel nur 1:1 nacherzählen, was kurz vorher erst geschehen ist oder geschichtliche Ereignisse werden unnötig genau zusammengefasst – als rechnete man mit plötzlicher Amnesie oder eklatanten Bildungslücken beim Leser. Manches ist dabei auch zu leicht vorhersehbar, was die Stärken des Romans leider ab und an in den Schatten stellt. Durch diese starken Gegensätze von intelligenter Unterhaltung und langweiligen Seitenfüllern schwankt der Lesegenuss öfter mal vom einen ins andere Extrem und am Ende weiß man nicht, ob man dieses Buch mag oder nicht.

Die Landkarte der Zeit ist auch ohne die erwähnten Längen kein spannungsgeladenes Buch. Es ist eine ruhige Geschichte mit kniffligen Verknüpfungen und teils abenteuerlichen Entwicklungen. Wer Zeitreisen sucht, muss sich vor allem ihren theoretischen Möglichkeiten stellen und sich darüber im klaren sein, dass es kein Zukunftsroman ist und die Haupthandlung 1896 stattfindet. Vielmehr ist Die Landkarte der Zeit daher ein Buch für Nostalgiker, die gerne durch die Vergangenheit schlendern und hier und da ein paar Schlenker durch die Zeit schlagen wollen.

Wer gefallen an der Erzählung findet, kann sich mit Die Landkarte des Himmels außerdem über eine Fortsetzung freuen. Dieser erste Band ist aber in sich abgeschlossen und besteht auch problemlos als Einzelband.

Cover des Buches "The Last Battle" von C. S. LewisDer letzte Band der Narnia-Chroniken beschreibt, wie Narnia aufhört zu existieren. Was genau passiert und warum Narnia untergehen muss, sollte man besser selbst nachlesen …

-“In the last days of Narnia, far up to the west beyond Lantern Waste and close beside the great waterfall, there lived an Ape.”-
Chapter One: By Caldron Pool

Am letzten Narnia-Band werden sich wohl die Geister scheiden. Für die einen ist es ein furioses Finale, für die anderen ein vor christlichen Symbolen triefendes Armageddon. Es kommt ganz auf den Leser an, wo dieser seinen Schwerpunkt setzt. Ich für meinen Teil war zunächst sehr überrascht, weil ich schon allerlei Merkwürdiges vom letzten Band gehört hatte: Lewis‘ letzte Geschichte über Narnia ist wirklich fesselnd und spannender als seine Vorgänger. Ich konnte das Buch kaum mehr aus den Händen legen und war auch nach einem Tag bereits durch.

Doch mehr als in den Bänden zuvor wird hier die christliche Symbolik deutlich, besonders am Ende nimmt der religiöse Charakter überhand. Zum Schluss wird dem Leser eine deutliche (natürlich religiöse) Botschaft vermittelt.
Welche Seite nun der Leser mehr Beachtung widmet, bleibt ihm selbst überlassen. Mich hat The Last Battle (Der letzte Kampf) wirklich gefesselt, und es bildet zudem auch noch einen runden Abschluss für den gesamten Zyklus.

The Last Guardian of Everness von John C. WrightGalen, der jüngste Spross der Familie Waylock, wird von seinem Großvater dazu ausgebildet, sich im Familienanwesen Everness in die Welt der Träume zu begeben und dort die ewige Wacht zu halten, mit der die Familie betraut ist: Wenn sich die Finsternis erhebt, müssen die Waylocks die Mächte des Lichts zum Kampf rufen. Galen erkennt untrügliche Zeichen dafür, dass diese Zeit gekommen ist, und da er seinem alten Großvater die schwere Aufgabe abnehmen will, wagt er einen Alleingang in das Reich der Träume. Gleichzeitig bangt der kräftige, aus dem Kaukasus stammende Raven in einem Krankenhaus um das Leben seiner hübschen Frau Wendy – und erhält ein verlockendes Angebot.

-Upon a midnight in midsummer, upon an unchanging ancient house upon the coast, in the year when he was a boy no more and a man not yet, Galen Waylock heard the far-off sound of the sea-bell tolling slowly in his dream.-
Founding, 1

John C. Wright ist ein Autor, den man heute eigentlich nicht mehr guten Gewissens empfehlen kann, nachdem er ein christliches Erweckungserlebnis hatte und darauffolgend auch politisch in die extreme Ecke abgewandert ist, wie er stetig mit mehr als fragwürdigen Äußerungen untermauert. Mit der zweibändigen Saga The War of the Dreaming, seinem ersten Ausflug in die Fantasy, hat er jedoch einen atemberaubenden modernen Mythos geschaffen, und da The Last Guardian of Everness auch vor Wrights Radikalisierung verfasst wurde, hat es sich eine Erwähnung verdient. Ob man den Roman mit dem Wissen um Wrights Gesinnung, die aus The Last Guardian of Everness allerdings nur schwer herauszulesen ist, ungebtrübt genießen kann, sei dahingestellt.
Wright erfindet die Mär vom ewigen Kampf zwischen Licht und Dunkel nicht neu, sondern stürzt sich mit großer Begeisterung auf ältere und neuere Vorgänger in diesem Metier und nimmt sich hier und da, was er für sein großes Mosaik braucht. Und das Gesamtwerk, das er dann aus all diesen kleinen Schnipseln schafft, geht erstaunlicherweise nicht in dieser Vielzahl von Versatzstücken und Ideen unter, sondern ist tatsächlich etwas Eigenes und mehr als die Summe seiner Teile geworden.

In Wrights Traumlanden wird eine Welt gezeigt, die über die Grenzen der unseren hinausgeht und doch mit ihr verbunden ist. Je mehr Seiten man von The Last Guardian of Everness liest, desto unglaublicher scheint die schiere Menge an Mythen, Sagen und Geschichten, die Wright zu einem großen Mythos verknüpft hat. Alle Anspielungen zu verstehen, die aufgefahren werden, ist beinahe ein Ding der Unmöglichkeit: Neben der Artussage, antiken Gottheiten und exotischeren Gestalten wie dem russischen Koschei stehen Schöpfungen Lord Dunsanys oder C.S. Lewis’ und etlicher anderer Schriftsteller. Das erstaunliche an diesem bunten Flickenteppich ist, dass Wright zwar mit so manchem Klischee bricht und all die Orte und Figuren zu einem großen Über-Mythos verbindet, ihnen aber trotzdem ihre Identität nicht nimmt: Eine Fee ist bei ihm letzten Endes trotz aller Brechungen doch eindeutig eine Fee, und ein Gott kann auf ungewohnte, aber dennoch stimmige Weise seine Mächte zum Einsatz bringen.

Bei all dem schweren Geschütz, das aufgefahren wird, ist The Last Guardian of Everness meistens trotzdem locker erzählt und verblüffend modern – so sind die Waylockschen Familienverhältnisse nicht die allerbesten, und mögen die Charaktere auch noch so phantastisch sein und gegen überirdische Gegner antreten, so kämpfen sie doch auch mit ganz alltäglichen Problemen. Die Handlungsstränge bieten einige gelungene Wendungen und sind auf äußerst spannende Weise miteinander verknüpft; Wright scheut sich auch nicht, einnehmende Figuren unerwartet abzuschießen.
Besonderen Genuss bereiten die wunderbaren Bilder, die Wright präsentiert – gigantische Kompositionen, die den Leser mit offenem Mund dasitzen lassen. Gerade zu Beginn des Romans jagt diesbezüglich ein Höhepunkt den nächsten, und man hätte sich durchaus einmal etwas Entspannung zwischendurch erhofft, wenn die Dichte der epischen Momente fast zu schön ist, um wahr zu sein. Atemberaubend ist es allemal, und jedes Detail vom kleinen Gedicht bis zum riesigen Panorama ist stimmig.
Eine diesmal rein inhaltliche Warnung zum Abschluss: Die Geschichte endet dann, wenn sie am schönsten ist, bzw. in einem absoluten Cliffhanger und erfordert eigentlich auch die Lektüre des zweiten und abschließenden Teils.

Cover des Buches "Last Light of the Sun" von Guy Gavriel KayDer junge Erling Bern Thorkellson gerät unverschuldet in die Leibeigenschaft und will sich in einer unüberlegten Aktion daraus befreien. Eigentlich ist er chancenlos und malt sich schon aus, wie er von seinem blutrünstigen Volk hingerichtet wird, doch er erhält Hilfe von unerwarteter Seite.
Alun ap Owyn, ein Barde der Cyngael, und sein Bruder Dai geraten bei einem Viehdiebstahl ausgerechnet an das Haus und den Besitz des berühmten Brynn, der einen der bekanntesten Erling-Plünderer getötet hat, auch wenn die Erling nach wie vor an den Küsten der Cyngael einfallen. Nur durch eine List können sich die Brüder retten und werden sogar als Gäste in Brynns Haus empfangen, wo sie die Bekanntschaft seiner schönen Tochter machen.

-A horse, he came to understand, was missing.
Until it was found nothing could proceed. The island marketplace was crowded on this grey morning in spring.-
One

In The Last Light of the Sun (Die Fürsten des Nordens) lässt Guy Gavriel Kay die hochzivilisierten Kulturen Süd-Europas hinter sich und entführt den Leser in die kalte, karge Welt der Cyngael, Angclyn und Erling, seiner Variante der (walisischen) Kelten, Angeln und Wikinger. Historisch orientiert sich der Roman am Britannien des 9. Jahrhunderts und den Geschehnissen rund um Alfred den Großen.
Auch in diesem Roman beherrscht Kay meisterhaft die Inszenierung ineinander verwobenen Handlungsstränge. Anfangs scheint er einfache, unzusammenhängende und unspektakuläre Geschichten zu erzählen, die sich um drei Hauptpersonen bzw. Personengruppen ranken, doch es ist ein fragiles Gespinst, in dem Kleinigkeiten auf unvorhersehbare Art große Bedeutung erlangen, der berühmte Flügelschlag eines Schmetterlings, der anderswo einen Orkan auslöst. Auf subtile Weise verbindet Kay die Einzelschicksale zu einem großen Ganzen, und es ist eine Freude, aufzudecken, wie sich alles gegenseitig bedingt und worauf es hinausläuft.

Mehr als in den vorausgegangenen Romanen Kays spielt hier das Magische eine Rolle, das immer mehr vom Glauben an Jad (Kays Paralelle zum Christentum) zurückgedrängt wird. In den Wäldern der erst kürzlich jaddisierten Cyngael lebt das Alte, das Magische fort, und selbst Priester tun sich schwer, die Existenz einer Anderswelt und ihrer Geschöpfe – vor allem der Feen – zu leugnen. Während in The Last Light of the Sun einerseits großartige historische Recherchearbeit geleistet wurde und die dargestellten Kulturen und Ereignisse authentisch geschildert werden, beeindrucken vor allem auch die Passagen, die die Anderswelt mit ihren Geisterwäldern und verborgenen Tümpeln darstellen, durch eine archaische, unheimliche Atmosphäre, verstärkt durch einen lyrischen Präsensstil, der diese Abschnitte ganz wortwörtlich in eine vom Geschehen losgelöste Zeit hebt.

Kays brilliante Sprache passt sich Situationen, Kulturen und verschiedenen Figuren an, verliert aber nie den kleinen Hauch Poesie, der sie so lesenswert macht. Einige Erzählkniffe heben das Buch zusätzlich vom gewohnten, linearen Einheitsbrei ab, am prägnantesten wohl jene eingestreuten Passagen, in denen immer wieder die Schicksale von Figuren, die an der Handlung nur marginal beteiligt sind, vor dem Leser ausgebreitet werden und die Geschehnisse des Romans relativieren, ohne ihnen die Intensität zu rauben. Und Kay beherrscht nach wie vor die Kunst, in einem einzigen Satz eine überraschende Wendung so zu verpacken, dass man erst nach einigen Zeilen den Mund wieder zuklappen kann.
Aber auch seinen Hang zur Tragik hat er beibehalten, und man wünscht sich manchmal doch etwas mehr positive Elemente – trotz eines versöhnlichen Endes überwiegt eindeutig das Düstere.
Weniger bombastisch als in Lions of Al-Rassan oder Sarantine Mosaic, was sicher auch an den weniger üppigen Kulturen und damit einhergehend einer geringeren sprachlichen Verspieltheit liegt, aber fast genauso dicht am Geschehen, schafft es Kay auch hier wieder, den Leser in seinem Mahlstrom menschlicher Schicksale mitzureißen, zumindest diejenigen, die sich für Geschichten und Geschichte begeistern und auf massiven Magie-Einsatz auch verzichten können.

The Last Olympian von Rick RiordanDie finale Schlacht ist gekommen und der Krieg um die Herrschaft beginnt. Mit seiner gewaltigen Armee zieht Kronos auf Manhattan zu, um den Olymp und die Götter zu zerstören. Während die olympischen Götter außerhalb gegen Titanen kämpfen müssen, wurde die Stadt in tiefen Schlaf versetzt und von der Außenwelt abgeschottet. Es bleiben nur noch die wenigen Halbgötter des Camp Half-Blood als letzte Verteidigung für den Olymp – vierzig gegen vierhundert. Doch das Camp ist nicht nur in der Unterzahl, die Häuser sind auch gespalten und ein Verräter bewegt sich unerkannt unter ihnen. Nicht zuletzt ist außerdem die Zeit für Percy Jacksons vielleicht letzte Entscheidung gekommen.

– The end of the world started when a pegasus landed on the hood of my car. –
I go cruising with Explosives, S.1

The Last Olympian (Die letzte Göttin) ist der wohl stärkste Teil dieser Reihe. Autor Rick Riordan hat sich mit jedem neuen Buch ein gutes Stück gesteigert, doch in diesem fünften Band holt er noch einmal alles raus und liefert den Lesern ein triumphales Finale.

Der letzte Roman um Percy Jackson startet ohne viel Vorspiel mit einem Kampf und dem plötzlichen Tod eines Freundes. Das gesamte Camp befindet sich im Kriegszustand, die Emotionen sind angespannt, Hoffnung ist kaum noch vorhanden und zu allem Überfluss herrschen auch innerhalb der Gruppe von Halbgöttern Streitereien. Die Kinder des Olymp sind praktisch auf sich allein gestellt, denn ihre göttlichen Eltern kämpfen, mit wenig Erfolg, an anderer Front gegen Titanen, die auf den Olymp zu marschieren. Campleiter Chiron ist ebenfalls fort, um Hilfe zu suchen, doch die Rückmeldungen von beiden Parteien klingen ziemlich aussichtslos. Die Chancen stehen also erbärmlich schlecht und entsprechend schwer sind die Gedanken unserer Helden, denn es geht von Anfang bis Ende um mehr als nur das eigene Überleben.

