Autor: Tolkien@J.R.R.

The Fall of Arthur von J.R.R. TolkienChristopher Tolkien präsentiert und analysiert ein episches Gedichtfragment seines Vaters und ordnet es nicht nur in dessen Schaffen, sondern auch in die Tradition der Artusepik allgemein ein: Auf einem Feldzug fern der Heimat erfahren König Artus und sein loyaler Ritter Gawain, dass Mordred verräterisch die Macht an sich gerissen und es zudem auf Königin Guinever abgesehen hat. Beim Aufbruch zur Rückeroberung wird deutlich, dass ein wichtiger Gefolgsmann fehlt: Lancelot, der zur Strafe für sein Verhältnis mit der Königin vom Hofe verbannt worden ist und insgeheim auf die Gelegenheit hofft, sich noch einmal zu beweisen  …

Arthur eastward in arms purposed
his war to wage on the wild marches,
over seas sailing to Saxon lands,
from the Roman realm ruin defending.
(The Fall of Arthur, I, 1-4)

Ein episches Gedicht von Tolkien über einen Sagenstoff? Das Konzept kommt einem bekannt vor, und in der Tat handelt es sich bei The Fall of Arthur um ein ganz ähnliches Projekt wie bei The Legend of Sigurd and Gudrún: Wieder stellt Christopher Tolkien ein nach mittelalterlichem Vorbild geschaffenes Werk seines Vaters vor und liefert eine ausführliche Einordnung der Dichtung in Tolkiens Schaffen. Doch gerade im Vergleich zu der älteren Veröffentlichung erweist sich The Fall of Arthur als ein wenig unbefriedigend. Da Tolkiens Fassung der Artussage unvollendet blieb, erlauben Text und Kommentarteil vor allem einen Blick auf das, was hätte sein können, bilden aber kein so rundes und in sich abgeschlossenes Ganzes, wie man sich wünschen könnte.
Der Primärtext selbst wirkt, wenn man eher mit der kontinentaleuropäischen Artustradition vertraut ist, trotz aller unbestreitbaren Qualitäten weniger harmonisch als die altnordisch inspirierten Gedichte, da Form und Inhalt aus zwei verschiedenen Welten zu stammen scheinen. Die archaischen Stabreime bilden einen ungewohnten Rahmen für den Stoff, der letztlich erst im Hochmittelalter seine klassische Prägung erfahren hat, obwohl es, wie Christopher Tolkien in seinen Erläuterungen auszuführen weiß, für die auf den ersten Blick so sonderbare Kombination durchaus englische Vorbilder im 14. Jahrhundert gibt. Vor diesem Hintergrund ist es interessant, inwieweit Tolkien sprachlich dennoch Anpassungen an die höfische Epoche vornimmt: So verwendet er hier etwa häufiger als sonst in seinen Werken gezielt Begriffe französischen Ursprungs (z.B. Almain für „Deutschland“ oder die Namensform Lancelot du Lake).
Anderes dagegen ist schon aus den Wälsungengedichten vertraut und durchaus tolkientypisch, so etwa der breite Raum, den poetische Landschafts-, Wetter- und Stimmungsbeschreibungen einnehmen, die eine dramatische Handlung untermalen. Auf diesem Gebiet erweist sich Tolkien wieder einmal als Magier der Sprache, dessen Meisterschaft bereits aus den im Analyseteil wiedergegebenen Prosanotizen spricht. Schon bloße Skizzen des Handlungsverlaufs enthalten dort lyrische Passagen wie Wind blew fair from the south and the sea lay green beneath the white cliffs oder The storm fell. The sun shone forth and his heart lifted. Dieser Formulierungskunst, die sich in einzelnen Versen zu einer noch größeren Sprachgewalt verdichtet, kann man sich schwer entziehen, und so lässt man sich gern in die Geschichte voll Krieg und Intrigen mitreißen, die aber leider unmittelbar nach der mit einer ersten Schlacht erkämpften Landung des Königs in Britannien abbricht. Die Figuren sind so zwar alle in Stellung gebracht – Mordred als erfolgreicher Usurpator, aber zugleich als verhinderter Liebhaber der geflohenen Königin, Artus und Gawain auf Rückeroberungszug, Lancelot fern vom Geschehen in der unhaltbaren Position, sowohl seine Geliebte als auch seinen Herrn und seine Ritterehre eingebüßt zu haben –, doch was sich aus dieser packenden Ausgangssituation hätte ergeben können, muss man aus Tolkiens Notizen oder eigener Kenntnis der zugrundeliegenden Sage ergänzen.
