Category: Zettelkasten

“Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne” heißt es bei Hermann Hesse und hieß auch das Motto der alten bp. In diesem Sinne möchten wir euch von Zeit zu Zeit mit unseren liebsten Buchanfängen verzaubern und präsentieren heute die erste Auswahl. Titel und Autoren werden wir später in den Kommentaren ergänzen:

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These are the stories that the Dogs tell when the fires burn high and the wind is from the north. Then each family circle gathers at the hearthstone and the pups sit silenty and listen, and when the story’s done they ask many questions:
»What is Man?« they’ll ask.
Or perhaps: »What is a city?«
Or: »What is a war?«

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Now that the moon is near to full, the branch of an apple tree casts its nighttime shadow in through the high window across the wall beside my bed. This place is full of apple trees, and half of them are no more than crabs in the daylight; but the shadow on my wall, that blurs and shivers when the night wind passes and then grows clear again, is the shadow of that Branch the harpers sing of, the chiming of whose nine silver apples can make clear the way into the Land of the Living.

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The old south land lies across the world like an open hand, hollowed a little at the palm. High over it tumbles the wind, and all along its margin tumbles the sea – rolling in slow sweeps on long white beaches, beating with hammers of water at headlands of rock. Under and in this tumbling of wind and water the land lies quiet like a great hand at rest, all its power unknown.

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It is possible I already had some presentiment of my future. The locked and rusted gate that stood before us, with wisps of river fog threading its spikes like the mountain paths, remains in my mind now as the symbol of my exile. That is why I have begun this account of it with the aftermath of our swim, in which I, the torturer’s apprentice Severian, had so nearly drowned.

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Cover von Barbarendämmerung von Tobias O. MeißnerDer Barbar zieht durch ein nicht näher bestimmtes Land, das sich an seinen Rändern im Krieg mit den sogenannten Waldmenschen befindet. Auf seiner ziellosen Reise sieht sich der Barbar immer wieder mit der Dekadenz der Städte, ihren Regel- und Ordnungssystemen – die er weder teilt, noch nachvollziehen kann -, aber auch mit gefährlichen Monstern und sogar Heiligen und Göttern konfrontiert. Dabei wird er seiner Bezeichnung gerecht und zieht eine Spur der Verwüstung durch das Land.

Zur vollständigen Rezension bitte hier entlang.

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Prokrastination* ist zwar meist ein Problem, mit dem man sich lieber ein andermal befasst – aber als ich vor Kurzem einen (schon älteren) Artikel darüber tatsächlich gleich gelesen habe, stach mir ein Experiment ins Auge, bei dem die Teilnehmer nach Filmen befragt wurden, die sie gerne jetzt sofort oder in einem Monat sehen würden. Demnach wählen Leute für den späteren Zeitpunkt häufig ernste oder bedeutende Filme, wohingegen für sofort anspruchslose Blockbuster und Komödien das Rennen machen. Weiter heißt es:

Das Problem ist natürlich, dass dann, wenn es an der Zeit wäre, den ernsten Film anzusehen, etwas anderes Seichtes häufig verlockender wirkt. Darum sind auch die Listen beim Videoverleih Netflix voll mit Filmen, die niemals gesehen werden: unser verantwortungsbewusstes Selbst setzt uns Hotel Ruanda und Das Siebte Siegel auf die Liste, aber wenn es soweit ist, landen wir letztlich wieder vor der Wiederholung von Hangover. **

Man ahnt es bereits – es stellt sich die Frage, ob es dem ein oder anderen mit dem SUB, also dem Stapel ungelesener Bücher, ähnlich ergeht. Prokrastinieren wird in erster Linie damit assoziiert, mühsamen Tätigkeiten aus dem Weg zu gehen. In der Lektüre sieht man dagegen Entspannung oder zumindest Freizeitaktivität – demnach scheint die Frage zunächst absurd.
Allerdings spricht allein die Tatsache, einen SUB zu besitzen, dafür, dass manches Angeschaffte auf später vertagt wird, sofern man nicht nur aus Raffgier mehr Bücher hortet, als man weglesen kann. Wir legen uns Bücher mit der festen Absicht zu, sie zu lesen, nicht, um sie ewig im Regal oder auf dem Stapel verstauben zu lassen. Trotzdem wandern auf dem SUB Bücher nach unten, manches bleibt vielleicht ganz liegen.