Wer nun fürchtet, The Last Olympian biete einen deprimierenden Lesegenuss, der irrt. Angesichts der Lage geschehen einige tragische Dinge, die an den Protagonisten durchaus nagen und auch den Leser nicht kalt lassen. Doch mit einem neuen Höchstmaß an Sarkasmus und Galgenhumor sorgen Percy und seine Freunde auch immer wieder für unerwartet humorvolle Einlagen, die zeigen, dass unsere Halbgötter noch lange nicht am Ende sind. Auch Gott Apollo gibt wieder kleine Spezialitäten zum Besten, nahezu preisverdächtig ist seine jüngste Auswahl an Fahrstuhlmusik. Wer bisher noch nicht von diesem Hitzkopf hingerissen war, der wird Apollo nach der Lektüre dieses letzten Bandes lieben.

Wie eingangs erwähnt, hat Rick Riordan in seinem finalen Aufgebot der Percy-Jackson-Reihe Höchstform gezeigt. Mehr beschreibende Details kreieren eine plastische, lebendige Welt, und zusätzlich kommen die Götter und ihre Gegenspieler viel häufiger zum Zuge und sorgen für echte mythologische und antike Stimmung. Unter den vielen Charakteren, die beinahe beiläufig, aber wirkungsvoll weiter ausgebaut werden, fällt vor allem der junge Nico sehr positiv auf. Der Sohn des Hades, der bei seinem ersten Auftritt in The Titan’s Curse (Der Fluch des Titanen) noch wie ein naiver, aufgeweckter Junge ohne Sorgen wirkte, hat sich bis in den finalen Band zu einem wirklich interessanten und düsteren Charakter entwickelt. Umso erfreulicher, dass er im fünften Band eine wichtige Rolle einnimmt, in der lange nicht klar ist, für welche Seite der Junge tatsächlich kämpft.

Am Ende von The Last Olympian hat man etliche Verluste erlebt, den Mut und die Hoffnung nicht verloren, ist an den Erlebnissen gewachsen und mit ihnen erwachsen geworden. Man hat auch gelernt, dass junge Frauen im Kriegszustand verflucht Angst einflößend sein können, und man hat unheimlich viel zu lachen und zu bangen gehabt. The Last Olympian macht eigentlich alles richtig und übertrifft die Erwartungen an dieses Finale. Glücklicherweise verzichtet der Autor auf einen kitschigen Epilog, der das Leseerlebnis nachträglich hätte trüben können.

Wer nun noch immer nicht genug bekommen hat von Halbgöttern und olympischen Bewohnern, dem könnte die ähnlich konstruierte, aber mit neuen Charakteren besetzte Folgeserie The Heroes of Olympus gefallen.

Lauf gegen die Dunkelheit von Jeanne DuPrauDie Stadt Ember existiert im dunklen Innern der Erde, erhellt nur durch das elektrisch erzeugte Licht eines einzigen Generators. Doch ausgerechnet der droht nun zu zerfallen und die marode gewordene Stadt in vollkommene und nie enden wollende Dunkelheit zu tauchen.
In dieser Zeit macht die junge Lina Mayfleet eine Entdeckung unter den Erinnerungsstücken ihrer Großmutter – eine Kiste, in der sich die bruchstückhaft erhaltenen Anweisungen der Erbauer Embers befinden. Anweisungen, die die Bewohner retten und in eine neue Stadt führen könnten.

– Es gibt keinen Ort außer Ember. Ember ist das einzige Licht in einer finsteren Welt. –

Zu Lauf gegen die Dunkelheit liegt eine Rezension der Originalausgabe bei Bibliotheka Phantastika vor, dazu bitte hier entlang.

The Legend of Sigurd and Gudrún von J.R.R. TolkienChristopher Tolkien präsentiert die wissenschaftliche und literarische Auseinandersetzung seines Vaters mit der Wälsungensage (der altnordischen Fassung der Nibelungensage), die J.R.R. Tolkien unter anderem zu zwei im Rahmen dieses Buches veröffentlichten epischen Gedichten nach mittelalterlichem Vorbild inspirierte: Dem von Ódin auserwählten Helden Sigurd ist ein ruhmreiches, aber tragisches Schicksal bestimmt, das auch das bis dahin behütete Leben der Königstochter Gudrún für immer verändert und ein ganzes Herrschergeschlecht mit in den Untergang reißt …

– If in day of Doom
one deathless stands,
who death hath tasted
and dies no more,
the serpent-slayer,
seed of Ódin,
then all shall not end,
nor Earth perish. –
(Völsungakviða en nýja I, 14)

The Legend of Sigurd and Gudrún (Die Legende von Sigurd und Gudrún)bildet die jüngste Veröffentlichung in der langen Reihe postum erschienener Werke J.R.R. Tolkiens. Ganz gleich, ob man hierin nun ein kommerziellen Rücksichten geschuldetes Ausschlachten auch noch der letzten Notizen oder das Streben nach einer möglichst lückenlosen Dokumentation und Veröffentlichung eines wertvollen literarischen Nachlasses erblicken will, die Erwartungen an jeden bisher noch unbekannten Text aus der Feder eines der Begründer des Fantasygenres sind selbstverständlich hoch.

Doch wer auf einen „neuen“ Tolkienroman etwa nach dem Muster von The Children of Húrin (Die Kinder Húrins) hofft, wird sich wohl wundern: Fantasy im klassischen Sinne findet man trotz Drachenkampf und Zaubertrank in The Legend of Sigurd and Gudrún nicht. Stattdessen bietet der Band zwei vollständige, altnordisch betitelte epische Gedichte über die Wälsungensage, die Völsungakviða en nýja (Das neue Wälsungenlied) und die Guðrúnarkviða en nýja (Das neue Gudrúnlied), im Anhang zudem noch ein Gedicht Tolkiens nach dem Vorbild der Völuspá und Fragmente seines Versuchs, das Atlilied auf Altenglisch nachzudichten.

Umrahmt werden die Gedichte von umfangreichen Sachtexten, die teilweise von J.R.R. Tolkien, teilweise von seinem hier als „Herausgeber“ fast schon unterbewerteten Sohn Christopher stammen und nicht nur eine kommentierende Deutungshilfe bieten, sondern auch einen Blick auf den Wissenschaftler Tolkien erlauben, der zwar in mancherlei Hinsicht dem Forschungsstand seiner Zeit verhaftet war, andererseits aber über ein so sensibles Gespür für Sprache und ihre Eigenarten und Einsatzmöglichkeiten verfügte, dass ihn noch manch heutiger Philologe darum beneiden dürfte. Jeder Leser, der sich fachlich oder privat mit der Mediävistik beschäftigt, wird die hier dargebotenen Erkenntnisse sicher mit Interesse in sich aufnehmen und bisweilen auch kritisch hinterfragen. Ob allerdings der durchschnittliche Fantasyfan die oft akribischen Ausführungen über die Feinheiten mittelalterlicher Metrik oder atmosphärische Unterschiede zwischen angelsächsischer und altnordischer Dichtung als spannend empfindet, sei dahingestellt.

Und dennoch: Die Hintergrundinformationen, die in den Sachabschnitten vermittelt werden, sind alles andere als überflüssig, denn erst sie erlauben eine Würdigung der Leistung, die Tolkien mit seiner nahezu perfekten Nachahmung frühmittelalterlicher Stabreime und seinem gekonnten Einsatz formelhafter, mündliche Überlieferung evozierender Wendungen vollbringt. The Legend of Sigurd and Gudrún erlaubt weit besser als mancher moderne Fantasyroman ein Versinken in Sprache und der atmosphärischen Dichte, die sie erzeugen kann. Ganz gleich, ob in poetischen Wendungen eine Reise durch urwüchsige Landschaften geschildert, ein dramatischer Kampf heraufbeschworen oder eine Strophe mit emotionsgeladener Figurenrede aufgelockert wird, Tolkien erweist sich als Meister seines Fachs, dem es gelingt, einen die altvertraute Handlung um Sigurd (der dem Siegfried des Nibelungenlieds entspricht), Gudrún (Kriemhild), ihre Brüder und den Hunnenkönig Atli (Etzel/Attila) in mitreißender Form noch einmal ganz neu erleben zu lassen.

Auf bewusst gebrauchte Archaismen muss man sich allerdings einlassen, ebenso auf reichlich Pathos (das in der Entstehungszeit der beiden Gedichte, die wohl etwa in die 1930er Jahre zu datieren sind, allerdings noch weniger befremdlich gewirkt haben dürfte als in der heutigen Zeit). Ganz wie die mittelalterlichen Dichtungen, an denen Tolkien sich orientiert, setzen seine „Lieder“ zudem beim Leser zumindest Grundkenntnisse des darin verarbeiteten Stoffs voraus, ohne die sich manche verkürzt dargestellte, übersprungene oder nur angedeutete Einzelheit wohl nicht auf den ersten Blick erschließt.

Inhaltliche Überraschungen finden sich somit für jemanden, der mit der Handlung der Nibelungensage und ihrer skandinavischen Variante vertraut ist, vor allem im Detail. Bemerkenswert ist insbesondere, dass Tolkien den altnordischen Mythen eine sehr christlich geprägte Interpretation angedeihen lässt: Sigurd erscheint als prophezeite Erlösergestalt mit deutlichen Anklängen an Christus. So ist er nicht nur von göttlicher Abstammung, sondern wird auch als Überwinder der Schlange bzw. des Drachen apostrophiert (beide können in der christlichen Ikonographie für den Teufel stehen) und schafft durch seinen irdischen Tod die Voraussetzung zur Überwindung des Todes im Jenseits. Eine noch stärkere Verquickung von heidnischer Sagenwelt und christlicher Heilsgeschichte ist eigentlich kaum vorstellbar. Umso auffälliger ist es, dass Christopher Tolkien diese Ebene in seinem Kommentar ausblendet und sich in seiner Deutung lieber auf Parallelen zur fiktiven Mythologie seines Vaters beschränkt, in der teilweise ähnliche Motive aufscheinen.

In der Tat trägt der Umstand, dass J.R.R. Tolkiens Begeisterung für altnordische Sagen in hohem Maße in seine Fantasywerke eingeflossen ist, einen Gutteil zur Faszination von The Legend of Sigurd and Gudrún bei, erlaubt doch das Wissen um sein übriges Schaffen, die Gedichte nicht nur als – wenn auch gelungene – gelehrte Spielerei abzutun. Für Tolkienfans ist das vorliegende Buch daher auf jeden Fall eine Bereicherung, ebenso für sprachbegeisterte Leser (sofern sie zugleich ein Faible für Sagen und Mythen haben). Wer hingegen Fantasy ausschließlich in Form unterhaltsamer Romane genießen möchte, wird hier eine Enttäuschung erleben.

The Legend of Sleepy Hollow von Washington Irving und Gris GrimlyIchabod Crane ist ein armer Schlucker von Dorflehrer, der sich ausgerechnet in die hübsche Tochter eines reichen Mannes verliebt. Während er mit seiner stillen und etwas unbedarften Art versucht, seiner Angebeteten höflich den Hof zu machen, hat er gegen die auftauchende Konkurrenz, einen grobschlächtigen Muskelprotz, keine Chance. Als er eines Nachts später als geplant von einem Kaffekränzchen mit älteren Damen aufbricht, wird er schließlich auch noch von der alten Legende des kopflosen Reiters heimgesucht.

– In the bosom of one of those spacious coves which indent the eastern shore of the Hudson lies a small market town, or rural port, which is known by the name of Tarry Town. –

The Legend of Sleepy Hollow gehört im englischsprachigen Raum wohl zu einer der Geschichten, die alle Kinder irgendwann als Gruselmärchen erzählt bekommen. Hierzulande dürfte den meisten wohl eher die Verfilmung von Tim Burton mit Johnny Depp als etwas schrulligem Ermittler bekannt sein.

Wenn man sich nun die Vorlage von Washington Irving ansieht, dann wird schnell klar, dass es sich hier um eine völlig andere Geschichte handelt und die Enttäuschung folgt bei manch einem Leser auf dem Fuße. Es gibt einen kopflosen Reiter und auch einige Namen stimmen überein, aber das war es dann auch schon mit den Gemeinsamkeiten. Keine Hexen, keine böse Stiefmutter, keine Albträume von verstorbenen Eltern, keine okkulten oder magischen Symbole unter dem Bett, keine Autopsien und keine Liebesgeschichte.
The Legend of Sleepy Hollow ist leider alles andere als spannend oder gar unheimlich. Es ist die Erzählung über einen schlecht verdienenden Lehrer von schmächtiger Statur und unattraktivem Äußeren, der sich in eine schöne reiche Tochter verguckt und mit einem ebenso reichen starken Kerl  konkurrieren muss. Unnötig zu erwähnen, wer da wohl das Rennen macht, zumal die Rollenbilder der damaligen Zeit natürlich heute deutlich antiquiert wirken und andere Botschaften transportierten, als man es als moderner Leser gewohnt sein sollte. Der kopflose Reiter? Nur eine Geschichte in einer Geschichte, die Schreckphantasie eines ohnehin schon wunderlichen Mannes.

The Legend of Sleepy Hollow illustriert von Gris GrimlyAuch die herrliche Illustrationskunst von Gris Grimley, der sich gerne an solch alten Texten austobt, vermag die Wirkung der Geschichte daher leider nicht zu heben. Möglich ist natürlich, dass The Legend of Sleepy Hollow, wie viele Klasiker der Literatur, einfach nicht mit dem modernen Verständnis von Grusel und Horror mithalten kann. Im 19. Jhrd. sah das vielleicht völlig anders aus – schließlich galt da auch Dracula als höchst unheimliche Lektüre – während sie heute mehr aus rumsitzen und Tee trinken zu bestehen scheint und man von dem “Bösen” nicht wirklich viel bemerkt. Auf der anderen Seite stellt sich die Frage, ob Washington Irving überhaupt so stark auf handfesten Grusel aus war oder ob er nicht eher darauf abzielte, die schaurigen Geschichten, die im Zuge der Gothic Novel und der Romantik populär waren, zu ironisieren. Dies würde auch die irdisch-profane Deutung des “Spuks” in der Geschichte erklären. So oder so, Kinder, die noch nicht so abgeklärt sind wie Erwachsene, dürften die Geschichte um den kopflosen Reiter sicher anders wahrnehmen als ein Erwachsener mit größerer Leseerfahrung.