Auch das, was Christopher Tolkien interpretatorisch daraus macht, fällt diesmal notwendigerweise etwas mager aus. Die Betrachtungen zu den Quellen von Inhalt und Stil sind zwar kenntnisreich und umfassend, aber wahrscheinlich eher für Experten spannend als für eine breite Leserschaft. Dies gilt auch für den vom älteren Tolkien stammenden Text über altenglische Stabreimdichtung allgemein, der wieder einmal von seiner feinfühligen Auseinandersetzung mit Sprache zeugt: Von seinen Überlegungen dazu, dass bildliche Wendungen immer auch an eine bestimmte Lebenswelt geknüpft sind und in gewandelten Verhältnissen nur noch eine abgeschwächte Wirkung entfalten, könnte manch ein Autor profitieren.
Dagegen ist die minutiöse Analyse der Genese des Gedichts selbst für ein Fachpublikum nicht allzu ergiebig, besonders, da dem eigentlich faszinierendsten Ansatzpunkt – Tolkiens Abweichen von seinen Vorbildern hin zu einer eigenen Interpretation der Sage – weit weniger Raum gewidmet wird als der Auflistung aller möglichen frühen Versionen. Der für Fantasyfans eigentlich nicht unwichtige Vergleich zum Silmarillion schließlich krankt daran, dass Christopher Tolkien die hauptsächlichen Parallelen in den Teilen des Gedichts erblickt, die nie über ein Entwurfsstadium hinausgelangt sind (vor allem in Tolkiens Plan, Lancelot dem entrückten Artus in einen fernen Westen nachsegeln zu lassen), statt mehr Material aus den tatsächlich vollendeten Strophen heranzuziehen. Dabei hätten sich durchaus Verbindungen zum Silmarillion und zum Herrn der Ringe aufzeigen lassen, vor allem, was den fast exzessiven Gebrauch einer (hier stark christlich konnotierten) Lichtmetaphorik betrifft.
Aber vielleicht tut man ohnehin am besten daran, The Fall of Arthur nicht so sehr als Teil von Tolkiens Gesamtwerk wie als originelle und durchaus etwas gegen den Strich gebürstete Gestaltung des Artusstoffs zu lesen, die sogar den ein oder anderen historischen Insiderwitz enthält (so dürfte es z.B. kein Zufall sein, dass ein überzeugt heidnischer Friese, der Mordred eine Botschaft überbringt, ausgerechnet Radbod heißt). Gerade die Figurenzeichnung weicht teilweise von der mittelalterlichen Tradition ab, etwa wenn Gawain (den man gemeinhin als eher weltlich geprägten Ritter vor Augen hat) hier durchaus auch spirituell aufgeladen zur wahren Lichtgestalt gerät: Gold was Gawain, gold as sunlight. Auffällig ist aber vor allem Tolkiens Blick auf Königin Guinever, die er weder als vorbildliche höfische Dame, noch als tragische Liebende, noch als reuige Büßerin zeichnet. Guinever erscheint vielmehr als Frau voll andersweltlicher Schönheit und kalter Berechnung, die alles andere als passiv agiert und aus dem Ringen der verschiedensten Männer um sie und die Herrschaft das Beste zu machen gedenkt. Von ihr hätte man gern mehr gelesen, ebenso von dem gebrochenen Lancelot, der sich durch seine Liebe zu der ihrer im Grunde unwürdigen Königin ins soziale Abseits manövriert hat.
So hat man am Ende viel Verständnis dafür, dass Christopher Tolkien die Tatsache, dass sein Vater The Fall of Arthur nie vollendete, als one of the most grievous of his many abandonments charakterisiert. Was bleibt ist die leicht wehmütige Freude an einem hübschen Fragment.