Laut Zitat sind es Klassiker und Geschichten mit schwierigen Themen – bei denen gleichzeitig ein gewisser Konsens zu bestehen scheint, dass man sie kennen sollte –, die prokrastiniert werden. Für die Bücherwelt würde das vielleicht bedeuten, Conan oder Who Fears Death auf die lange Bank zu schieben, aber dahinter steht doch eine grundsätzlichere Frage:
Wonach greifen wir, wenn die nächste Lektüre ausgewählt werden muss – oder vielmehr, wonach greifen wir nicht?

Es steht nicht zu vermuten, dass bei den bp-BesucherInnen diese Entscheidung nur entlang der Achse Anspruch-Unterhaltung getroffen wird. Auch fällt der Prestigegewinn im Genre viel kleiner aus, den man sich erhoffen könnte, wenn man die „Klassiker“ gelesen hat, und wer sich nicht dafür interessiert, wendet vermutlich auch keinen kostbaren Regalplatz dafür auf. Aber es gibt mit Sicherheit andere Gründe, die ins Gewicht fallen, wenn wir uns entscheiden, etwas lieber doch nicht jetzt gleich zu lesen.
Bei mir sind z.B. inzwischen sehr dicke Bücher Kandidaten, die akut gefährdet sind. Schwindende Lesezeit sorgt dafür, dass sie mich frustieren, wenn ich sie wochenlang mit mir herumtragen muss. Auf der Liste der fünf Bücher, die ich schon am längsten prokrastiniere, würden vielleicht noch ganz andere Gründe zutage treten. Danach suche ich dann ein andermal. 😉

Und was setzt in euren Regalen Staub an, welche Leichen liegen bei euch ganz unten im SUB?

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Wer kennt diese Situation nicht: Man hat seine aktuelle Lektüre beendet und schlendert zum SUB (oder besser den SUBs), um sich eine neue herauszusuchen, und plötzlich steht man vor der Qual der Wahl. Der Blick schweift über ältere Neuerwerbungen, die einen damals brennend interessiert haben, aber nun schon etwas Staub ansetzen, und über neuere, auf die man aber jetzt gerade doch nicht Lust hat. Tja, was also tun? Man schreibt einen Blog und hofft, dass einem dabei die Erleuchtung kommt oder dass einem die Internetcommunity hilft.

Hier also fünf Bücher, zwischen denen ich mich entscheiden muss:

Cover von Natural History von Justina Robson1. Justina Robson: Natural History
Ein SF-Roman, auf den ich durch einen Artikel in der zweiten Ausgabe der Pandora aufmerksam geworden bin. Neben dem wunderschönen Cover punktet der Roman mit seiner Thematik: Die Autorin nähert sich darin dem für mich immer wieder faszinierenden Verhältnis von Mensch und Maschine, (künstlichem?) Bewusstsein und Leben sowie den hybriden Verschmelzungen und Entwicklungen zwischen diesen behaupteten Antagonismen. Bereits das erste Kapitel verheißt sehr viel, wird hier doch der Song “American Pie” mit den Erinnerungen des Bewusstseins eines Raumschiffes, das gerade einen dramatischen Fehler gemacht hat, und den Beschreibungen seiner Lage zusammengeführt.