Diese kleine Lektüre ist letztlich durchaus gut geschrieben und die altmodische Sprache bleibt dabei nicht nur recht gut verständlich, sie besitzt auch einen gewissen Charme. Bloß vermag sie es nicht, eine Atmosphäre jedweder Form aufzubauen. Allein wegen der Illustrationen lohnt es sich für Freunde der Optik aber dennoch, dieses Büchlein zur Hand zu nehmen und die vielen kleinen Details und die ganz eigene Art des Künstlers zu erkunden. Die tollen Ergebnisse, die Gris Grimly mit einer begrenzten Farbpalette, klassischer Tusche- und Aquarelltechnik erzielt und wie er die stark überzeichneten Charaktere mit Sympathie und Leben füllt, sind für sich betrachtet unterhaltsam genug.

Die Legende von Araukarien von Ralf LehmannIm Hochhügelland häufen sich bedrohliche Geschehnisse, und so wird der junge Bolgan ausgesandt, um den Alten Niemand, einen jahrhundertealten Einsiedler, aufzusuchen und seinen Rat einzuholen. Was er erfährt, übertrifft seine schlimmsten Befürchtungen: Alles deutet darauf hin, dass der Schwarze Prinz, der schon in ferner Vergangenheit sein Unwesen trieb, zurückgekehrt ist und sich anschickt, die Lande zu verwüsten und ihre Bewohner zu versklaven. Die Reise in die Hauptstadt, um den Herrscher über das Reich Araukarien vor der drohenden Gefahr zu warnen, gerät zum Wettlauf gegen die Zeit, und bei ihrem Eintreffen müssen Bolgan und der Alte Niemand erkennen, dass ihre Nachricht allein nicht ausreicht, um die Katastrophe aufzuhalten …

Das Land der Tanzenden Berge! Es ist eine merkwürdige Gegend, in der diese Geschichte ihren Anfang nimmt, eine weit von Araukaria, der Hauptstadt des Alten Reiches, entfernte Provinz. Die Landschaft ist schön und anmutig, mit grünen, baumbestandenen Kuppen und tief eingeschnittenen Tälern, in deren Niederungen knorrige alte Trauerweiden in einem niemals endenden Zwiegespräch mit kristallklaren Bächen stehen.
(1. Die Erzählung des Alten Niemand)

Mit der Legende von Araukarien, dem ersten Band der Trilogie um den Kampf gegen den Schwarzen Prinzen (anscheinend nicht verwandt oder verschwägert mit diesem Herrn), bietet Ralf Lehmann inhaltlich sehr klassische Fantasy: Eine dunkle Bedrohung aus grauer Vorzeit sucht jäh die Welt heim und die traditionellen Eliten versagen, so dass eine kleine Runde von Gefährten aus dem Volk unter Führung eines alten Mentors für kurze Zeit zusammenfinden muss, nur um sich bald wieder zu trennen und auf unterschiedliche Questen auszuziehen. Nichts weiter Bemerkenswertes, so möchte man meinen, zumal die jugendlichen Helden Bolgan, Hatib und Fernd gerade im Vergleich zu den oft liebevoller gezeichneten Nebenfiguren ein wenig blass bleiben. Dass Lehmann es eigentlich besser kann, beweisen die Passagen, in denen er sich daran wagt, menschliche Beziehungen in ihrer ganzen Kompliziertheit auszuloten: So nähern sich etwa einige Sklavenjäger und ihre Opfer einander ungewollt an, als ein schneller Weiterverkauf scheitert, und der mühsame Versuch, den auch langfristig günstigsten sozialen Umgang miteinander auszuhandeln, lässt viele Zwischentöne zu. Solch feine Beobachtungen würde man sich häufiger wünschen, zumal auch noch andere Schwächen auffallen: Manch innerer Widerspruch wird nicht aufgelöst, und die Dichte an Frauengestalten ist wesentlich geringer als in jedem durchschnittlichen Karl-May-Roman. Apropos Karl May: Dessen Bücher dürften Lehmann tatsächlich in gewissem Maße als Inspirationsquelle gedient haben, denn genau dort ist man einem dicken Boschak oder einer Beschreibung, die der des Schurken Morgreal verdächtig ähnelt, schon einmal begegnet.
Die Tatsache, dass Handlung und Charaktere Die Legende von Araukarien nicht unbedingt über den Durchschnitt hinausheben, sollte einen jedoch nicht von der Lektüre abschrecken, denn auf zwei anderen für die Fantasy ungemein wichtigen Gebieten stellt der Roman unbestreitbar seine Qualität unter Beweis: Weltenbau und Erzählweise überzeugen. Wie schon das oben gewählte Zitat verrät, kommt Araukarien hinsichtlich der phantastischen Elemente, die das Land selbst durchdringen, um einiges magischer und verspielter daher, als man es im Zeitalter “realistischer” Fantasyromane gewohnt ist: Berge, die über Nacht den Standort wechseln, ein verwunschener Hügel, den der finstere Feind nicht betreten kann, eine Ruinenstadt, in der Geisterspuk eine ferne Vergangenheit wiederauferstehen lässt, und eine geheimnisvolle Orakelhöhle wollen erkundet werden und erinnern einen daran, dass der größte Reiz von Questenfantasy oft nicht im Ziel der Reise, sondern in einem abwechslungsreichen Weg besteht. Auch die Wesen, von denen diese bunte Welt bevölkert ist, sind originell und von einer märchenhaften Unheimlichkeit, die sich nicht zuletzt aus der schieren Selbstverständlichkeit speist, mit der sie etwa auf Gedanken und Träume der Menschen zugreifen können. Wenn beispielsweise ein dämonischer Gifalk – eine Kreatur, die sich von Träumen nährt – den jungen Sohn eines Wirts zu sich aufs Zimmer bestellt und nur in Andeutungen eine geistige Vergewaltigung impliziert wird, erzeugt der Text mit subtilen Mitteln ein unterschwelliges Grauen, das weit länger nachhallt als jedes Entsetzen über eine plakative Gewaltdarstellung.
Ohnehin kann man sich nach einer Weile des Gedankens nicht mehr erwehren, dass es eigentlich gar keine so große Rolle spielt, was Ralf Lehmann erzählt, da einen vor allem gefangen nimmt, wie er es tut. Das liegt nicht allein an der teilweise poetischen Sprache (obwohl natürlich ein Waldbühl oder ein Silbergreis gekonnt bildreiche Assoziationen heraufbeschwören), sondern ist auch dem Eindruck geschuldet, es hier mit einer ganz anderen Erzählweise zu tun zu haben als der, die vor allem in der angloamerikanischen Fantasy mittlerweile fast alternativlos vorherrscht. Lehmann verlässt sich nicht allein auf ein szenisches Vermitteln seiner Geschichte, sondern beherrscht auch das raffende Schildern größerer Zeitabschnitte und vor allem das Beschreiben topographischer Besonderheiten virtuos. Die Erzähltradition, in der sein Buch steht, ist nicht die der Fantasy allein; Abenteuerromane des 19. und frühen 20. Jahrhunderts spielen ebenso mit hinein wie einige Aspekte klassischer Kinder- und Jugendliteratur zu phantastischen Themen. Beim Lesen stellt sich daher rasch das sympathische Gefühl ein, dass nicht auf vordergründige Effekte hingearbeitet, sondern vor allem eine Geschichte erzählt werden soll. Die mag nicht perfekt sein, gewiss – aber nach diesem Auftaktband ist man doch sehr gespannt auf den Fortgang, und sei es nur, weil es einfach so großen Spaß macht, sie sich erzählen zu lassen.

Cover des Buches "Die Legende von Manuel" von James Branch CabellManuel ist ein einfacher Schweinehirt, als ein Fremder an ihn herantritt und dazu überredet Gisèle, die Tocher des Königs, aus den Klauen des bösen Magiers Miramon zu befreien. Dazu überlässt er Manuel sogar das magische Schwert Flamberge, aber irgendwie verläuft die Rettung dann doch nicht wie erwartet: Manuel verliebt sich in die Falsche. Auf dem Heimweg begegnet er Horvendile, aus dessen Ratschlag Manuel sein Lebensmotto ableiten wird: “Mundus vult decipi.” – Die Welt will betrogen sein. Sich dieses zu Herzen nehmend scheint seinem Aufstieg nichts mehr im Wege zu stehen. So wird aus ihm der größte und von Skrupeln unbeleckteste Glücksritter, schließlich sogar der Erlöser Poictesmes.

-Man erzählt sich in Poictesme, dass in den alten Zeiten, als Wunder so gewöhnlich waren wie Pasteten, ein junger Schweinehirt namens Manuel lebte, der still und bescheiden des Müllers Schweine hütete.-
I. Wie Manuel den Schweinen Lebewohl sagte

Die fiktive Grafschaft Poictesme liegt an der französischen Küste des Golf du Lion, umgeben von mehr oder weniger fiktiven feudalistischen Gesellschaften des Mittelalters, doch dieses dient hauptsächlich als Kulisse für die Legendenbildung.

Wie der Titel vermuten lässt, ist Manuel die zentrale Figur der Geschichte, doch er bleibt dem Leser fremd. Manuel ist selbstsüchtig und er versucht stets seine egoistischen Taten mit Idealen als gut oder zumindest gerechtfertigt hinzustellen. Am Ende muss der Leser sich fragen, wieviel von diesem mutigen, gewitzten und liebenswürdigen Abenteurer nur gespielt ist – ist er vielleicht einfach nur ein kaltherziger Opportunist – Mundus vult decipi – der der Welt zu zeigen vermag, was sie sehen will? Cabell schreibt die Legende nicht für Manuels Mitmenschen, sondern für den Leser.

Aufgrund der starken Episodenhaftigkeit der Legende wirken die anderen Figuren mehr wie ein bestimmtes menschliches Verhalten, als wie eine ganze Figur. Dennoch sind sie nicht bloß konsequent die Verkörperungen einer einzelnen Eigenschaft, sondern weichen ein wenig von ihrem klaren Kurs ab – sie haben doch mehr als eine Eigenschaft.
Die wichtigste Figur nach Manuel ist sicherlich seine Frau. Er formt ihren Körper nach seinen Vorstellungen aus Lehm und beseelt ihn mit dem Geist einer Toten. Doch ist es ihm gut gelungen? Die anderen Männer verwundern sich, warum er diesen kleinen Krüppel anderen Frauen vorzieht. Sie liebt ihn und er liebt sie, doch scheint ihre Liebe hauptsächlich aus Meinungsverschiedenheiten zu bestehen. Sie verändert ihn mehr, als er es anderen gestattet.
Durch Prinzessin Alianora erhält Manuel den Schlüssel zur weltlichen Macht, denn sie will einen großen König aus ihm machen. Von Königin Freydis erhält er die Fähigkeit, Lehmstatuen zu beleben, denn sie will einen großen Künstler aus ihm machen. Daneben treten noch weitere Figuren auf, die seine Leben beeinflussen: Math, seine Halbschwester; Suskinde, seine Jugendliebe; Horvendil, der Dichter; der Gott Sesphrada, den er selbst schuf und seine Tochter Melicent, die ein ungewöhnlich dummes Balg ist.

Auch wenn alle magischen Elemente der Sword & Sorcery auftreten – Miramon, der finstere Magier; das magische Schwert Flamberge; ein Drache und sogar Sesphrada der Gott – so sind diese doch alle schräg: Der Gott ist ein mieser, selbstgeschaffener Götze und den Drachen kann man nur als Leichnam bemerken. (Manuel: “Und wenn ich daran denke, dass für den Rest der Zeit diese Kreatur [seine Frau] meine Lebensgefährtin sein soll, dann gehe ich gewöhnlich hinaus und bringe jemanden um. Dann komme ich zurück, weil sie weiß, wie ich gern mein Toast habe.”, S. 195-196)

Wie der Titel richtig feststellt, behandelt die Geschichte die Legende von Manuel – im doppelten Sinne. Einerseits wird geschildert, wie aus dem einfachen Schweinehirten der Erlöser Poictesmes wird, wobei zumeist die großen Heldentaten nur sehr summarisch zusammengefasst werden (weil sie vermutlich nie stattgefunden haben), und andererseits wird in einigen Episoden gezeigt, wie Manuel aus Zufällen und egoistischen Taten eine Legende um sich herum strickt. Wie bei Legenden üblich trägt auch die Manuels biographische Züge.

Die Episoden der Legende Manuels behandeln parabelförmig die großen Fragen. Was sind die Bedürfnisse der Menschen? Was ist die Liebe? Wie unterscheidet die Gesellschaft zwischen guten Menschen und schlechten? Und im Kern die Frage: Was macht das menschliche Dasein aus und wieviel davon können andere erkennen? Manche Diskussionen sind außerordentlich gehaltvoll – im Kapitel XVII – Die Magie der Bildnismacher liefert der Autor die Kernfrage der Diskursanalyse: Bestimmt der Mensch den Diskurs oder der Diskurs den Menschen? Auch die Frage inwiefern der Beruf den Charakter formt wird neben anderen angeschnitten. In seiner ironischen Art ist dieses ein psychologischer Roman, der relevante Fragen der Gesellschaft aufgreift – Psychologische Fantasy.

Hinzukommt, dass die Geschichte einerseits durch einen gewissen trockenen Humor, viel Ironie und völlig ernstgenommenen Metaphern eine zuweilen bizarre Komik entwickelt.
Der Schreibstil unterstützt dieses, da er manchmal abrupt zwischen alltagsprachlichen Zusammenfassungen und pompöser, altmodischer Rhetorik springt. Aber so oder so – die Sprache bleibt immer elegant. Wie schon bei  Jürgen ist vieles konsequent doppeldeutig, dem Leser stellt sich z.B. die Frage, ob der Storch tatsächlich die Kinder bringt, oder ob es nur eine Metapher ist.

Als erster Teil des Dom Manuel-Zyklus liefert die Geschichte die Grundlagen für die Folgenden, auch wenn diese durchaus für sich gelesen werden können. Wer etwas der anderen kennt, kann noch ein wenig mehr über der Part von Horvendil rätseln. Darüber hinaus ist Manuel aber das extreme Gegenteil von Jürgen; im Zyklus legt Cabell seine Ansichten über Lebensauffassungen dar, die Vertreter sind Dom Manuel (Chevalereske/Ernste), Jürgen (Galante/Ironische) und Horvendil (Poetische/Schaffende).