Gute Drachen sind rar von J. R. R. TolkienDieser kleine Sammelband enthält drei Aufsätze bzw. verschriftlichte Vorträge von J. R. R. Tolkien: Ein heimliches Laster über die Leidenschaft für erfundene Sprachen, Über Märchen über Kunst und Unsitten des Märchenerzählens (oder, moderner formuliert, darüber, wie gute Fantasy auszusehen hat), und Beowulf: Die Ungeheuer und ihre Kritiker über Tolkiens Einwände gegen die zeitgemäßen Beowulf-Interpretationen und seine Darlegung der Stärken des Versepos.

-Manche von Ihnen haben vielleicht von einem Kongreß gehört, der vor etwas über einem Jahr in Oxford stattgefunden hat, einem Esperanto-Kongreß; oder vielleicht haben Sie auch nichts davon gehört.-
Ein heimliches Laster

Gute Drachen sind rar enthält drei der fünf Aufsätze aus der älteren (und längst nicht mehr lieferbaren) Sammlung Die Ungeheuer und ihre Kritiker. Zwei der drei Aufsätze, Über Märchen und Ein heimliches Laster, betreffen unmittelbar Aspekte von Tolkiens Werk und seiner Auffassung von Fantasy, während der Beowulf-Aufsatz aufzeigt, welche Motive Tolkien an der Heldendichtung geschätzt hat, und einen – falls man hier überhaupt groß trennen kann – direkteren Bezug zu seiner wissenschaftlichen Tätigkeit als zu seiner Schriftstellerei aufweist.
Konkrete bibliographische Angaben zu den Texten fehlen in dieser Ausgabe leider – um zu erfahren, wann die einzelnen Aufsätze erstmals erschienen sind, muss man den inhaltlich fehlerbehafteten Klappentext bemühen. Hinweise darauf, in welchem Zusammenhang und in welcher Form sie ursprünglich erschienen sind und wie sie evtl. überarbeitet wurden, sucht man fast immer vergeblich – das ist gerade für ein sekundärwissenschaftliches Werk etwas mager.

Auf das heimliche Laster, das Erfinden von Sprachen, geht Tolkien auf liebenswerte Weise peinlich berührt, aber dennoch mit spürbarem Missionarswillen und Begeisterung ein, in dem Wissen, dass die Interessengruppe für diese als eine Art elitäres Hobby präsentierte Beschäftigung eher klein ausfällt. Autobiographisches vermischt sich in diesem Aufsatz mit kulturhistorischen und gesellschaftlichen Details und Gedanken zum Spracherwerb des Individuums und der Menschheit. Dabei geht es logischerweise manchmal linguistisch ins Detail, bleibt allerdings größtenteils trotzdem auf einem allgemeinverständlichen Niveau.
Als höchste Kunst – und hier sind dann auch die Bezüge zu Tolkiens Werk und dessen Genese am deutlichsten – wird das Dichten in erfundenen Sprachen gepriesen (und mit Beispielen belegt). Spätestens hier zeigt sich, dass es bei Tolkiens Sprachen um weit mehr ging als um das Erfinden einiger ‘passender’ Wörter und eines weltschöpferischen Hintergrunds.
Mehrfach lässt sich die Querverbindung zur Mythologie über Verweise auf die Heldendichtung herstellen; die Dichtkunst wird einerseits als eigene Kunstform des sprachlichen Wohlklangs etabliert, andererseits als mythenbildende Gattung.

