Zyklus: Long Earth@The

The Long Earth von Terry PratchettEs passiert in einer Zeit, in der sich „Raum“ zu den rasant schwindenden Ressourcen gesellt: ein simpler Schaltkreis mit Kippschalter und Kartoffelbatterie eröffnet der Menschheit unerforschte, unendliche Weiten. Nach Westen und nach Osten hin erstrecken sich Paralleluniversen, die Dank des „Steppers“ jetzt nur einen Schritt entfernt sind, und die Menschheit macht sich auf, die unberührten Erden zu erforschen, zu bereisen, in Besitz zu nehmen. Doch nach dem ersten Raumtaumel formieren sich nicht nur Siedlertrecks, sondern auch Gruppen mit wirtschaftlichen, kriminellen, oder gänzlich undurchsichtigen Absichten …

 “This wasn’t Joshua’s world. None of it was his world. In fact, when you got right down to it, he didn’t have a world; he had all of them.
All of the Long Earth.”
– Chapter 2

Es ist ein Menschheitstraum, so alt wie die Reihenhaussiedlung und die Tokioer U-Bahn selbst: der Traum von Weite, von Einsamkeit, von einem Vorgarten bis zum Horizont. Die Fantasy- bzw. SF-Giganten Terry Pratchett und Stephen Baxter haben mit ihrem gemeinsamen Roman The Long Earth eine beeindruckende Version dieses Traumes vorgelegt.

Allen Parallelerden gemeinsam ist die Unberührtheit durch den Evolutionsjux Mensch, der sich nur auf der Heimaterde zu tummeln scheint. Alle anderen Erden sind ihre eigenen evolutionären Wege gegangen, und so trifft man zwar mitunter auf Lavakontinente, Diamantberge oder Ozeanwelten, aber nie auf einen Homo Sapiens, der seinerseits seinen Heimatplaneten an die Grenze des „Schutt und Asche“ brachte. Nahe liegt der Paradiesvergleich, folgt man Baxter und Pratchett in diese vor Leben vibrierenden Universen – Flora und Fauna gleichen einem Gabentisch, einer helfenden Hand, dem sinkenden Menschenschiff hingestreckt. Kein Wunder, dass sich auch bekuttete Gestalten auf die Suche nach dem Göttlichen begeben, oder bärtige Gesellen nach Klondike-2: in The Long Earth scheint jeder das zu finden, was er sucht.
Landflucht wird zur Raumflucht, und völlige Souveränität und Selbstbestimmtheit scheinen nur eine Kartoffelladung entfernt zu sein. Während also die Regierungen der Welt versuchen, Steuersysteme in Parallelwelten zu etablieren, während auf unserer Heimaterde die Wirtschaft zusammenbricht, tun sich Arzt und Schmied, Soziologieprofessor und Zimmermann zusammen, um auf der Erde 101.754 eine Kolonie zu gründen. Feuerfachen und Schlingen legen wird zur neuen-alten ars vivendi, und rotgolden versinkt die Sonne hinter den Weizenfeldern.

The Long Earth ist jedoch mehr als Eskapismuskitsch und Lagerfeuerromantik, denn auch wenn sich hundert neue Welten auftun: Verlierer gibt es überall. Vielleicht ist es ein evolutionärer Seitenhieb auf die zerstörerische Kraft des expandierenden Gehirns, doch nicht alle Erdbürger sind befähigt, den kleinen, interdimensionalen Schritt zu tun, der ewige Freiheit verheißt. 5 % der Bevölkerung, die sogenannten „Phobics“, können nicht aus eigener Kraft den Schritt in die anderen Welten tun; und ein Paradies, das einigen den Zugang verwehrt, wird sich vor Schlangen bald nicht mehr retten können.

Die zentrale Frage des Romans heißt also: wie weit würdest du gehen? Durch episodenhaft erzählte Einzelschicksale entzaubern Baxter und Pratchett behutsam die Paradiesgedanken, ohne sie dem Höllenschlund anheimfallen zu lassen. Eine Familie lebt glücklich in der 101754. Idylle – hat jedoch ihr Phobic-Kind auf Erde-1 zurückgelassen. Ein Entrepreneur versucht verzweifelt, die neuen Welten mit barer Münze zu erobern. Kann es Scheitern in einer Zeit der unendlichen Neuanfänge noch geben? Lassen sich Trauer, Krankheit und Verlust besser ertragen, wenn die Sicht unverbaut ist?