Die Legende von Sigurd und Gudrún von J.R.R. TolkienChristopher Tolkien präsentiert die wissenschaftliche und literarische Auseinandersetzung seines Vaters mit der Wälsungensage (der altnordischen Fassung der Nibelungensage), die J.R.R. Tolkien unter anderem zu zwei im Rahmen dieses Buches veröffentlichten epischen Gedichten nach mittelalterlichem Vorbild inspirierte: Dem von Ódin auserwählten Helden Sigurd ist ein ruhmreiches, aber tragisches Schicksal bestimmt, das auch das bis dahin behütete Leben der Königstochter Gudrún für immer verändert und ein ganzes Herrschergeschlecht mit in den Untergang reißt …

– Einst in der Urzeit
war alles noch leer,
nicht gab’s noch See
noch salzkalte Wellen,
Erde war unten nicht
noch über ihr Himmel –
gähnendes Nichts
und nirgends Gras. –
Völsungakviða en nýja I

Zu Die Legende von Sigurd und Gudrún liegt eine Rezension der Originalausgabe bei Bibliotheka Phantastika vor, dazu bitte hier entlang.

Percy Jackson: Die letzte GöttinDie finale Schlacht ist gekommen und der Krieg um die Herrschaft beginnt. Mit seiner gewaltigen Armee zieht Kronos auf Manhattan zu, um den Olymp und die Götter zu zerstören. Während die olympischen Götter außerhalb gegen Titanen kämpfen müssen, wurde die Stadt in tiefen Schlaf versetzt und von der Außenwelt abgeschottet. Es bleiben nur noch die wenigen Halbgötter des Camp Half-Blood als letzte Verteidigung für den Olymp – vierzig gegen vierhundert. Doch das Camp ist nicht nur in der Unterzahl, die Häuser sind auch gespalten und ein Verräter bewegt sich unerkannt unter ihnen. Nicht zuletzt ist außerdem die Zeit für Percy Jacksons vielleicht letzte Entscheidung gekommen.

– Das Ende der Welt begann damit, dass ein Pegasus auf der Motorhaube meines Wagens landete. –
Ich gehe mit einer Ladung Sprengstoff auf Kreuzfahrt

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Der letzte Kampf von C.S. LewisDer letzte Band der Narnia-Chroniken beschreibt, wie Narnia aufhört zu existieren. Was genau passiert und warum Narnia untergehen muss, sollte man besser selbst nachlesen …

– In den letzten Tagen Narnias lebte weit oben im Westen, jenseits des Laternendickichts und nahe dem großen Wasserfall, ein Affe. –
Am Kesselteich

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Der letzte Steinmagier von James A. SullivanVor vielen Jahren wurde die Kaiserin des Reiches von einem abtrünnigen Steinmagier in Stein verwandelt. Seither herrscht Krieg im Land. Die anderen Steinmagier sind untereinander zerstritten und haben sich den Machtkämpfen der Fürsten angeschlossen, statt die Kaiserin aus ihrem endlosen Schlaf zu befreien. Als sich die Steinmagier in der gewaltigen und finalen Schlacht von Wuchao begegnen, bleibt nur der junge Wurishi Yu lebend zurück. Um den letzten Wunsch seines Meisters zu ehren, macht sich Yu auf den Weg, das Unrecht wieder gut zu machen und die Kaiserin zu erwecken. Doch der Fürst Dayku Quan ist ihm bereits auf den Fersen und trachtet dem Wurishi nach dem Leben.

– Wurishi Yu legte seine Hand auf das glatte Bronzesiegel und sprach im Stillen die Worte des geheimen Zaubers. Aus den Wänden links und rechts ertönte ein lautes Beben, und schon bewegten sich die beiden steinernen Torflügel. –
Die Schlacht von Wuchao, Seite 14

Aufgrund seiner abweichenden Genre-Standards hebt sich Der letzte Steinmagier positiv von dem generischen Einheitsbrei um Elfen, Zwerge und Orks ab und schlägt mit seinem ostasiatischen Setting einen gänzlich anderen Weg ein. Die Grundzutaten für den Roman sind dabei teils durchaus wohlbekannt: eine Gruppe von Fremden schließt sich zusammen, um ein gemeinsames Ziel zu erreichen, macht sich auf eine gefährliche und abenteuerliche Reise und wird dabei von einem nach Macht gierenden Gegenpart verfolgt und bedroht. Es gibt natürlich auch eine Prinzessin bzw. hier eine Kaiserin in Nöten, einen nahezu makellosen Helden, der zu ihrer Rettung naht, und ein zerrissenes Reich, in dem Machtkämpfe toben. Diese klassischen Stilmittel werden mit einer guten Portion Humor gewürzt und bieten durch das selten genutzte Setting Asiens eine angenehme Abwechslung. Hervorzuheben ist auch das ungewöhnliche Magiesystem, welches der deutsch-amerikanische Autor James Sullivan in seinem Solo-Debütroman beschreibt.

Die Charaktere in Der letzte Steinmagier sind gut gezeichnet und kommen überzeugend daher, auch wenn sie ihr ganzes Entwicklungspotential nicht ausnutzen können und oft etwas zu schnell an ihren Erfahrungen reifen. Ihr größtes Manko ist eine klare schwarz-weiß Rollenverteilung ohne Abweichungen davon. Was ihnen an dieser Stelle an realistischer Substanz fehlt, machen ihre zumeist humorvollen Eigenarten jedoch wieder wett. Zusätzlich gewinnen sie im Verlauf der Handlung immer mehr an Struktur und verstehen den Leser durch eine interessante Herkunftsgeschichte bei Laune zu halten. Besonders der Charakter des Diebes Sankou Yan sorgt von Beginn an für Sympathie und ist der heimliche Held dieser bunt gemischten Gefährtengruppe. (Ein kleiner Bonus für Fans von Sankou Yan ist auf der Website des Autors in Form einer Kurzgeschichte zu finden).

Der letzte Steinmagier ist ein solides Fantasywerk, das vor allem jüngeren Lesern, Genre-Einsteigen und Eastern-Fans gefallen dürfte. Es finden sich hier einige gute und interessante Ideen ein, die sich vor allem in der ungewöhnlichen Anwendung und Auswirkung des Magiesystems zeigen. Sprachlich kommt der Roman schlicht daher, lässt sich dafür flott und flüssig lesen. Die Atmosphäre ist bei der stringenten Erzählweise und wenig beschreibenden Details etwas schwerer zu fassen, und viele Überraschungen in der Handlung darf man ebensowenig erwarten. Einen Meilenstein der Fantasy stellt Der letzte Steinmagier daher nicht dar, doch wer sich von einem Hauch Ostasiens verzaubern lassen möchte, humorvolle Abenteuergeschichten mag und auch mal einen Einzelroman zur Hand nimmt, der ohne große Überraschungen oder in epischer Länge ausgebreitete Dramen auskommt, wird seine Freude an diesem Buch haben.

Die letzte Wallstatt von Stephen R. DonaldsonDie Lage im Land ist aussichtsloser als je zuvor. Die Horden des finsteren Lord Foul haben das Land mit Zerstörung überzogen und mit Hilfe des Weltübelsteins die Riesen bis auf den letzten Mann vernichtet. Sogar die uralten Bande der Bewohner zu den Bluthütern wurden zerschnitten. Als auch noch die Baumstadt Schwelgenholz unter dem Ansturm von Fouls Wüterich Satansherz fällt und die Feinde sich anschicken, der Menschen letzten Hort Schwelgenstein zu belagern, scheint das Schicksal besiegelt. Hoch-Lord Mhoram fällt einen folgenschweren Entschluss: Er holt den Schriftsteller Thomas Covenant, als “Zweifler” mehr berüchtigt als berühmt, zurück ins Land. Dessen wilde Magie, ausgehend vom Weißgold seines Eherings, könnte die letzte Rettung sein …

-Thomas Covenant sprach im Schlaf. Zeitweise wußte er, was er tat; Bruchstücke seiner Stimme durchdrangen schwach, wie Andeutungen von Unschuld, seinen Stupor.-
1: Die Gefahr in Träumen

Im abschließenden Teil der ersten Trilogie um Covenant den Zweifler kommt Donaldson dem Leser ein weiteres Stück entgegen. Band eins der Chroniken krankte für viele unter dem teilweise extrem unsympathischen “Helden”, insbesondere weil sich zu Anfang fast alles um Covenant drehte, dieser quasi omnipräsent war. Donaldson hebt diese Sperrigkeit hier auf, ohne seinen Hauptcharakter dabei völlig zu verändern: Er führt einen zweiten Handlungsstrang, der parallel zu den Erlebnissen von Covenant verläuft und der auch den gleichen Raum einnimmt, nämlich die Belagerung von Schwelgenstein – was dem Roman unheimlich gut tut und aus Die letzte Wallstatt (The Power That Preserves) den eingängigsten und damit wohl besten Teil der ersten Trilogie um Thomas Covenant macht.
Der Kampf um Schwelgenstein ist äußerst mitreißend, fast ein Paradestück moderner Fantasy. Gleichzeitig vermeidet Donaldson so weitgehend Ermüdungserscheinungen beim Leser, die sich bei Covenants ewig gleicher Verweigerung sonst durchaus einstellen könnten. Wer aber nun auf den Gedanken kommt, die Ereignisse um Covenant selbst (nun also “nur” noch etwa die Hälfte der Seiten umfassend) seien “nur die dritte Quest im dritten Roman” liegt aber daneben. Elegant schlägt der Autor einen Bogen zu den Ereignissen des ersten Bandes, als Covenant zum ersten Mal in die Fantasy-Welt gezogen wurde. Folgerichtig werden viele Personen des Beginns thematisiert, an erster Stelle natürlich der Riese Salzherz Schaumfolger, schmerzlich vermißt im mittleren Band. Auch im Finale schafft es Donaldson, auf phantasiereiche Weise den Kreis zu schließen, so dass ich zu guter Letzt ein rundum gelungenes Leseerlebnis festhalten möchte.

Die letzten Worte des Wolfs von Tobias O. MeißnerKaum hat sich die Mammut-Gruppe um den ehemaligen Schreiber Rodraeg und die Schmetterlingsfrau Naenn von den Strapazen und Verletzungen des letzten Auftrags mehr oder minder erholt, flattert auch schon die nächste Botschaft von den geheimen Auftraggebern ins Haus – diesmal soll sich Rodraeg mit seinen Gefährten in die Küstenstadt Wandry aufmachen,  um die letzte Buckelwalherde zu schützen – die Tiere werden angeblich durch verbotene Magie zur Stadt (und Schlachtung) gelockt. Bevor an einen Aufbruch zu denken ist, muß aber erst einmal ein Ersatz für den im letzten Abenteuer verlorenen Mann her. Die anschließende Reise nach Wandry verläuft turbulenter als geplant.

-Es war um die Mitte des Wiesenmonds. Ein früher Abend.-
Prolog

Im zweiten Streich der Öko-Guerrillas vom Mammut geht es ans Eingemachte, umweltaktivistisch gesehen: Eine Walherde soll vor dem Abschlachten (durch profitgierige Walfänger) gerettet werden, und es gibt tatsächlich sogar eine Szene, in der die Helden sich todesmutig mit einem kleinen Boot zwischen die Meeresriesen und die Fangflotte stellen – da schlägt doch das Herz eines jeden Greenpeace-Fans höher! Man kann allerdings nicht genug betonen, daß Meißner es schafft, das Thema beinahe ganz ohne erhobenen Zeigefinger zu behandeln und es mit interessanten Kniffen aus dem Öko-Milieu bruchlos ins phantastische zu hieven. Vor allem durch den Charakter Rodraeg, der sich zunehmend an einer intakten Umwelt freuen kann, bleibt das Thema zwar im Vordergrund, doch stets ist es eine Abwandlung zu den uns real bekannten Umweltproblemen, weil ein starker Magiefaktor hineinspielt – und weil die Mammut-Abenteuer letztendlich doch nie so einfach gestrickt sind, wie sie anfangs aussehen.
Hinter der Walfangepisode steckt ein größerer Zusammenhang, und das Zerstören der Natur und das Ausrotten von Tierarten schlägt höhere Wellen als vermutet (eine Systemwirkung, die in einer Fantasy-Umgebung viel deutlicher spürbar zu vermitteln ist, als wir es von unseren vielleicht irgendwann richtig brisant werdenden Umweltproblemen kennen).

Allerdings, was die großen Zusammenhänge angeht, die Ziele der Auftraggeber und Gegner des Mammuts, die die einzelnen Episoden der Serie auch aneinanderketten, guckt man in diesem Band leider in die Röhre. Meißner geizt mit Informationen, die den gesamten Handlungsbogen betreffen – man ist diesbezüglich am Ende kaum schlauer als nach dem ersten Band und hat nach der Lektüre des zweiten vornehmlich ein hübsch ausgeführtes Abenteuer bestanden, ohne aber viel Weiterentwicklung in der Hintergrundgeschichte erfahren zu haben.
Vielleicht ist hier aber auch der Weg das Ziel, denn während man das Mammut auf die Walrettungsaktion begleitet, möchte man sich eigentlich nie über mangelnde Unterhaltung beschweren. Wie schon der erste Band glänzt das Abenteuer mit liebevoll beschriebenen Personen, denen man mit Vergnügen über die Schultern schaut, und einem schönen, leicht zu lesenden Stil, für Meißner-Verhältnisse ohne große Experimente. Von der ungewöhnlichen Thematik abgesehen, sind die Taten des Mammuts im Grunde weder sonderlich sensationell noch actionreich, aber so, wie sie erzählt sind, kann man locker die halbe Episode in einem Haps weglesen.
Am Anfang steht eine vergleichsweise lange Reisezeit zum Zielort – da läßt es Meißner sehr ruhig angehen und schwelgt in Besuchen von Gasthöfen, Beschreibungen, den Beziehungen der Figuren untereinander, was sich aber alles erstaunlich unterhaltsam liest. Durch die zeitlich eingeengte Auftragssituation – die Wale kommen relativ termingerecht nach Wandry – ist für eine gewisse durchgängige Dynamik gesorgt.