Cover von The Summer Isles von Ian R. MacLeod2. Ian R. MacLeod: The Summer Isles
Mich hatte bereits Aether mit seinem wunderschönen Stil, der feinen Melancholie und der ernsten Thematik begeistert, daher wollte ich unbedingt mehr von MacLeod lesen und habe mir seine mit dem World Fantasy Award ausgezeichnete Erzählung “The Summer Isles” in der zur Novelle ausgebauten Fassung besorgt. Die edle (limitierte und signierte) Ausgabe von Aio lässt dabei nicht nur das Fanboyherz, sondern auch das Buchliebhaberherz höher schlagen. Aber abgesehen davon hat mich der eigentliche Inhalt dazu bewogen, mir das Buch zu kaufen. Das alternative England, in dem Faschisten die Macht ergriffen haben und in dem sich der (homosexuelle) Protagonist durchschlagen muss, hat sofort mein Interesse geweckt.

Cover von The Books of he Wars von Mark Geston3. Mark Geston: Out of the Mouth of the Dragon
Nachdem mir der erste Roman aus der (sehr) lose miteinander verbundenen Trilogie rund um die vom Schicksal gebeutelte „Welt“ und ihre Bewohner recht gut gefallen hat, stünde hiermit die Quasi-Fortsetzung griffbereit im Sammelband The Books of the Wars zur Verfügung. Die schon im ersten Band interessante Erzählweise Gestons und der wilde Mix aus SF- und Fantasy-Elementen verspricht jedenfalls spannend zu werden und (so banal es klingt) das Format wäre ideal für Fahrten mit den Öffis.

Cover von Lilith's Brood von Octavia E. Butler4. Octavia E. Butler: Dawn
Butlers Debutroman Patternmaster (Als der Seelenmeister starb) hat in der BP-Redaktion zwar zu kontroversen Reaktionen geführt, für mich aber mehr Potential entfaltet als Schwachpunkte gezeigt. Trotzdem habe ich mit dem Sammelband Lilith’s Brood erstmal die Reihe zur gleichnamigen Trilogie (Dawn, Adulthood Rites, Imago) gewechselt – auch bekannt als Xenogenesis-Trilogie. Darin wird Protagonistin Lilith von einem Alienvolk von der fast völlig zerstörten Erde gerettet. Die Oankali genannten Aliens haben nicht nur drei Geschlechter, sondern auch die Fähigkeit sich telepathisch zu verbinden und Gene mit anderen intelligenten Spezies auszutauschen, weshalb sie als Genhändler fungieren. Natürlich „profitieren“ auch Lilith und im weiteren Verlauf der Reihe ihre Nachkommen von diesen Fähigkeiten der Außerirdischen.

Cover von The Habitation of the Blessed von Catherynne M. Valente5. Catherynne M. Valente: The Habitation of the Blessed
Ein neuer Anlauf mit einer Reihe (A Dirge for Prester John) von Frau Valente, die für mich immer wieder eine Herausforderung ist. Aber das Setting rund um den Mythos des Priesterkönigs Johannes, dessen Reich in Valentes Version auch noch von einer Unzahl mittelalterlicher Sagenwesen bevölkert wird, hat mich sehr fasziniert. Auch der Ansatz, die Geschichte des Romans in unterschiedlichen literarischen Formen des Königreichs zu erzählen, die von Kapitel zu Kapitel wechseln, hat mich unglaublich gereizt. Die Aufmachung des Buches ist mit deckled edges ebenfalls wunderschön anzuschauen.

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Ich weiß nicht, ob es an meiner Berufswahl liegt, oder ob es etwas Allgemeineres ist, aber wenn ich ein schönes Cover sehe, muss ich es haben. Ungeachtet seiner Zielgruppe oder Bewertung wird das Buch gekauft. Meistens werde ich von dem Inhalt enttäuscht, manchmal aber kommt es vor, dass sich ungeahnte Schätze zwischen den schönen Buchdeckeln verbergen.
Hier sind nun ein paar meiner Cover-Käufe aus den letzten drei Jahren. Einige davon Goldgruben, andere … nicht. Auffällig dürfte sein, dass dies alles englische Originalausgaben sind.