Für die Protagonisten des Romans ist die Frage – „Wie weit würdest du gehen“ – jedoch bedeutungslos: Joshua und Lobsang machen sich auf, um die Weite wissenschaftlich zu erkunden, um Grenzen (falls es diese gibt) immer weiter nach hinten zu verschieben. Die beiden Figuren geben ein äußerst pratchetteskes Paar ab: Joshua, ein junger Mann, der auch ohne Kartoffel ‘steppen’ kann, und Lobsang. Während die Paralleluniversen Baxters schöpferische Handschrift tragen, so atmet Lobsang Pratchett ein und aus. Lobsang: ehemaliger Fahrradreperateur aus Tibet, nun halb Geist, halb Maschine, der als erster Roboter das irdische Gericht davon überzeugt hat, menschlich zu sein. Lobsang ist nicht der heimliche Star des Romans: währen die Erden eine Bühne, er würde sie im Elvisanzug rocken. Sein Name ist Programm.
Während also die hyperintelligente, mit einem Humorchip versehene Mensch-Maschine den Leser freundlich bei der robotischen Hand nimmt, so ist die Charakterisierung Joshuas problematischer, und sein Problem kann als programmatisch für den Roman gesehen werden: die Figur scheint noch undefiniert, vage, nicht zu Ende gedacht. Und während Lobsang einen Geniestreich nach dem anderen aus dem Ärmel zaubert, um die Reise durch die unendlichen Welten zu bestehen, kommt man als Leser nicht umhin, zu bemerken, dass Pratchett und Baxter damit noch zurückhalten. Tatsächlich müssen ihre Ärmel zum Bersten gefüllt sein: Andeutungen, lose Enden, Vermutungen und Theorien tummeln sich wie Fische im unverseuchten, plastikfreien Wasser. Der Genius liegt hier im Setting, noch nicht im Detail. Umso klärender wird deshalb vermutlich die Lektüre des Folgebandes The Long War – dessen Titel nicht gerade subtil darauf hinweist, dass der Mensch auch noch dann einen Krieg beginnen kann, wenn er über Raum und Zeit verstreut ist. Eigentlich wollen wir doch alle nur schadstofffreie Gurken. Oder?

Die Kollaboration der beiden literarischen Giganten lädt also vor allem zum Träumen ein, zum Erkunden, zum Erforschen, Erschrecken und Ernüchtern. Wirklich erstaunlich ist jedoch, dass man für die Reise in unendliche Welten sogar auf die Kartoffelbatterie verzichten kann – hier reichen auch zwei Buchdeckel.

The Long War von Terry Prachtett und Stephen BaxterDas Amerika der Heimaterde will seine Macht über die Reihe der unendlichen Parallelwelten ausdehnen, und gleichzeitig verpassen Siedler, Forscher und Reisende den Erden ihren menschlichen Fussabdruck. Dann sorgt eine Meldung im Outernet für Schlagzeilen: Forscher misshandeln vor laufender Kamera einen Troll – und dies ist nur ein Beispiel für die sich ausbreitende Gewalt gegen die humanoiden Long-Earth-Bewohner. Zeit für Joshua und Sally, etwas zu unternehmen …

Sally Linsay arrived at Hell-Knows-Where fast and furious. But when had that ever been unusual?
– Kapitel 2

Der erste Teil der The Long Earth-Reihe von Terry Pratchett und Stephen Baxter weckte große Erwartungen: Unendliche Welten, neue Gesellschaftsformen, Entdeckungen unvorstellbarer Evolutionsscherze – es hätte alles so schön sein können. Mit The Long War jedoch beweisen die Autoren, dass auch The Long Ideas nicht ausreichen, um eine gute Geschichte zu erzählen.