Aus vielen Elementen – nicht zuletzt der klaren Verteilung von verschiedenen Fähigkeiten bei den Mitgliedern der Mammut-Gruppe – sprechen deutliche Rollenspieleinflüsse, allerdings in einem erträglichen Ausmaß und auch verstärkt durch die Gliederung der Reihe in Einzelabenteuer. Weil pro Band ein kompletter Auftrag abgehandelt wird, bekommt man am Ende einen schönen Abschluß – die Rahmenhandlung und auch die detailverliebte Charakterentwicklung tragen den Leser weiter in den nächsten Band.
Wer detailfreudige, gemächliche und trotzdem warmherzige Fantasy mag, sollte sich von der ungewöhnlichen Thematik also nicht abschrecken lassen und ein Abenteuer mit Rodraeg und seinen Gefährten wagen – und nächstes Mal gibt es hoffentlich etwas mehr Futter für Spekulationen, was die alle Bände überspannende Gesamthandlung angeht …

Leviathan von China MiévilleBellis Coldwine muß ihre Heimatstadt New Crobuzon verlassen und mit einem Schiff in eine ferne Kolonie zu flüchten. Mit ihr an Bord sind andere Passagiere und ein ganzer Rumpf voller Gefangener – Arbeitssklaven für die Kolonie. Doch sie erreichen niemals ihr Ziel: Nach einem Überfall werden alle Reisenden zwangsweise zu Bürgern von Armada gemacht – einer Piratenstadt, die über die Meere von Bas-Lag treibt. Während die Gefangenen nun frei sind und Armada loyal gegenüberstehen, kann sich Bellis nicht damit abfinden, bis ans Ende ihrer Tage dort bleiben zu müssen. Als sie herausfindet, daß die Führer der Stadt nach dem größten aller Meeresungeheuer fischen wollen, versucht sie ihr Wissen zur Flucht einzusetzen.

Zu Leviathan liegt eine Rezension der Originalausgabe bei Bibliotheka Phantastika vor, dazu bitte hier entlang.

Anmerkung: Das englischsprachige Original wurde in der deutschen Übersetzung gesplittet. Die verlinkte Rezension bezieht sich daher auf die beiden deutschsprachigen Bücher Die Narbe und Der Leviathan.

Percy Jackson – The Lightning ThiefPercy Jackson ist ein Problemkind wider willen, denn er gerät von einer seltsamen Situation in die nächste. Kein Wunder, dass er schon von sechs Schulen geflogen ist. Was er und der gewöhnliche Mensch aber nicht ahnen: Percy Jackson ist kein Unruhestifter sondern ein Halbgott und damit in höchster Lebensgefahr. Denn die Schergen des Gottes der Unterwelt haben es auf den Jungen abgesehen, nicht nur weil er im Verdacht steht, den berüchtigten Blitz des Zeus gestohlen zu haben. Die Furien sind ihm bereits dicht auf den Fersen, und die einzige Chance zu überleben scheint das Camp Half-Blood zu sein in dem ein mauliger Dionysus die Leitung hat.

– Being a half-blood is dangerous. It’s scary. Most of the time, it gets you killed in painful, nasty ways. –
I Accidentally Vaporize My Math Teacher, S. 1

The Lightning Thief (Diebe im Olymp) ist der erste Roman aus der Jugendbuchreihe Percy Jackson & The Olympians. Wie der Reihentitel schon erahnen lässt, dreht sich die Handlung um Figuren und Sagen aus der griechischen Mythologie. Percy Jackson wird oftmals auch als griechischer Harry Potter bezeichnet. Mit seinem Helden schafft es Autor Rick Riordan, trotz einiger Parallelen dennoch eine eigenständige Geschichte mit einer gänzlich anderen Atmosphäre zu erschaffen. Dementsprechend wäre niemandem damit gedient, sich von Percy Jackson einen zweiten Harry Potter zu erhoffen, aber es gibt natürlich trotzdem jede Menge Magie, gefährliche Monster, schwammige Prophezeiungen eines ganz schön ausgedörrten Orakels und natürlich eine gefährliche Queste für unsere drei jungen Helden.

Percy Jackson, Sohn des Meeresgottes Poseidon und titelgebender Held dieser Reihe, gilt als Legastheniker und chronischer Unruhestifter mit einem diagnostizierten Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom – dabei ist sein Gehirn einfach nur auf antikes Griechisch gepolt, was freilich niemand, nicht einmal er selbst, ahnt. Mit dieser Diagnose erklärt sich der Junge die seltsamen Dinge, die in seiner Umgebung geschehen, und kommentiert sie mit viel zynischem Humor. Entsprechend amüsant gestalten sich nicht nur Dialoge mit anderen Charakteren, sondern auch die Erzählung insgesamt, die aus der Perspektive eines schlagfertigen Percy geschildert wird.
Für weiteren Witz sorgen der Satyr Grover, dem in besonders heiklen Momenten nicht nur Schuhe und Hosen verloren gehen, sondern auch mal ein Blöken entweicht, und die strategisch denkende Annabeth – Tochter der Göttin Athene – die sich gerne mal mit der rivalisierenden Tochter des Ares in den Wettkampf begibt. Überhaupt ist auffällig, dass die größten und gefürchtetsten Raufbolde in diesem Roman Mädchen sind. Es hüte sich, wer auf dem Schulhof an Zöpfen ziehen möchte …

Dass The Lightning Thief aber auch ernsthafte Seiten hat, beweisen u.a. die Opfer, die Percys Mutter bringt, und das schwierige Verhältnis von Percy zu seinem Vater Poseidon, der sich nicht sicher ist, wie er zu seinem Sohn steht. Da ist einerseits Poseidons willentliche Bekenntnis zur Vaterschaft und andererseits seine Schuldgefühle darüber, durch Percys Zeugung eine wichtige Abmachung mit seinen Brüdern Zeus und Hades gebrochen zu haben. Außerdem scheint es allen Halbgöttern bestimmt zu sein, ein tragisches Schicksal bis hin zu brutalen Toden zu erleiden. Auch das nagt an dem Gott der Meere, der nur wenige eigene Auftritte in diesem Roman hat.
Während man als Leser also doch die ganze Zeit auf ein glückliches Zusammenkommen von Vater und Sohn hofft, die sich beide wie unsichere Boote umschiffen, bleibt Riordan realistisch und arbeitet bis zum Schluss konstant mit dem Zwiespalt seiner Figuren. Auch an anderen Fronten scheinen die familiären Beziehungen eine wichtige Rolle für den Autor zu spielen. Sie bereichern diesen phantastischen Roman um allzu real existierende Probleme, die sowohl junge und ältere Leser zu verschiedenen Zeitpunkten ihres Lebens kennengelernt haben dürften. Darum bleibt es häufig auch nur bei Anspielungen und Anzeichen, die man erst mit einem gewissen Erfahrungswert sofort zu erkennen weiß. Leicht genug für junge Leser zu verstehen und durchs Hintertürchen auch derb genug, um ältere Leser unterhalten zu können. Dieses Spiel mit Andeutung und gezielt ausgelassener Information funktioniert in The Lightning Thief sehr gut und macht den Roman für alle Altersgruppen zu einem interessanten Lesevergnügen.

Atmosphärisch reiht sich der Roman in eine urbane Fantasywelt ein, in der Technologie und Magie unerkannt miteinander verschmolzen nebeneinander existieren. So gelangt man über bekannte Wahrzeichen wie das Empire State Building in den Olymp oder landet beim Betreten eines Casinos in einem modernen und trügerischen Nirvana. Diese Verschmelzung ist in The Lightning Thief leider nur teilweise gelungen, stellt allerdings auch nicht das Hauptaugenmerk des Romans dar. Denn das liegt eher bei Charakterbildung und Handlung. Etwas dürftig gestaltet sich dementsprechend auch die Erklärung dazu, weshalb wir die Götter der griechischen Mythologie neuerdings in den USA finden. Es wäre fast besser gewesen, diese Erklärung und den damit verbundenen Patriotismus auszusparen, stellt aber nur einen kleinen Fleck auf der sonst sauberen Weste dieses Auftaktromans dar.

The Lightning Thief präsentiert sich also als ein gelungenes Buch für jeden, der es gerne zynisch-sarkastisch-humorvoll mag und ein Herz für die alten Götter Griechenlands hat. Große Sprünge und grandiose neue Ideen darf man von dem Roman nicht erwarten, als solider Vertreter klassischer Fantasy-Erzählungen ist The Lightning Thief aber durchaus zu empfehlen.

Verfilmung:
Filmplakat The Lightning ThiefPercy Jackson & The Lightning Thief (Percy Jackson – Diebe im Olymp) wurde 2010 u.a. mit Logan Lerman in der Hauptrolle des Percy Jackson, Sean Bean als Zeus, Uma Thurman als Medusa und Pierce Brosnan als Chiron unter selbigem Titel verfilmt. Trotz der starken Besetzung bietet der Film aber nicht mehr als leichte Kost für zwischendurch. Die Handlung weicht außerdem in einigen Punkten von der des Buchs ab und erzählt eine teilweise andere Geschichte.

Nach Windwirs Fall herrscht Misstrauen unter den Völkern der Benannten Lande, und Rudolfo, der Zigeunerkönig, hat sich in seine Waldresidenz zurückgezogen und leitet den Neuaufbau der Bibliothek. Als unerkannte Attentäter zur Feier seines neugeborenen Sohnes ein Blutbad unter den Gästen anrichten, kommt er unbeschadet davon, und der Samen der Zwietracht ist gesät: hat der Zigeunerkönig etwas mit den Anschlägen zu tun? Doch während sich Rudolfo auf die Suche nach Wahrheit begibt, antwortet eine unbekannte Macht auf die Zerstrittenheit der Völker, und ihre Antwort ist: Krieg.

– Der Sonnenaufgang über den Mahlenden Ödlanden war von schrecklicher Herrlichkeit. –
Vorspiel

Es ist kein Zeichen überbordender Kreativität, einer Rezension den Titel des zu rezensierenden Romans zu verleihen. Doch da „Lobgesang auf Lobgesang“ noch unbeholfener tönt, möchte ich es bei der Einfachnennung belassen. Was also ist so gut am zweiten Band des Zyklus Die Legende von Isaak von Ken Scholes, dass ich hier einen weiteren Lobgesang anstimmen möchte?

Die Geschichte beginnt einige Monate nach der Verheerung Windwirs. Die Protagonisten sind über die Benannten Lande verstreut und versuchen noch immer, die Rätsel um die Zerstörung der einst so prächtigen Stadt zu lösen und die daraus resultierenden diplomatischen Verwicklungen zu entwirren. Besonders durch die Augen von Neb, Rudolfo und Vlad Li Tam entdeckt der Leser immer mehr von der Welt; die Mahlenden Ödlande werden durchlaufen und das Smaragdmeer durchschifft. Für jedes vermeintlich gelöste Rätsel werden jedoch zehn neue Frage aufgeworfen, und bald erschüttert Verrat und Krieg die Bewohner der Benannten Lande und die Leser des Romans.

Tatsächlich kann Lobgesang (Canticle) als ein Roman über Verrat, über Krieg, und über Verantwortung gelesen werden – und als Roman über Familie. Die zwischenmenschliche, familiäre Beziehung ist ein zentraler Handlungsmotor: während Winters jegliche Bezugsperson zu verlieren scheint, muss Vlad Li Tam erkennen, dass Blut zwar dicker als Wasser ist, aber dennoch vergossen werden kann.
Unkonventionell finde ich die Entscheidung, einen Protagonisten im inneren Konflikt zwischen Vaterschaft und Pflichtbewusstsein zu skizzieren. Äußerst feinfühlig schildert Scholes die wachsende emotionale Bindung eines Vaters an sein Neugeborenes, ohne in blinden Kitsch abzudriften. Die Sorge um das „Greater Good“ wird mit einem Male zum Kampf um ein einzelnes Leben. Doch bevor der actiongewohnte Fantasyfan aufstöhnt, sei ihm versichert: noch immer ist Rudolfo Staatsmann, und wer glaubte, die Intrigen der Familie Li Tam mit dem Ende des ersten Bandes durchschaut zu haben, wird enttäuscht werden. Noch feiner wird das Netz aus Täuschung, noch tiefgreifender der Verrat und deutlich blutiger die Auseinandersetzungen. Lobgesang ist kein schmachtendes Familiendrama, sondern ein spannender Fantasyroman und Scholes ein Autor, der sich der Herausforderung einer komplexen Charakterentwicklung annimmt.
Das Motiv des innerlichen Zwiespalts, des inneren Kampfes, zieht sich wie ein roter Faden durch die Charakterzeichnung. Winters ist nicht nur ein verliebtes junges Mädchen auf der Suche nach menschlicher Geborgenheit, sondern auch Kriegerin und Herrscherin eines Volkes, welches ungeahnt eine ganz andere Rolle spielt, als sie es sich hatte vorstellen können. Jin Li Tam hingegen hat genug von der häuslichen Wärme und stürzt sich, den eigenen Sohn im Arm haltend, in die Schlacht. Nur Petronus steuert ohne Zaudern auf ein Ziel zu; doch die gefürchtete und gleichzeitig herbeigesehnte Abrechnung ereilt ihn anders, als geplant.

Besonders diese Ambivalenz der Figuren und die sorgfältig und glaubhaft gezeichneten inneren Konflikte der Charaktere fesseln den Leser an die Seiten; ihre Schicksale vermögen zu Tränen der Freude oder der Trauer zu rühren. Jahrelanger Fantasygenuss härtet zwar ab, die Geschichte um die Familie Li Tam jedoch schockiert und führt den Leser die Abgründe menschlichen Handelns vor Augen.
Doch nicht nur menschliches Handeln bestimmt den Fortgang der Geschichte: immer mehr wird deutlich, dass die dampfbetriebenen Mechoservitoren nicht die passiven, programmausführenden Wissenscontainer sind, für die man sie gern halten würde. Und während alle dem Wissen der verlorenen Stadt Windwir auf der Spur sind, erwächst im karmesinroten Schatten des Sumpfvolkes eine uralte Bedrohung zu grausamer Stärke, und die Bundraben rufen es von den Dächern: Blutmagie …

Gewohnt sprachlich brillant und äußerst stimmig übersetzt erzählt Scholes seine facettenreiche Geschichte, die man als Leser atemlos, Seite um Seite verschlingt. Handlungsfäden treiben auseinander, überkreuzen sich und finden in grausamer Vorahnung wieder zusammen. Nie verliert der Autor einen Faden, und am Ende erkennt der Leser ein Muster, welches auf das Äußerste gespannt auf den dritten Band warten lässt. Und so langsam dämmert es dem Leser, dass Scholes etwas ganz und gar außergewöhnliches geschrieben hat: einen Lobgesang in Moll.