Über Märchen ist ein Rundumschlag zur Auseinandersetzung mit Märchenstoffen und dem Verfassen von Märchen, den man als eine frühe Streitschrift für die Fantasy lesen kann, die gleichzeitig dem entstehenden Genre eigene (laut Tolkien tradierte) Regeln zuweisen will. Es geht um nichts weniger als die Rehabilitierung der literarischen Form des Märchens für Erwachsene, da sie in Großbritannien (ebenso wie in Deutschland durch die Brüder Grimm) zur Kindergattung degradiert worden war.
Tolkien plädiert eloquent, gelehrt und mitunter auf charmante Weise für seine Faibles und sein Verständnis der Materie, wird dabei nie zu wissenschaftlich, gibt aber durchaus einen Überblick über die Märchenrezeption seiner Zeit. Sein prägender Einfluss auf die Fantasy-Literatur gibt seinen Thesen Recht – sein Zugang zum Märchen, zu den ‘elbischen Geschichten’, spricht bis heute Leser an und animiert Nachahmer.
In Über Märchen findet sich auch Tolkiens berühmtes Zitat, in dem er dem Eskapismus-Vorwurf an die Fantasy widerspricht, und außerdem eine erstaunlich modern wirkende Kritik an literarischen Extremen aufgrund einer ‘Originalitätssucht’ der Autoren. Neben seinen Vorbehalten gegenüber Volkskundlern, Märchenverächtern und infantilisierenden oder grellen Tendenzen beim Märchen spricht auch seine Ablehnung gegen die sich zu seiner Zeit rapide verändernde Umwelt und den Fortschritt aus dem Text, und nicht zuletzt seine oft auf christlicher Moral fußende Argumentation – in letzter Instanz steht bei ihm immer ein Schöpfergott und die Dinge sind zugedacht.

Der letzte Text der Sammlung, Die Ungeheuer und ihre Kritiker, ist am wenigsten zugänglich und eher für Kenner altenglischer Literatur oder LeserInnen geeignet, die etwas über Tolkiens Zugang dazu erfahren wollen (was natürlich Rückschlüsse auf sein literarisches Werk zulässt): Tolkien breitet sich über die zu seiner Zeit gängigen Lehrmeinungen zu Beowulf aus und lässt kaum ein gutes Haar daran, im Kern geht es wiederum um das Verschmähen des Phantastischen durch die Kritiker, was Tolkien für einen großen Fehler hält. Dabei dringt man ein Stück weit in Details und Textbeispiele vor, und nicht für alle altenglischen Zitate ist eine Übersetzung angegeben.

Gute Drachen sind rar ist auch heute noch als Streitschrift für das Phantastische zu lesen, als Schuss vor den Bug der Kritiker – aber vor allem als Streitschrift für Tolkiens Form der Phantastik, für seinen spezifischen Umgang mit Märchen und Mythen, mit Ungeheuern und Sprache, mit Elben und Sekundärschöpfung. Das mag heute antiquiert und teilweise überholt wirken – zumal sich inzwischen etliche verschiedene Traditionen der Phantastik etabliert haben – doch Grundlagen hat Tolkien mit seinem Zugang zweifellos geschaffen und einige Wahrheiten erkannt, die ihre Gültigkeit nicht verloren haben. Die eigenwilligeren Thesen, bei denen man als LeserIn nicht unbedingt mitgehen mag, taugen immerhin zum Verständnis des Phänomens Tolkien.

The Legend of Sigurd and Gudrún von J.R.R. TolkienChristopher Tolkien präsentiert die wissenschaftliche und literarische Auseinandersetzung seines Vaters mit der Wälsungensage (der altnordischen Fassung der Nibelungensage), die J.R.R. Tolkien unter anderem zu zwei im Rahmen dieses Buches veröffentlichten epischen Gedichten nach mittelalterlichem Vorbild inspirierte: Dem von Ódin auserwählten Helden Sigurd ist ein ruhmreiches, aber tragisches Schicksal bestimmt, das auch das bis dahin behütete Leben der Königstochter Gudrún für immer verändert und ein ganzes Herrschergeschlecht mit in den Untergang reißt …

– If in day of Doom
one deathless stands,
who death hath tasted
and dies no more,
the serpent-slayer,
seed of Ódin,
then all shall not end,
nor Earth perish. –
(Völsungakviða en nýja I, 14)