Jonathan Strange & Mr. Norrell von Susanna Clarke1, Susanna Clarke: Jonathan Strange & Mr. Norrell
In seiner Einfachheit ein wunderschönes Cover mit einem für mich sehr enttäuschenden, ja geradezu nervtötenden Inhalt. Ich fand die Inhaltsbeschreibung seinerzeit gar nicht so schlecht. Nichts Berauschendes vielleicht, aber dass es zu solch einer Qual werden würde, dieses Buch zu lesen, hätte ich nicht gedacht. Inzwischen hängt das Cover buchlos, aber dafür gerahmt, an meiner Wand und die Seiten werden vermutlich irgendwo zu Toilettenpapier verarbeitet.

Magyk von Angie Sage2, Angie Sage: Magyk
Hierbei handelt es sich eigentlich um ein lupenreines Kinder-/Jugendbuch. Trotz dieses Wissens konnte ich beim Anblick des grandiosen Hardcovers nicht widerstehen und habe nicht nur Band eins, sondern auch Band zwei gekauft. Der dritte Band stand ebenfalls auf meiner Wunschliste, dummerweise haben ein paar Freunde meinen Geburtstagswunsch nicht allzu genau genommen und mir statt des Hardcovers die Taschenbuchausgabe geschenkt.

The Night Circus von Erin Morgenstern3, Erin Morgenstern: The Night Circus
Ein sehr schönes, wie Scherenschnitt anmutendes Cover, das mir letztes Jahr über den Weg gelaufen ist. Hier hatte mich der Klappentext zwar zunächst weniger angesprochen, aber die Meinungen klangen vielversprechend und bei der schicken Aufmachung konnte ich nicht widerstehen. Überraschenderweise entpuppte sich dieses Buch als wertvolles Juwel und verschaffte mir einen sehr großen Lesegenuss.

Rivers of London von Ben Aaronovitch4, Ben Aaronovitch: Rivers of London
Neugierig gemacht von einigen aus unserem Forum, die das Buch bereits gelesen hatten, hat auch hier das Cover den ausschlaggebenden Anreiz gegeben, das Buch zu kaufen.
Inhaltlich war Rivers of London kein völliger Reinfall, so richtig gepackt hat es mich aber leider auch nicht.

The Small Hand von Susan Hill5, Susan Hill: The Small Hand
Als ich dieses winzige Büchlein im Laden liegen sah, war ich sofort verliebt. Ein mattschwarzer Umschlag mit einem kühlen Blauton, der gut zum Geisterthema passt, verziert mit metallischem Golddruck. Für meinen Geschmack eine rundum gelungene Komposition. Leider entpuppte sich der Inhalt als so schlecht wie das Cover gut ist, ziemlich unspektakulär und der versprochene Horroreffekt blieb völlig aus.
Einmal mehr ein absoluter Fehlkauf, trotzdem kann ich mich angesichts des Covers nicht von dem Buch trennen.

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Gerade bin ich über einen Artikel gestolpert, den ich recht amüsant fand. Denn die Verfasserin “Klappentexterin” beschreibt darin einen kleinen Spleen, der bei ihren Freunden offensichtlich für Heiterkeit sorgte und mich an meinen eigenen Freundeskreis erinnerte. Es geht kurz gesagt um ein Notfallregal, in dem Klappentexterin eine kleine Auswahl von Büchern hortet, die sie in einer Notsituation, bei der sie schnell das Haus verlassen muss, sofort bereitstehen hat, um die Lieblinge in Windeseile einpacken zu können. Was andere für schrullig halten würden, finde ich einfach nur romantisch. Nichts zelebriert die eigene Liebe und das Gefühl eines lebendigen Buches mehr als ein solches Notfallregal.