Durch einen atomaren Angriff wurde die Menschheit beinahe vollständig vernichtet. Die Überlebenden rotten sich zusammen und veranstalten eine blutige Hetzjagd auf die verbleibenden Wissenschaftler, in denen sie die Schuldigen für die atomare Katastrophe sehen.
Viele Jahrhunderte später findet ein junger Novize des Leibowitz-Ordens – benannt nach Isaac Leibowitz, einem längst verstorbenen Elektroingenieur – in einem ehemaligen Schutzbunker Aufzeichnungen und Blaupausen des verehrten Mannes. Die Entschlüsselung der wissenschaftlichen Schriften beginnt, doch nicht nur die Kirche hat an dem mühselig und langsam wiedererlangten Wissen Interesse.

Wir haben eure verdammten blutigen Beile und eure Hiroshimas.
– Wir marschieren gegen die Hölle, wir –
Atrophie, Entropie und Proteus vulgaris,
erzählen Zoten über ein Bauernmädchen namens Eva
und einen Handlungsreisenden namens Luzifer.
Wir begraben eure Toten und ihre Reputation.
Wir begraben euch. Wir sind die Jahrhunderte. –
Fiat voluntas tua, S. 312

Wir schreiben das 26. Jahrhundert, und der Novize Bruder Francis erkundet mit kindlich-naivem Staunen eine nach dem Atomschlag wüste Welt. Der Akt der Zerstörung selbst liegt im Dunklen und gleicht eher einem vagen Mystizismus mit seinen Teufels- und Spukgestalten. Erlebbar sind nur die Folgen: die Verwüstung der Welt und die systematische Ausradierung des Intellekts. Was übrig blieb – Blaupausen, Schaltpläne, Einkaufszettel –, bewahren die Mönche des Leibowitz-Ordens in stiller Ehrfurcht auf, und der Leser verfolgt mit einem Lächeln die Anbetung dessen, was im 21. Jahrhundert Gegenstand profaner Normalität ist. Doch das 26. Jahrhundert ist ein Zeitalter der Leere, die auch in der Semantik um sich greift: der Niederschlag wird als Gestalt des Teufels gefürchtet, die in Gruben und dunklen Winkeln lauert, und ein Schaltkreis als geheimnisvoller Schöpfungsplan bewahrt.

Das Staunen Bruder Francis’ wird zum Inbegriff der Unschuld, und löblich-unschuldig scheint auch die Sammlung und Bewahrung der Wissensfragmente. Doch was als Abenteuer, als Renaissance beginnt, was einem Neuanfang gleicht, entpuppt sich bald als zwingende Fortführung des menschlich-zivilisatorischen Kreislaufes, denn das Licht der Aufklärung und der Vernunft scheint nie alle Winkel des menschlichen Hirn- und Seelenkastens zu erhellen – und so muss sich die Heiligkeit des Wissens einmal mehr messen mit der Zerstörungskraft des Menschen.

Wir schreiben das Jahr 3174, die Jahre der Unschuld hat es nie gegeben. In den Mauern des Klosters des Heiligen Leibowitz widmet man sich weiterhin dem Studium des Halbwissens, und Miller jr. feilt weiterhin an seinen Geschichten-in-den-Geschichten, an den Figuren, die wie Wunder erscheinen und deren Entschlüsslung die hohe Kunstfertigkeit des Autors im Andeutungen und Ahnungen Säen betont. Grundwissen in der Bibelkunde und aufgefrischtes Kirchenlatein sind dabei von hohem Nutzen; denn erst mit der Erkenntnis um die dichte Intertextualität des Romans und die mannigfaltigen Deutungsebenen verkehrt sich das Gefühl der Ratlosigkeit in die Erkenntnis, einen Roman von inhaltlichem wie handwerklichem Genie zu lesen.

Die wichtigste Kraft des Romans ist jedoch sein Witz. Situationskomik, altlateinische Kalauer und zutiefst bissige Dialoge: sie treffen zusammen im anzüglich-satirischen Lächeln der St.-Leibowitz-Statue, welche die Zeiten und Äbte im Klosterkeller überdauert und erst von Abt Zerchi, dem letzten in einer langen Reihe, in den Zeiten allgegenwärtiger Angst vor der erneuten Zerstörung wieder an ihrem angestammten Platz als Heiligenstatue aufgestellt wird. Das hölzerne Antlitz lächelt im tiefen Wissen um einen Witz, den nur die Statue selbst zu verstehen scheint. Doch es schadet nie, sich von einem Lachen anstecken zu lassen.

Tatsächlich ist es nur Millers Humor, der die Hoffnung erweckt, dass der durch den Menschen in einen Kreislauf der Zerstörung transformierte Kreislauf des Lebens einer aufwärts gerichteten Spirale gleicht. Seine anderen zentralen Themen lassen wenig Mut zur Hoffnung zu. Im zweiten Teil des Buches – Fiat Lux, „Es werde Licht“ – treibt ein im Kellergewölbe von fünf Novizen angetriebener Dynamo einen tiefen Keil zwischen die weltliche und geistliche Wissenskultur. Das Gerät ist eine außerordentliche technische Errungenschaft, erbaut von einem ahnungslosen, aber experimentierfreudigen Klosterbruder und bringt sprichwörtliches und messbares Licht ins Dunkle. In diesem Licht jedoch nehmen Parteien Gestalt an, die vorher nur als grobe Schemen erahnbar waren: Kirche gegen Staat, Wissenschaft gegen Glaube, … – die Liste der Zerwürfnisse ist, bei Lichte betrachtet, endlos. Mit dieser biblischen Erhellung des klösterlichen Kellergewölbes durch einen Dynamo ahnt der Leser, dass die zivilisatorische Dunkelheit nur kurz erhellt wurde, um sich dann wieder in Grabesschwärze zu wandeln.

Miller jr. portraitiert mit sprachlicher und gedanklicher Präzision das wohl größte Verbrechen der Menschheit: die Erhebung der Amoral zur zivilisatorischen Unabwendbarkeit. In seinem Roman sind es nicht nur die Tyrannen und Diktatoren, die sich der Bürde der Verantwortung entledigen, sondern es sind Menschen, die sich als ‘Simpel’ bezeichnen, bevor sie diejenigen steinigen, die der Menschheit das brachten, was wir Zivilisation nennen. Die Negierung der Verantwortung ist ein zentrales Thema in Lobgesang auf Leibowitz (A Canticle for Leibowitz ): wer keine Fehler sieht, sondern an derer statt das Konzept des Unvermeidbaren erfindet, kann nichts lernen, kann dem endlosen Kreislauf nicht entfliehen.
Doch wird nicht das vermeintlich Unausweichliche, wenn vom Menschen begriffen, zum Abwendbaren? Denn, und auch dies wird in Millers Roman deutlich: es existiert kein naturgegebener Kreislauf der Zerstörung, der eine Wiedergeburt ad absurdum führt, sondern ausschließlich ein vom Menschen erdachter. An des Kreislaufs Anfang steht eine Idee, am Ende die Bombe, und alles, was danach kommt, ist nur ein müdes Spiegelbild dieser einfachen Gleichung: homo homini lupus.

Wir schreiben das Jahr 3781. Noch immer sind es die Mitglieder der Abtei des heiligen Leibowitz’, die sich der Empfindung widmen, die nicht nur im Roman mitleidig belächelt wird: der Hoffnung. Und Zuversicht benötigen sie, denn sie sind es, die mit ihrer Sammlung und Bewahrung des noch verfügbaren Wissens den Weg für den Fortschritt ebnen. Es scheint ihnen unmöglich, dass der Mensch das wiederholt, was ihn einst beinah vom Antlitz seines Planeten tilgte. Doch Miller jr. ist kein Moralapostel; welche Moral sollte es auch geben, nachdem der Mensch sich einmal selbst vernichtete und, kaum, dass die Zivilisation ihr Krankenbett verlässt, zum zweiten Schlag ausholt? Der Autor entwirft vielmehr das Bild einer Zeit, in der „Gerechtigkeit“ eine zutiefst subjektive Größe ist, und stellt eine verstörende und wichtige Frage: was ist wichtiger – Menschheit oder Menschlichkeit?

Lobgesang auf Leibowitz ist ein Rätsel- und Meisterwerk, eine Vertextlichung des ewig Menschlichen, Ausdruck von Angst und Resignation. Der Leser wird keine erbaulichen, hoffnungsvollen Botschaften, eingebettet in tröstlich-antikes Kirchenlatein finden, sondern einen schonungslosen Blick in eine Zukunft, die sich als denk-, und somit zerstörbar erweist. Mit seiner Hellsichtigkeit und seinem scharfsinnigen Humor wäre dieser Roman die schärfste Waffe in einem Kampf, der hoffentlich immer literarische Fiktion bleiben wird. Fiat Voluntas Tua.

Long Walks, Last Flights von Ken ScholesIn 17 Kurzgeschichten nimmt Ken Scholes seine Leser mit auf Reisen durch die Zeit, in qualmende Ruinen, auf abgelegene Planeten, nach Paris, in eine amerikanische Kleinstadt, in die japanische Mythologie, kreuz und quer durch Fantasy-Welten und sogar in die Hölle …

-Meriwether Lewis stared down at the time-worn scrap of paper, holding it in his hands as if it were a rare butterfly too easily crushed.-
The Man With The Great Despair Behind His Eyes

Ken Scholes, inzwischen mit dem Roman Lamentation als Autor von epischer, post-apokalyptischer Fantasy zu Ehren gekommen, hat seine Karriere mit dem Schreiben von Kurzgeschichten begonnen. Diese erste Sammlung bietet einen guten Überblick über die thematische Bandbreite und das weite Feld von Stilrichtungen dieses ausgesprochen ideenreichen Schriftstellers.
Dabei ziehen sich die Themen Religiosität, Schuld und Mythos quer durch alle Geschichten und werden mehrfach beleuchtet, und Leser, die gerne tüfteln, finden reichlich Anspielungen auf historische Persönlichkeiten, im kulturellen Gedächtnis verankerte Ereignisse und Musik, Literatur und Film.
Psychologisch fein herausgearbeitete Figuren verankern die Geschichten, die verschiedenste Spielarten der Phantastik abdecken, in der Realität. Da lernt man zum Beispiel den Obdachlosen Fearsome Jones kennen, der mit seiner obsessiven Sammelleidenschaft versucht, über sein eigenes Versagen hinwegzukommen und dabei etwas aus dem Müll fischt, das ihn und seine Kumpels in höchste Schwierigkeiten bringt (Fearsome Jones’ Discarded Love Collection).
Oder den einfach gestrickten Trucker Jeb, der mit Hilfe eines geheimnisvollen Mädchens in der Hölle Erlösung findet, als er erkennt, daß ein Großteil der Hölle im eigenen Kopf entsteht (So Sang the Girl Who Had No Name).
Und einen Hibakusha – einen traumatisierten Überlebenden der Atombombenabwürfe auf Japan – dessen Weg zurück zu sich selbst mit Gruppensitzungen in psychologischer Betreuung einerseits in die Realität Japans nach dem Zweiten Weltkrieg eintaucht, andererseits in die Welt der japanischen Mythologie und sogar der modernen Mythen über Japan in der westlichen Welt führt (Hibakusha Dreaming in the Shadowy Land of Death).

Ein zweiter Besuch in der Hölle aus So Sang the Girl Who Had No Name präsentiert mit Houdini und William Hope Hodgson zwei prominente Protagonisten, die eine Queste durch das symbolisch stark aufgeladene Leben nach dem Tod führt – mit den Mitteln und dem Selbstverständnis zweier Abenteurer des frühen 20. Jahrhunderts (Into the Blank Where Life is Hurled). Scholes’ Hölle mit ihren Monstern, surrealen Landschaften und einem dennoch routinehaften Alltag kann beispielhaft dafür stehen, wie geschickt der Autor mit seinen Settings und Ideen die Aufmerksamkeit des Lesers bindet und seine Neugier immer weiter füttert.
Der Zauberer und der Schriftsteller sind längst nicht die einzigen historischen Persönlichkeiten, die in den Kurzgeschichten auftreten: In The Man With The Great Despair Behind His Eyes begegnet man nicht nur der Expedition zur Pazifik-Küste von Lewis und Clark – die Erzählung ist gespickt mit Anspielungen quer durch die US-Geschichte, so daß man als Europäer mitunter Wikipedia bemühen muß.
Wiederum mit Gestalten des 20. Jahrhunderts spielt Summer in Paris, Light from the Sky, die problematischste Geschichte der Sammlung, in der man das Schicksal von Hemingway, Chaplin und Hitler in einer alternativen Realität verfolgt, in der alle drei aufgrund veränderter äußerer Umstände teils völlig anders verlaufende Lebenswege einschlagen. Scholes arbeitet hier mit dem stärksten vorstellbaren Kontrast zur Realität, um zu vermitteln, daß Monster und Heilige durch Einwirkungen von Außen geschaffen werden – das garantiert der Geschichte eine große Wirkung, verstärkt durch eine Rahmenhandlung, die aus fiktiven Zitaten besteht, wird aber nicht jedermanns Geschmack treffen.

Ein, wenn nicht sogar der Höhepunkt der Sammlung ist Edward Bear and the Very Long Walk, eine Art inverses Winnie-Pu-Abenteuer, in dem es den Spielzeugbären auf einen fremden Planeten verschlägt und der Leser Heldentum durch Stoffbären-Augen erfährt. Eine behutsame Überführung des Kinderbuch-Helden in die Science Fiction, die klassische Themen des Genres aufgreift und eine anrührende, epische Queste erzählt, dabei aber dem Stil der originalen Pu-Geschichten sehr treu bleibt und sie gleichzeitig auf den Kopf stellt. Eine Pflichtlektüre für alle, die noch ein Kuscheltier besitzen – aber Vorsicht: die Geschichte geht ans Herz.
Ebenfalls in ganz klassischen SF-Gefilden bewegt sich A Good Hair Day in Anarchy, das Western und Science Fiction auf eine Weise verbindet, die auch Fans der Serie Firefly zu schätzen wissen dürften. Lässiger Humor, ein schräges Setting in den gesetzlosen Außenbezirken des bewohnten Universums und eine clevere Geschichte machen das Ganovenstückchen um einen Frisör mit Vergangenheit zu einer runden und sehr vergnüglichen Lektüre.

