Christopher Tolkien präsentiert die wissenschaftliche und literarische Auseinandersetzung seines Vaters mit der Wälsungensage (der altnordischen Fassung der Nibelungensage), die J.R.R. Tolkien unter anderem zu zwei im Rahmen dieses Buches veröffentlichten epischen Gedichten nach mittelalterlichem Vorbild inspirierte: Dem von Ódin auserwählten Helden Sigurd ist ein ruhmreiches, aber tragisches Schicksal bestimmt, das auch das bis dahin behütete Leben der Königstochter Gudrún für immer verändert und ein ganzes Herrschergeschlecht mit in den Untergang reißt …
– If in day of Doom
one deathless stands,
who death hath tasted
and dies no more,
the serpent-slayer,
seed of Ódin,
then all shall not end,
nor Earth perish. –
(Völsungakviða en nýja I, 14)
The Legend of Sigurd and Gudrún (Die Legende von Sigurd und Gudrún)bildet die jüngste Veröffentlichung in der langen Reihe postum erschienener Werke J.R.R. Tolkiens. Ganz gleich, ob man hierin nun ein kommerziellen Rücksichten geschuldetes Ausschlachten auch noch der letzten Notizen oder das Streben nach einer möglichst lückenlosen Dokumentation und Veröffentlichung eines wertvollen literarischen Nachlasses erblicken will, die Erwartungen an jeden bisher noch unbekannten Text aus der Feder eines der Begründer des Fantasygenres sind selbstverständlich hoch.
Doch wer auf einen „neuen“ Tolkienroman etwa nach dem Muster von The Children of Húrin (Die Kinder Húrins) hofft, wird sich wohl wundern: Fantasy im klassischen Sinne findet man trotz Drachenkampf und Zaubertrank in The Legend of Sigurd and Gudrún nicht. Stattdessen bietet der Band zwei vollständige, altnordisch betitelte epische Gedichte über die Wälsungensage, die Völsungakviða en nýja (Das neue Wälsungenlied) und die Guðrúnarkviða en nýja (Das neue Gudrúnlied), im Anhang zudem noch ein Gedicht Tolkiens nach dem Vorbild der Völuspá und Fragmente seines Versuchs, das Atlilied auf Altenglisch nachzudichten.
Umrahmt werden die Gedichte von umfangreichen Sachtexten, die teilweise von J.R.R. Tolkien, teilweise von seinem hier als „Herausgeber“ fast schon unterbewerteten Sohn Christopher stammen und nicht nur eine kommentierende Deutungshilfe bieten, sondern auch einen Blick auf den Wissenschaftler Tolkien erlauben, der zwar in mancherlei Hinsicht dem Forschungsstand seiner Zeit verhaftet war, andererseits aber über ein so sensibles Gespür für Sprache und ihre Eigenarten und Einsatzmöglichkeiten verfügte, dass ihn noch manch heutiger Philologe darum beneiden dürfte. Jeder Leser, der sich fachlich oder privat mit der Mediävistik beschäftigt, wird die hier dargebotenen Erkenntnisse sicher mit Interesse in sich aufnehmen und bisweilen auch kritisch hinterfragen. Ob allerdings der durchschnittliche Fantasyfan die oft akribischen Ausführungen über die Feinheiten mittelalterlicher Metrik oder atmosphärische Unterschiede zwischen angelsächsischer und altnordischer Dichtung als spannend empfindet, sei dahingestellt.
Und dennoch: Die Hintergrundinformationen, die in den Sachabschnitten vermittelt werden, sind alles andere als überflüssig, denn erst sie erlauben eine Würdigung der Leistung, die Tolkien mit seiner nahezu perfekten Nachahmung frühmittelalterlicher Stabreime und seinem gekonnten Einsatz formelhafter, mündliche Überlieferung evozierender Wendungen vollbringt. The Legend of Sigurd and Gudrún erlaubt weit besser als mancher moderne Fantasyroman ein Versinken in Sprache und der atmosphärischen Dichte, die sie erzeugen kann. Ganz gleich, ob in poetischen Wendungen eine Reise durch urwüchsige Landschaften geschildert, ein dramatischer Kampf heraufbeschworen oder eine Strophe mit emotionsgeladener Figurenrede aufgelockert wird, Tolkien erweist sich als Meister seines Fachs, dem es gelingt, einen die altvertraute Handlung um Sigurd (der dem Siegfried des Nibelungenlieds entspricht), Gudrún (Kriemhild), ihre Brüder und den Hunnenkönig Atli (Etzel/Attila) in mitreißender Form noch einmal ganz neu erleben zu lassen.
Auf bewusst gebrauchte Archaismen muss man sich allerdings einlassen, ebenso auf reichlich Pathos (das in der Entstehungszeit der beiden Gedichte, die wohl etwa in die 1930er Jahre zu datieren sind, allerdings noch weniger befremdlich gewirkt haben dürfte als in der heutigen Zeit). Ganz wie die mittelalterlichen Dichtungen, an denen Tolkien sich orientiert, setzen seine „Lieder“ zudem beim Leser zumindest Grundkenntnisse des darin verarbeiteten Stoffs voraus, ohne die sich manche verkürzt dargestellte, übersprungene oder nur angedeutete Einzelheit wohl nicht auf den ersten Blick erschließt.
Inhaltliche Überraschungen finden sich somit für jemanden, der mit der Handlung der Nibelungensage und ihrer skandinavischen Variante vertraut ist, vor allem im Detail. Bemerkenswert ist insbesondere, dass Tolkien den altnordischen Mythen eine sehr christlich geprägte Interpretation angedeihen lässt: Sigurd erscheint als prophezeite Erlösergestalt mit deutlichen Anklängen an Christus. So ist er nicht nur von göttlicher Abstammung, sondern wird auch als Überwinder der Schlange bzw. des Drachen apostrophiert (beide können in der christlichen Ikonographie für den Teufel stehen) und schafft durch seinen irdischen Tod die Voraussetzung zur Überwindung des Todes im Jenseits. Eine noch stärkere Verquickung von heidnischer Sagenwelt und christlicher Heilsgeschichte ist eigentlich kaum vorstellbar. Umso auffälliger ist es, dass Christopher Tolkien diese Ebene in seinem Kommentar ausblendet und sich in seiner Deutung lieber auf Parallelen zur fiktiven Mythologie seines Vaters beschränkt, in der teilweise ähnliche Motive aufscheinen.
In der Tat trägt der Umstand, dass J.R.R. Tolkiens Begeisterung für altnordische Sagen in hohem Maße in seine Fantasywerke eingeflossen ist, einen Gutteil zur Faszination von The Legend of Sigurd and Gudrún bei, erlaubt doch das Wissen um sein übriges Schaffen, die Gedichte nicht nur als – wenn auch gelungene – gelehrte Spielerei abzutun. Für Tolkienfans ist das vorliegende Buch daher auf jeden Fall eine Bereicherung, ebenso für sprachbegeisterte Leser (sofern sie zugleich ein Faible für Sagen und Mythen haben). Wer hingegen Fantasy ausschließlich in Form unterhaltsamer Romane genießen möchte, wird hier eine Enttäuschung erleben.