The Legend of Sigurd and Gudrún (Die Legende von Sigurd und Gudrún)bildet die jüngste Veröffentlichung in der langen Reihe postum erschienener Werke J.R.R. Tolkiens. Ganz gleich, ob man hierin nun ein kommerziellen Rücksichten geschuldetes Ausschlachten auch noch der letzten Notizen oder das Streben nach einer möglichst lückenlosen Dokumentation und Veröffentlichung eines wertvollen literarischen Nachlasses erblicken will, die Erwartungen an jeden bisher noch unbekannten Text aus der Feder eines der Begründer des Fantasygenres sind selbstverständlich hoch.

Doch wer auf einen „neuen“ Tolkienroman etwa nach dem Muster von The Children of Húrin (Die Kinder Húrins) hofft, wird sich wohl wundern: Fantasy im klassischen Sinne findet man trotz Drachenkampf und Zaubertrank in The Legend of Sigurd and Gudrún nicht. Stattdessen bietet der Band zwei vollständige, altnordisch betitelte epische Gedichte über die Wälsungensage, die Völsungakviða en nýja (Das neue Wälsungenlied) und die Guðrúnarkviða en nýja (Das neue Gudrúnlied), im Anhang zudem noch ein Gedicht Tolkiens nach dem Vorbild der Völuspá und Fragmente seines Versuchs, das Atlilied auf Altenglisch nachzudichten.

Umrahmt werden die Gedichte von umfangreichen Sachtexten, die teilweise von J.R.R. Tolkien, teilweise von seinem hier als „Herausgeber“ fast schon unterbewerteten Sohn Christopher stammen und nicht nur eine kommentierende Deutungshilfe bieten, sondern auch einen Blick auf den Wissenschaftler Tolkien erlauben, der zwar in mancherlei Hinsicht dem Forschungsstand seiner Zeit verhaftet war, andererseits aber über ein so sensibles Gespür für Sprache und ihre Eigenarten und Einsatzmöglichkeiten verfügte, dass ihn noch manch heutiger Philologe darum beneiden dürfte. Jeder Leser, der sich fachlich oder privat mit der Mediävistik beschäftigt, wird die hier dargebotenen Erkenntnisse sicher mit Interesse in sich aufnehmen und bisweilen auch kritisch hinterfragen. Ob allerdings der durchschnittliche Fantasyfan die oft akribischen Ausführungen über die Feinheiten mittelalterlicher Metrik oder atmosphärische Unterschiede zwischen angelsächsischer und altnordischer Dichtung als spannend empfindet, sei dahingestellt.

Und dennoch: Die Hintergrundinformationen, die in den Sachabschnitten vermittelt werden, sind alles andere als überflüssig, denn erst sie erlauben eine Würdigung der Leistung, die Tolkien mit seiner nahezu perfekten Nachahmung frühmittelalterlicher Stabreime und seinem gekonnten Einsatz formelhafter, mündliche Überlieferung evozierender Wendungen vollbringt. The Legend of Sigurd and Gudrún erlaubt weit besser als mancher moderne Fantasyroman ein Versinken in Sprache und der atmosphärischen Dichte, die sie erzeugen kann. Ganz gleich, ob in poetischen Wendungen eine Reise durch urwüchsige Landschaften geschildert, ein dramatischer Kampf heraufbeschworen oder eine Strophe mit emotionsgeladener Figurenrede aufgelockert wird, Tolkien erweist sich als Meister seines Fachs, dem es gelingt, einen die altvertraute Handlung um Sigurd (der dem Siegfried des Nibelungenlieds entspricht), Gudrún (Kriemhild), ihre Brüder und den Hunnenkönig Atli (Etzel/Attila) in mitreißender Form noch einmal ganz neu erleben zu lassen.