Die Handlung setzt Jahre nach Joshuas und Lobsangs erster Reisen durch die Paralleluniversen ein. Joshua ist nun Familienvater, der sich häuslich in Reboot niedergelassen hat, während die amerikanische Regierung alles daran setzt, um die unendlichen, parallel-amerikanischen Weiten der Universen zu beherrschen – um sie zu besteuern. Was als Parodie brauchbar klingt, taugt wenig als Grundgedanke, aus dem sich ein bedrohlicher, interterrestrischer Krieg entwickeln soll. Voller Spannung erwartet der Leser die Wunderwaffe der Regierung, doch Raumpatrouillen in (immerhin verkabelten) Zeppelinen, die auf einer unendlichen Reihe von Welten unter Steuersündern für Ordnung sorgen sollen – dieser War, so ahnt man schon, wird nicht sehr Long. Zur Spannung kann auch die weltenumfassende Black Cooperation nichts beitragen, die mit ihrer Monopolstellung im Bereich der Technikentwicklung so normal-megalomanisch-bedrohlich wirkt wie jede Monopolfirma unserer Heimaterde.

Die Figuren haben der fehlenden Spannung nur wenig entgegenzusetzen. Helen, das Hausmütterchen, und Sally, die männerhassende Furie, sind ebenso innovativ wie der verbissene Cop in Rente oder der unsozialisierte Weltraumnerd. Doch während diese zumindest Altbewährtes bieten, streiten sich bei Joshua Blässe und Widersprüchlichkeit um die Oberhand bei der Charakterskizzierung, und selbst eindeutig Pratchetteske Figuren wie die fluchende Biker-Ordensschwester Agnes haben eher den Charakter eines müden Scherzes. Interessant bliebe höchstens Lobsang, der mit seiner Entwicklung zum Deus Ex Machina jedoch auch sein Potential an sich vorüberziehen sieht.

Bleibt der Konflikt zwischen Mensch und Troll, der zweifelsohne Stoff für ethisch höchst interessante Geschichten liefern könnte. Doch bei der Lösung des Konfliktes verhält es sich ähnlich wie mit der literarischen Bevölkerung der Langen Erden: die Ideen pendeln zwischen „absurd-bizarr“ und schlicht „unlogisch“, und was gibt es ermüdenderes als uninspirierte Skurrilität? Das Sujet der Erforschung, Erkundung und Eroberung neuer Welten wurde selten so longwierig (Verzeihung) beschrieben.

Zuletzt liest sich der Roman auch noch wie das wütende Atheismus-Plädoyer eines Sechsjährigen, dessen Pausenbrot von Franziskus-Josef geklaut wurde. Umweltverschmutzung, Gewalt, Entfremdung und das scheußliche Wetter auf Erde 25623: die (westlichen) Religionen sind Schuld. Gott sei Dank (Verzeihung die 2.) wartet der Roman mit der konturlosen Figur des ehemaligen Priester Nelsons auf, der mit Lobsang kurzzeitig auf dem Pfad der wissenschaftlichen Erleuchtung wandelt, um sich dann auf dem Rücken eines gigantischen Wirtstieres, das im Ozean einer weit entfernten Erde schwimmt und auch parasitär lebenden, aber hübschen, blumenbehangenen Inselschönheiten Platz bietet, befreiendem Sex hinzugeben, mit dem er die Fesseln seiner religiösen Indoktrinierung endlich zu sprengen vermag.

Hey, ich habe mir das nicht ausgedacht.

Es ist bedauerlich, dass sich die Autoren der spannenden Frage – wie entwickelt sich Religion in Zeiten der unbegrenzten „Schöpfung“ – über Plattitüden und Schuldzuweisungen nähern, die aus dem Nichts kommen und ebenso schnell wieder vergessen sind. Mit ihrem Roman lassen Baxter und Pratchett Gläubige in einem schlechten Licht dastehen – und Nichtgläubige im Licht eines kaputten Nebelscheinwerfers.

Schließlich macht das gleiche, was die Eroberer der unendlichen neuen Welten plagt, auch dem Roman zu schaffen: Ziellosigkeit, gepaart mit der subtilen Langeweile des „Ich fahre in die weite Ferne, aber irgendwie sieht es überall gleich aus“-Effekts, der einen auch leicht auf der Zugfahrt von Dresden nach Berlin befällt. The Long War gleicht somit eher einer Reise durch Brandenburg – wobei, dort gibt es immerhin Wölfe.