Schon in Edward Bear and the Very Long Walk hat Scholes angedeutet, wie Mythen geboren werden, in The Santaman Cycle treibt er das Konzept auf die Spitze und beschreibt mit eleganter Hand eine nur lose im Bestehenden verankerte Schöpfungsgeschichte einer Welt nach der Apokalypse. Der epische Ton und die verwendeten Bilder funktionieren erstaunlich gut – nach den lediglich drei Seiten ist man fasziniert von den angerissenen Geschichten und der Welt, deren verschwommenes Bild sich vor dem inneren Auge zeigt.
In The Doom of Love in Small Spaces greift Scholes die Mythen aus dem Santaman Cycle noch einmal auf, erzählt aber eine relativ hermetische Geschichte, die kaum Episches anklingen läßt, sondern aufzeigt, daß die Bürokratie mit ziemlicher Sicherheit auch nach der Apokalypse erhalten bleibt.
In ähnlicher Weise funktioniert Of Metal Men and Scarlet Thread and Dancing with the Sunrise. Die Geschichte skizziert auf wenig Raum und mit großartigen Bildern eine Welt, die Scholes inzwischen mit dem auf diesem Ausschnitt basierenden Zyklus The Psalms of Isaak weiter erkundet hat. Das Potential der Figuren und der Welt ist auch in diesem kurzen Streiflicht nicht zu übersehen.

Einen nur leichten bzw. erst im Laufe der Geschichte anwachsenden phantastischen Einschlag hat sowohl das kurze, eindringliche Soon We Shall All Be Saunders, eine Parabel über die Entfremdung vom eigenen Selbst unter den Anforderungen der (Arbeits-)Welt, und That Old-Time Religion, das konsequent das Bild des zürnenden Gottes aus dem Alten Testament in eine amerikanische Kleinstadt transportiert.
Richtige Enttäuschungen wird man in Long Walks, Last Flights and Other Strange Journeys kaum finden, lediglich eine Handvoll Geschichten sind nicht ganz überzeugend durchkomponiert: So ist zwar Ken Scholes’ Ausflug ins Superhelden-Genre für einige Lacher gut und liefert zumindest eine überzeugende Grundidee, der Plot jedoch läßt zu wünschen übrig (Action Team-Ups Number Thirty-Seven), und auch One Small Step und East of Eden and Just a Bit South, beide mit Untertönen aus der Schöpfungsgeschichte, wirken nicht ganz überzeugend.
Abgeschlossen wird die Sammlung mit der Erzählung Last Flight of the Goddess, die vorab auch schon als Kurzroman erschienen war – einer Hommage an das Rollenspiel Dungeons & Dragons und die unsterbliche Liebe. In Rückblenden verfolgt man den Werdegang eines Abenteurer-Pärchens und gleichzeitig den Umgang mit dem Verlust eines Partners. Rollenspieler finden darin einiges zum Schmunzeln, und auch Fans klassischer Abenteuer-Fantasy dürften durch den warmen Erzählton, den augenzwinkernden Humor und die schrägen Ideen auf ihre Kosten kommen, allerdings kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, daß der Plot nicht über die ganze Länge trägt und eine Straffung hier und da nicht geschadet hätte.

Die Vielfalt der Geschichten, die Long Walks, Last Flights zu bieten hat, läßt letzten Endes keine Wünsche offen und zeigt eindrucksvoll, wie versiert Scholes in seinen Themen ist – sowohl als Chronist epischer, gewaltiger Ereignisse als auch als Beobachter des Zwischenmenschlichen und der seelischen Vorgänge. Besonders empfehlenswert ist darüber hinaus das Nachwort zur Entstehungsgeschichte der einzelnen Werke, das die Geschichten gut ergänzt und eine sprühende Kreativität durchblicken läßt, die ansteckend wirkt. Idee und Umsetzung sind fast durchgängig gleichermaßen gelungen, so daß man sich auf weitere Geschichten aus Scholes’ Feder nur freuen kann – er ist ein Meister dieses Fachs.

The Long War von Terry Prachtett und Stephen BaxterDas Amerika der Heimaterde will seine Macht über die Reihe der unendlichen Parallelwelten ausdehnen, und gleichzeitig verpassen Siedler, Forscher und Reisende den Erden ihren menschlichen Fussabdruck. Dann sorgt eine Meldung im Outernet für Schlagzeilen: Forscher misshandeln vor laufender Kamera einen Troll – und dies ist nur ein Beispiel für die sich ausbreitende Gewalt gegen die humanoiden Long-Earth-Bewohner. Zeit für Joshua und Sally, etwas zu unternehmen …

Sally Linsay arrived at Hell-Knows-Where fast and furious. But when had that ever been unusual?
– Kapitel 2

Der erste Teil der The Long Earth-Reihe von Terry Pratchett und Stephen Baxter weckte große Erwartungen: Unendliche Welten, neue Gesellschaftsformen, Entdeckungen unvorstellbarer Evolutionsscherze – es hätte alles so schön sein können. Mit The Long War jedoch beweisen die Autoren, dass auch The Long Ideas nicht ausreichen, um eine gute Geschichte zu erzählen.

Die Handlung setzt Jahre nach Joshuas und Lobsangs erster Reisen durch die Paralleluniversen ein. Joshua ist nun Familienvater, der sich häuslich in Reboot niedergelassen hat, während die amerikanische Regierung alles daran setzt, um die unendlichen, parallel-amerikanischen Weiten der Universen zu beherrschen – um sie zu besteuern. Was als Parodie brauchbar klingt, taugt wenig als Grundgedanke, aus dem sich ein bedrohlicher, interterrestrischer Krieg entwickeln soll. Voller Spannung erwartet der Leser die Wunderwaffe der Regierung, doch Raumpatrouillen in (immerhin verkabelten) Zeppelinen, die auf einer unendlichen Reihe von Welten unter Steuersündern für Ordnung sorgen sollen – dieser War, so ahnt man schon, wird nicht sehr Long. Zur Spannung kann auch die weltenumfassende Black Cooperation nichts beitragen, die mit ihrer Monopolstellung im Bereich der Technikentwicklung so normal-megalomanisch-bedrohlich wirkt wie jede Monopolfirma unserer Heimaterde.

Die Figuren haben der fehlenden Spannung nur wenig entgegenzusetzen. Helen, das Hausmütterchen, und Sally, die männerhassende Furie, sind ebenso innovativ wie der verbissene Cop in Rente oder der unsozialisierte Weltraumnerd. Doch während diese zumindest Altbewährtes bieten, streiten sich bei Joshua Blässe und Widersprüchlichkeit um die Oberhand bei der Charakterskizzierung, und selbst eindeutig Pratchetteske Figuren wie die fluchende Biker-Ordensschwester Agnes haben eher den Charakter eines müden Scherzes. Interessant bliebe höchstens Lobsang, der mit seiner Entwicklung zum Deus Ex Machina jedoch auch sein Potential an sich vorüberziehen sieht.

Bleibt der Konflikt zwischen Mensch und Troll, der zweifelsohne Stoff für ethisch höchst interessante Geschichten liefern könnte. Doch bei der Lösung des Konfliktes verhält es sich ähnlich wie mit der literarischen Bevölkerung der Langen Erden: die Ideen pendeln zwischen „absurd-bizarr“ und schlicht „unlogisch“, und was gibt es ermüdenderes als uninspirierte Skurrilität? Das Sujet der Erforschung, Erkundung und Eroberung neuer Welten wurde selten so longwierig (Verzeihung) beschrieben.

Zuletzt liest sich der Roman auch noch wie das wütende Atheismus-Plädoyer eines Sechsjährigen, dessen Pausenbrot von Franziskus-Josef geklaut wurde. Umweltverschmutzung, Gewalt, Entfremdung und das scheußliche Wetter auf Erde 25623: die (westlichen) Religionen sind Schuld. Gott sei Dank (Verzeihung die 2.) wartet der Roman mit der konturlosen Figur des ehemaligen Priester Nelsons auf, der mit Lobsang kurzzeitig auf dem Pfad der wissenschaftlichen Erleuchtung wandelt, um sich dann auf dem Rücken eines gigantischen Wirtstieres, das im Ozean einer weit entfernten Erde schwimmt und auch parasitär lebenden, aber hübschen, blumenbehangenen Inselschönheiten Platz bietet, befreiendem Sex hinzugeben, mit dem er die Fesseln seiner religiösen Indoktrinierung endlich zu sprengen vermag.

Hey, ich habe mir das nicht ausgedacht.

Es ist bedauerlich, dass sich die Autoren der spannenden Frage – wie entwickelt sich Religion in Zeiten der unbegrenzten „Schöpfung“ – über Plattitüden und Schuldzuweisungen nähern, die aus dem Nichts kommen und ebenso schnell wieder vergessen sind. Mit ihrem Roman lassen Baxter und Pratchett Gläubige in einem schlechten Licht dastehen – und Nichtgläubige im Licht eines kaputten Nebelscheinwerfers.

Schließlich macht das gleiche, was die Eroberer der unendlichen neuen Welten plagt, auch dem Roman zu schaffen: Ziellosigkeit, gepaart mit der subtilen Langeweile des „Ich fahre in die weite Ferne, aber irgendwie sieht es überall gleich aus“-Effekts, der einen auch leicht auf der Zugfahrt von Dresden nach Berlin befällt. The Long War gleicht somit eher einer Reise durch Brandenburg – wobei, dort gibt es immerhin Wölfe.

Cover von Lord of Snow and Shadows von Sarah AshIn dem barbarischen Land Azhkendir herrscht seit Urzeiten der Drakhaon über die Clans, ein Hybridwesen aus Mensch und dem letzten Drachen. Mit dem Tode des lezten Drakhaon geht der Geist des Drakhaoul auf seinen Sohn über, Gavril Andar, der jedoch im Exil lebt und nichts von seinem Erbe und seiner Bestimmung weiß. Die loyalen Diener des Drakhaoul entführen Gavril aus den zivilisierten Ländern, damit er seine Herrschaft antreten kann. Nur seine Mutter versucht, ihn zu befreien und geht dabei ein Bündnis mit dem ehrgeizigen Prinzen Eugene von Tielen ein, dessen Ziel es ist, das alte Imperium mit ihm an der Spitze widerherzustellen.

-“Drakhaoul,” he whispers, in awe and terror.-
Prologue

Sarah Ash gelingt es, mit ihrem Fantasyroman Lord of Snow and Shadows (Eis und Schatten) eine ganz eigene, an Russland beziehungsweise Osteuropa gemahnende Welt zu erschaffen, die schnell Konturen annimmt und sich vor dem inneren Auge ausbreitet. Sie konzentriert sich vor allem auf die Geschichte des jungen, sensiblen Malers Gavril, der durch den Drachengeist besessen wird und sich plötzlich als Herrscher einer barbarischen Nation wiederfindet. Ihr gelingt es sehr gut, die langsame Entwicklung des jungen Mannes zu zeigen, der sich mehr und mehr von der unmenschlichen Essenz vereinnahmen lässt und zu einem Wesen wird, das er selbst verabscheut. Vor allem in den Figuren und deren Beziehungen zueinander liegt die Stärke des Romans, denn ihre Motive und Handlungen sind nachvollziehbar und man gewinnt sie schnell lieb. Dabei schafft die Autorin eine düstere Atmosphäre, die gut zu dem Hintergrund passt.
Die Geschichte selbst ist nicht besonders neu, erfährt aber häufiger interessante Wendungen und weiß zu unterhalten, obwohl man manchmal voraussehen kann, was geschehen wird. Leider ist es offensichtlich, dass der Roman nur der Auftakt einer Serie ist, denn manche Handlungsstränge werden nicht verknüpft, was am Ende einen leicht schalen Nachgeschmack hinterlässt.

The Lord of the Rings Sketchbook von Alan LeeIn The Lord of the Rings Sketchbook zeigt Illustrator Alan Lee sein einmaliges zeichnerisches Talent und seine Idee von der Herr der Ringe-Trilogie, wie sie die Filmkulissen schlussendlich maßgeblich geprägt haben.

– But here there is still more – an insight into an artist’s mind and a close-up of his pen, pencil and brushes at work. Wonderful. –
Ian McKellen, Foreword, S.9

Dieser Hardcover Bildband kommt in einem für ein Artbook relativ kleinen Format daher. Was im ersten Moment wie ein Manko klingt, wurde jedoch gänzlich positiv umgesetzt. Zunächst einmal liegt The Lord of the Rings Sketchbook gerade wegen des kleineren Formats bequem in der Hand und lässt sich entsprechend angenehm durchblättern. Überwiegend ganzseitige Abbildungen in einer sehr ordentlichen Qualität zeigen jedes kleine Detail der Skizzen und beweisen, dass die geringere Größe des Buchs keine Nachteile mit sich bringt. Aufgeteilt in übersichtliche Kapitel, fällt es auch thematisch leicht, sich in diesem Buch zurechtzufinden, Stellen schnell aufzuspüren und gezielt zu stöbern. Für letzteres sollte man etwas mehr Zeit einplanen, denn es gibt viel zu entdecken!

Tom Bombadil von Alan Lee
© Alan Lee - Scan: The Lord of the Rings Sketchbook

The Lord of the Rings Sketchbook ist, wie der Titel schon verrät, gefüllt mit Bleistift-Skizzen. Es grenzt jedoch beinahe schon an Hohn, diese Arbeiten eines Meisters seines Fachs lediglich als Skizzen zu bezeichnen, denn ihre Ausarbeitung, Detailgenauigkeit und Ideenvielfalt sind an vorbildlichem Können kaum zu überbieten und stellen viel mehr als bloß ein Entwurfsstadium dar. Es haben auch einige der fertig kolorierten Bilder ihren Weg hinein gefunden, sie wirken neben den lebendigen Skizzen geradezu zweitklassig und vernachlässigbar.