Auf bewusst gebrauchte Archaismen muss man sich allerdings einlassen, ebenso auf reichlich Pathos (das in der Entstehungszeit der beiden Gedichte, die wohl etwa in die 1930er Jahre zu datieren sind, allerdings noch weniger befremdlich gewirkt haben dürfte als in der heutigen Zeit). Ganz wie die mittelalterlichen Dichtungen, an denen Tolkien sich orientiert, setzen seine „Lieder“ zudem beim Leser zumindest Grundkenntnisse des darin verarbeiteten Stoffs voraus, ohne die sich manche verkürzt dargestellte, übersprungene oder nur angedeutete Einzelheit wohl nicht auf den ersten Blick erschließt.

Inhaltliche Überraschungen finden sich somit für jemanden, der mit der Handlung der Nibelungensage und ihrer skandinavischen Variante vertraut ist, vor allem im Detail. Bemerkenswert ist insbesondere, dass Tolkien den altnordischen Mythen eine sehr christlich geprägte Interpretation angedeihen lässt: Sigurd erscheint als prophezeite Erlösergestalt mit deutlichen Anklängen an Christus. So ist er nicht nur von göttlicher Abstammung, sondern wird auch als Überwinder der Schlange bzw. des Drachen apostrophiert (beide können in der christlichen Ikonographie für den Teufel stehen) und schafft durch seinen irdischen Tod die Voraussetzung zur Überwindung des Todes im Jenseits. Eine noch stärkere Verquickung von heidnischer Sagenwelt und christlicher Heilsgeschichte ist eigentlich kaum vorstellbar. Umso auffälliger ist es, dass Christopher Tolkien diese Ebene in seinem Kommentar ausblendet und sich in seiner Deutung lieber auf Parallelen zur fiktiven Mythologie seines Vaters beschränkt, in der teilweise ähnliche Motive aufscheinen.

In der Tat trägt der Umstand, dass J.R.R. Tolkiens Begeisterung für altnordische Sagen in hohem Maße in seine Fantasywerke eingeflossen ist, einen Gutteil zur Faszination von The Legend of Sigurd and Gudrún bei, erlaubt doch das Wissen um sein übriges Schaffen, die Gedichte nicht nur als – wenn auch gelungene – gelehrte Spielerei abzutun. Für Tolkienfans ist das vorliegende Buch daher auf jeden Fall eine Bereicherung, ebenso für sprachbegeisterte Leser (sofern sie zugleich ein Faible für Sagen und Mythen haben). Wer hingegen Fantasy ausschließlich in Form unterhaltsamer Romane genießen möchte, wird hier eine Enttäuschung erleben.

Die Legende von Sigurd und Gudrún von J.R.R. TolkienChristopher Tolkien präsentiert die wissenschaftliche und literarische Auseinandersetzung seines Vaters mit der Wälsungensage (der altnordischen Fassung der Nibelungensage), die J.R.R. Tolkien unter anderem zu zwei im Rahmen dieses Buches veröffentlichten epischen Gedichten nach mittelalterlichem Vorbild inspirierte: Dem von Ódin auserwählten Helden Sigurd ist ein ruhmreiches, aber tragisches Schicksal bestimmt, das auch das bis dahin behütete Leben der Königstochter Gudrún für immer verändert und ein ganzes Herrschergeschlecht mit in den Untergang reißt …

– Einst in der Urzeit
war alles noch leer,
nicht gab’s noch See
noch salzkalte Wellen,
Erde war unten nicht
noch über ihr Himmel –
gähnendes Nichts
und nirgends Gras. –
Völsungakviða en nýja I

Zu Die Legende von Sigurd und Gudrún liegt eine Rezension der Originalausgabe bei Bibliotheka Phantastika vor, dazu bitte hier entlang.

Das Silmarillion von J.R.R. TolkienVon der Schöpfung der Welt, den ersten Kriegen der Valar gegen Melkor und dem Erwachen der Elben und ihrem Schicksal in den westlichen Landen und Mittelerde handelt das Silmarillion in einzelnen, mehr oder weniger abgeschlossenen Erzählungen, die sich zu einer großen, umfassenden Mythologie verbinden lassen.
Der Höhepunkt der Zusammenstellung ist die Geschichte von den Kriegen um die schönsten Edelsteine, die je von Künstlerhand geschaffen wurden: Die Silmaril, mit denen das traurige und verlustreiche Schicksal der Elben in Beleriand verknüpft ist.