Inhaltlich befasst sich das vorliegende Werk – wer hätte es gedacht? – mit den Entwurfsarbeiten zum Filmkonzept der Herr der Ringe Trilogie. Es steuert dabei jedoch noch einige neue Zeichnungen bei, welche erstmalig in The Lord of the Rings Sketchbook gezeigt und teilweise sogar speziell für dieses Buch angefertigt wurden. Dazu gehören u.a. Portrait-Illustrationen von Ian McKellen als Gandalf oder Cate Blanchett als Galadriel. Besonders sympathisch wirkt das Buch aber durch einen gewissermaßen unzensierten Einblick in Alan Lees Arbeitsweise, seine Zeichenübungen und seine schrullig liebenswerte Methode, To-Do-Listen in Form winziger Thumbnails zu führen. Außerdem reflektiert der Künstler den Entstehungsprozess seiner Werke bis hin zum fertigen Ergebnis. In seinen Kommentaren zu den einzelnen Skizzen spricht Alan Lee nicht nur von den obligatorischen Filmanekdoten, sondern auch über seine Inspirationsquellen. Der Künstler scheut dabei nicht davor zurück, selbstkritisch über die Bilder zu urteilen und eigene Fehler, Vertuschungsversuche und Schwächen aufzuzeigen. Der Betrachter freilich wird es auch mit einem noch so kritischen Blick unfassbar finden, wie Alan Lee an dieser Stelle von Fehlern sprechen kann, da sich die Arbeiten auf einem ausgesprochen hohen Niveau bewegen. Vermutlich sind nur echte Meister der Materie in der Lage, hier noch über Mängel diskutieren zu wollen und vor allem zu können. Es zeigt jedenfalls, mit welch hohen Ansprüchen Alan Lee an seine Illustrationen herangeht und wie selten heutige Künstler die klassische Illustration noch (in Perfektion) beherrschen.

Dieses Buch ist nicht nur ein Muss für den bekennenden Herr der Ringe-Fan, sondern auch für jeden (angehenden) Illustrator. Gerade letzterer wird die hilfreichen Tipps des Meisters begrüßen und zu schätzen wissen, denn es dürfte nicht zu viel versprochen sein, wenn einmal gesagt wird, dass man sich auch als talentierter Zeichner getrost noch eine Scheibe von Alan Lee abschneiden kann. Dieses Buch zeigt, dass Lees Skizzen mit ihrer Perfektion gleichermaßen zu begeistern und einzuschüchtern vermögen.

Die sogenannte „Erste Welt“ ist zugrunde gegangen und es folgte eine Art Dunkles Zeitalter. Die Kriege und das Chaos haben ihre verhängnisvollen Spuren nicht nur auf der Welt hinterlassen, sondern auch in und an den Menschen, die sie bevölkerten. Etwas ging verloren; der Unwirtlichkeit der „Welt“ – wie sie nun im Gegensatz zur „Ersten Welt“ genannt wird – begegnen die meisten nur noch mit fatalistischer Resignation, weshalb sich die verschiedenen Staatsgebilde im Niedergang befinden. Um dem entgegenzuwirken, schmiedet General Toriman aus der Karolinischen Republik einen Plan: Zur Neu-Entfachung des Unternehmungsgeists der Menschheit soll aus den Relikten der Ersten Welt ein Raumschiff gebaut werden, mit dem man zu einem neuen Planeten fliegen könnte …

-»All right, we don’t have to go traipsing off into the Barrens or some other objectionable place looking for enchanted vials with this thing in them. All we have to do is awaken it in the citizenry.«-
Seite 32

Lords of the Starship (Das Sternenschiff) war der Debutroman des damals (1967) 21-jährigen Mark Geston und ist zugleich der erste Band der nur lose miteinander verknüpften Trilogie The Books of the Wars. Diese ist derzeit in einem gleichnamigen Sammelband von Baen (ISBN: 978-1416591528) in englischer Sprache verfügbar, auf Deutsch wurde 1988 der Sammelband Das Schiff veröffentlicht, der allerdings anstelle des dritten Bandes The Siege of Wonder den nicht zur Reihe gehörenden Roman The Day Star enthält.

Die angenehme Überraschung an diesem Roman ist, dass hier eine im Niedergang befindliche Welt nicht durch irgendein verschollenes Objekt gerettet werden kann, sondern es an den Menschen selbst liegt, was sie aus ihrem Schicksal machen. Anstatt einer Queste werden in diesem Band die wahren Hintergründe und die Entwicklung des Plans über 150 Jahre hinweg erzählt. Damit wird aber auch dargelegt, wie die Gesellschaft und die politische Landschaft der Welt mit der Verwirklichung dieses Plans in Wechselwirkung stehen. Gerade diese Aspekte werden dem Leser/der Leserin aber teilweise nur schematisch präsentiert. Es wird trotzdem deutlich, wie die Fokussierung einer Gesellschaft auf ein Ziel diese verändert und dass sich diese Veränderung wiederum auf das Erreichen des Ziels auswirken kann.

Der Reiz des Romans liegt in seinem Setting, in dem sich verschiedene Elemente vermischen. Einerseits gibt es neuzeitlich anmutende bürokratische Strukturen, Wissenschaften und Staatsgebilde, daneben aber ebenso mittelalterliche wie moderne Waffen und die zahlreichen Relikte aus der Ersten Welt, die modern bis zukünftig sind. Die Versuche, diese Errungenschaften nachzubauen, enden in kruden und zumeist dysfunktionalen Konstruktionen, die einen Hauch von Mad Max in die Welt bringen.

Geston gelingt es, dieses Setting in einer ebenso lebendigen wie anschaulichen – teilweise etwas ausufernden – Sprache einzufangen und atmosphärische Szenen zu schaffen, dabei reicht die Bandbreite von der Faszination und Ehrfurcht angesichts der Anlagen der Ersten Welt über brutale (und bizarre) Kämpfe mit Mutanten bis hin zum majestätischen Raumschiff. Geston schafft Szenen, die einem im Gedächtnis bleiben.

Dieses Talent ist auch wichtig, denn es gibt kein festes Set von Protagonisten, zu denen man eine Beziehung aufbauen könnte, vielmehr dienen unterschiedlichste Personen nur dazu, um dem Leser/der Leserin das Verfolgen wichtiger Entscheidungen, Ereignisse oder Veränderungen in der Ausführung des Plans und schließlich in der Welt zu ermöglichen. Schlaglichtartig blitzen diese Personen also auf und verschwinden nach ein bis zwei Kapiteln wieder. Ausgefeilte Figuren kann man daher nicht erwarten, trotzdem gelingt es Geston gut, auch hier Figuren greifbar zu skizzieren, schließlich wird der Anfang der Kapitel auf die Charakterzeichnung verwandt. Hierin liegt aber auch eine Schwäche des Romans – die man auf die historischen Umstände und/oder das Alter des Autors zurückführen kann – denn die einzelnen Point-of-Views stammen allesamt von Männern, Frauen kommen quasi gar nicht vor und wenn, dann in der Rolle der Ehefrau oder Geliebten. Ebenso könnte man dem Roman eine gewisse Eliteaffinität unterstellen – dort finden sich zumeist die lobenswerten Ausnahmen von der allgemeinen Resignation und Antriebslosigkeit. Dieser Eindruck wird allerdings in manchen Szenen gebrochen, so wie Geston überhaupt einige einander widersprechende Weltbilder auftreten lässt, von Technokratie über pathetischen Essentialismus bis hin zu kultischem Erlösungsglauben.

Gegen Ende werden die Fantasyelemente dezent stärker betont, die bis dahin eher im Hintergrund standen, trotzdem bleibt Lords of the Starship ein SF-Roman.

Die Löwen von Bagdad von Brian K. Vaughan und Niko HeinrichonIm Irakkrieg im Jahr 2003 treffen Bomben auch den Zoo von Bagdad. Die Tiere, von den geflohenen Wärtern zurückgelassen, brechen aus ihren Gehegen aus, unter ihnen auch ein kleines Löwenrudel. Fortan streifen die Löwen durch die vom Krieg zerstörte Stadt, und die Freiheit, von der sie früher manchmal geträumt haben, ist nicht nur ein Segen.

»Es gibt ein altes Sprichwort, Zill. Freiheit kann einem nicht geschenkt werden, man muss sie verdienen.«
»Also, es gibt noch ein altes Sprichwort. Einem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul … man frisst ihn.«

Zu Die Löwen von Bagdad liegt eine Rezension der Originalausgabe bei Bibliotheka Phantastika vor, dazu bitte hier entlang.

The Long Earth von Terry PratchettEs passiert in einer Zeit, in der sich „Raum“ zu den rasant schwindenden Ressourcen gesellt: ein simpler Schaltkreis mit Kippschalter und Kartoffelbatterie eröffnet der Menschheit unerforschte, unendliche Weiten. Nach Westen und nach Osten hin erstrecken sich Paralleluniversen, die Dank des „Steppers“ jetzt nur einen Schritt entfernt sind, und die Menschheit macht sich auf, die unberührten Erden zu erforschen, zu bereisen, in Besitz zu nehmen. Doch nach dem ersten Raumtaumel formieren sich nicht nur Siedlertrecks, sondern auch Gruppen mit wirtschaftlichen, kriminellen, oder gänzlich undurchsichtigen Absichten …

 “This wasn’t Joshua’s world. None of it was his world. In fact, when you got right down to it, he didn’t have a world; he had all of them.
All of the Long Earth.”
– Chapter 2

Es ist ein Menschheitstraum, so alt wie die Reihenhaussiedlung und die Tokioer U-Bahn selbst: der Traum von Weite, von Einsamkeit, von einem Vorgarten bis zum Horizont. Die Fantasy- bzw. SF-Giganten Terry Pratchett und Stephen Baxter haben mit ihrem gemeinsamen Roman The Long Earth eine beeindruckende Version dieses Traumes vorgelegt.

Allen Parallelerden gemeinsam ist die Unberührtheit durch den Evolutionsjux Mensch, der sich nur auf der Heimaterde zu tummeln scheint. Alle anderen Erden sind ihre eigenen evolutionären Wege gegangen, und so trifft man zwar mitunter auf Lavakontinente, Diamantberge oder Ozeanwelten, aber nie auf einen Homo Sapiens, der seinerseits seinen Heimatplaneten an die Grenze des „Schutt und Asche“ brachte. Nahe liegt der Paradiesvergleich, folgt man Baxter und Pratchett in diese vor Leben vibrierenden Universen – Flora und Fauna gleichen einem Gabentisch, einer helfenden Hand, dem sinkenden Menschenschiff hingestreckt. Kein Wunder, dass sich auch bekuttete Gestalten auf die Suche nach dem Göttlichen begeben, oder bärtige Gesellen nach Klondike-2: in The Long Earth scheint jeder das zu finden, was er sucht.
Landflucht wird zur Raumflucht, und völlige Souveränität und Selbstbestimmtheit scheinen nur eine Kartoffelladung entfernt zu sein. Während also die Regierungen der Welt versuchen, Steuersysteme in Parallelwelten zu etablieren, während auf unserer Heimaterde die Wirtschaft zusammenbricht, tun sich Arzt und Schmied, Soziologieprofessor und Zimmermann zusammen, um auf der Erde 101.754 eine Kolonie zu gründen. Feuerfachen und Schlingen legen wird zur neuen-alten ars vivendi, und rotgolden versinkt die Sonne hinter den Weizenfeldern.

The Long Earth ist jedoch mehr als Eskapismuskitsch und Lagerfeuerromantik, denn auch wenn sich hundert neue Welten auftun: Verlierer gibt es überall. Vielleicht ist es ein evolutionärer Seitenhieb auf die zerstörerische Kraft des expandierenden Gehirns, doch nicht alle Erdbürger sind befähigt, den kleinen, interdimensionalen Schritt zu tun, der ewige Freiheit verheißt. 5 % der Bevölkerung, die sogenannten „Phobics“, können nicht aus eigener Kraft den Schritt in die anderen Welten tun; und ein Paradies, das einigen den Zugang verwehrt, wird sich vor Schlangen bald nicht mehr retten können.

Die zentrale Frage des Romans heißt also: wie weit würdest du gehen? Durch episodenhaft erzählte Einzelschicksale entzaubern Baxter und Pratchett behutsam die Paradiesgedanken, ohne sie dem Höllenschlund anheimfallen zu lassen. Eine Familie lebt glücklich in der 101754. Idylle – hat jedoch ihr Phobic-Kind auf Erde-1 zurückgelassen. Ein Entrepreneur versucht verzweifelt, die neuen Welten mit barer Münze zu erobern. Kann es Scheitern in einer Zeit der unendlichen Neuanfänge noch geben? Lassen sich Trauer, Krankheit und Verlust besser ertragen, wenn die Sicht unverbaut ist?

Für die Protagonisten des Romans ist die Frage – „Wie weit würdest du gehen“ – jedoch bedeutungslos: Joshua und Lobsang machen sich auf, um die Weite wissenschaftlich zu erkunden, um Grenzen (falls es diese gibt) immer weiter nach hinten zu verschieben. Die beiden Figuren geben ein äußerst pratchetteskes Paar ab: Joshua, ein junger Mann, der auch ohne Kartoffel ‘steppen’ kann, und Lobsang. Während die Paralleluniversen Baxters schöpferische Handschrift tragen, so atmet Lobsang Pratchett ein und aus. Lobsang: ehemaliger Fahrradreperateur aus Tibet, nun halb Geist, halb Maschine, der als erster Roboter das irdische Gericht davon überzeugt hat, menschlich zu sein. Lobsang ist nicht der heimliche Star des Romans: währen die Erden eine Bühne, er würde sie im Elvisanzug rocken. Sein Name ist Programm.
Während also die hyperintelligente, mit einem Humorchip versehene Mensch-Maschine den Leser freundlich bei der robotischen Hand nimmt, so ist die Charakterisierung Joshuas problematischer, und sein Problem kann als programmatisch für den Roman gesehen werden: die Figur scheint noch undefiniert, vage, nicht zu Ende gedacht. Und während Lobsang einen Geniestreich nach dem anderen aus dem Ärmel zaubert, um die Reise durch die unendlichen Welten zu bestehen, kommt man als Leser nicht umhin, zu bemerken, dass Pratchett und Baxter damit noch zurückhalten. Tatsächlich müssen ihre Ärmel zum Bersten gefüllt sein: Andeutungen, lose Enden, Vermutungen und Theorien tummeln sich wie Fische im unverseuchten, plastikfreien Wasser. Der Genius liegt hier im Setting, noch nicht im Detail. Umso klärender wird deshalb vermutlich die Lektüre des Folgebandes The Long War – dessen Titel nicht gerade subtil darauf hinweist, dass der Mensch auch noch dann einen Krieg beginnen kann, wenn er über Raum und Zeit verstreut ist. Eigentlich wollen wir doch alle nur schadstofffreie Gurken. Oder?

Die Kollaboration der beiden literarischen Giganten lädt also vor allem zum Träumen ein, zum Erkunden, zum Erforschen, Erschrecken und Ernüchtern. Wirklich erstaunlich ist jedoch, dass man für die Reise in unendliche Welten sogar auf die Kartoffelbatterie verzichten kann – hier reichen auch zwei Buchdeckel.