-Es heißt unter den Weisen, der erste Krieg habe begonnen, bevor Arda noch ganz erschaffen und ehe noch etwas da war, das wuchs oder ging auf Erden; und lange hatte Melkor die Oberhand.-
I Vom Anbeginn der Tage

Im Silmarillion kann man vieles sehen: Ein Buch mit weiteren Geschichten  aus Tolkiens Welt, inbesondere jenen, die von den Helden des Herrn der Ringe besungen werden. Ein fragmentarisches Werk, nach dem Tod des Autors zusammengestellt und veröffentlicht. Eine Schau von Tolkiens weitläufiger Mythologie, die er für das leidgeplagte Mittelerde oder vielmehr die ganze Welt Arda geschaffen hat, und als halbwegs durchgängige Erzählung, die von der Schöpfungsgeschichte über Zeitalter hinweg die Geschicke der Welt berichtet, am ehesten so etwas wie sein Lebenswerk – das er allerdings niemals zu seiner vollen Zufriedenheit fertig stellte und dessen einzelne Bestandteile in etlichen Versionen vorliegen. Eines ist Das Silmarillion aber nicht: Eine kohärente, kompakte Geschichte, die man wie einen Roman weglesen kann.

Erzählt werden die Mythen der Elben und Menschen vom Anbeginn der Zeit bis hin zur ‘geschichtlichen’ Epoche, die schließlich auch zum Ringkrieg im Hauptwerk des Autors führt. Trotzdem ist Das Silmarillion nur ein Ausschnitt aus Tolkiens umfassender Mythologie.
Schwere Kost also, und auch der Text an sich ist nicht leicht zugänglich. Der Anhang mit  Namensregistern und Stammbäumen zeigt teilweise schon auf, weshalb: Figuren kommen und gehen als Spielbälle des Schicksals, und zu den einzelnen wichtigen Charakteren kann man nur sehr bedingt Bezüge aufbauen. Gerade anfangs sind auch lange Landschaftsbeschreibungen häufig, in denen Ardas Oberfläche dem Leser detailliert vor Augen geführt wird.
Man erfährt die Handlung nicht aus Charaktersicht, sondern aus einer über den Ereignissen stehenden Perspektive im Stil einer Chronik. Generationen vergehen, Kriege werden geführt und das Angesicht der Welt verändert sich. Diese Art des Erzählens ist nicht auf gewohnte Art spannend und auch anders strukturiert, denn erzählt wird die Geschichte einer Welt, in der nur einzelne Stränge abgeschlossen werden, die aber immer im Fluß bleibt.

Wenn man sich aber auf den Stil einläßt, der so gar nicht dem Leitfaden “wie schreibe ich einen Roman” folgt, dann findet man sich in einer Erzählung wieder, die so monumental, archaisch und ausufernd ist, daß man sie eher in eine Reihe mit Homers Epen, Gilgamesch oder der Edda stellen kann, als neben einen anderen Fantasy-Roman. Die für diese Zusammenstellung gewählten Abschnitte ergeben letztendlich ein erstaunlich rundes Bild der Geschichte und sind meistens in sich geschlossen.
Wer mit einer Mischung aus archetypischen Ursprungsgeschichten, Erzählungen von den ersten und den letzten Dingen, monumentalen Schlachten und echtem, nicht aufgesetztem Pathos etwas anfangen kann, sollte einen Versuch mit dem Silmarillion wagen – wer einen ersten Einstieg in die Geschichte Mittelerdes sucht, ist sowieso an der richten Stelle. Es hat auf jeden Fall mehr zu bieten als nur den Herrn der Ringe geschichtlich zu vertiefen, und wie es sich für ein richtiges Epos gehört, klingen etliche Stellen so schön, als seien sie zum lauten Vortragen geschaffen worden.