Während ich mir nun dachte »Was für eine zauberhafte Idee!« kam ich nicht umhin einen Blick in mein eigenes Regal zu werfen. Zur Zeit ist das eines dieser Expedit-Regale mit 25 Kuben, das bei uns in der WG als Raumteiler funktioniert. Pickepacke voll gestopft mit Büchern.Im Buchregal
Ich hatte mal gedacht, meine Bücher gehören eigentlich in mein persönliches Zimmer, doch da ich mich die meiste Zeit im Wohnzimmer aufhalte, hätte ich meine Schätze so kaum zu Gesicht bekommen. Also wanderten sie ins Wohnzimmer, wo ich sie tagein, tagaus aus nur zwei Metern Entfernung regelmäßig anschauen und anhimmeln kann. Mit dem Artikel von Klappentexterin im Hinterkopf kam ich nicht umhin festzustellen, dass auch ich gewisse Gruppen erstellt habe. Das beginnt ganz grob damit, dass auf der mir zugewandten Seite des Regals nur jene Bücher stehen dürfen, die mich nachhaltig beeindruckt oder einfach nur erfreut haben, während die Rückseite mit den weniger ans Herz gewachsenen Büchern – von denen ich mich bisher trotzdem nicht ganz trennen konnte – gefüllt ist. Innerhalb der beiden Seiten gibt es weitere Unterkuben, die auf der Rückseite allerdings nun weniger interessant sind. Auf der Frontseite dagegen gibt es einen Kubus für »Sammlerausgaben«, »Vampire, Werwölfe, Sagen«, “Artbooks“, “Episches” und, ganz unbewusst, auch ein Notfallregal bzw. in diesem Fall einen Notfallkubus, in dem sich alle meine heiß und innig geliebten Bücher aufhalten dürfen. Dort findet man im Augenblick Namen wie z.B. Diana W. Jones, Jim Butcher, Erin Morgenstern, Patrick Rothfuss, Dan Wells, Paul Kidby, Gail Carriger und Richard Matheson. Erstaunlicherweise wird mir erst jetzt bewusst, dass dieser Kubus meinem restlichen Kategorisierungswahn völlig widerspricht, wenn hier Artbook neben  Steampunk neben Märchen neben Urban Fantasy neben epischer Highfantasy usw. aufgereiht steht.
Wenn ich das später meinem Mitbewohner erzähle, ernte ich garantiert einen erneuten Kopfschüttler inklusive verkniffenem Grinsen und einem gemurmelten “Nerd!” … Ist es nicht schön, ein Nerd zu sein? 😀

Wie sieht es in euren Regalen aus? Habt auch ihr versteckte oder routinierte Ticks eingebaut, von denen ihr bisher vielleicht noch gar nichts geahnt habt?

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Ken Scholes, dessen auf fünf Bände ausgelegte Fantasy-Reihe Psalms of Isaak auch auf Deutsch erscheint, startete seine schriftstellerische Karriere mit Kurzgeschichten; mit einer davon gewann er 2005 den Writers-of-the-Future-Award. Aus einer weiteren Geschichte stammen auch der Metallmann Isaak und Rudolfo, der Zigeunerkönig, zwei Figuren, die sich als Protagonisten des Romans Lamentation (2008) und dessen Nachfolger ebenfalls hervorragend machten. Scholes lebt mit seiner Frau und seinen Zwillingstöchtern in Oregon und schreibt in seiner freien Zeit am vierten Band seiner Saga, wenn es sein muss, auch mit Kind im anderen Arm. Trotzdem hat er in seinem stressigen Terminplan die Zeit freigeschaufelt, für Bibliotheka Phantastika ein paar Fragen zu beantworten, und hat für uns sogar in seinen alten Photoalben geblättert …

Bilbiotheka Phantastika: Anders als viele andere US-Autoren, die ins Deutsche übersetzt werden, haben Sie Deutschland schon einmal besucht. Wollen Sie uns etwas darüber erzählen? Was verbinden Sie mit Deutschland?

Ein verregneter Frühlingstag in Ulm, 1988
Ein verregneter Frühlingstag in Ulm, 1988. © alle Bilder: Ken Scholes.

Ken Scholes: Ich habe sogar von 1986 bis 1988 in Deutschland gelebt – in Kornwestheim in der Nähe von Ludwigsburg und Stuttgart. Ich war als junger Mann dort bei der US Army stationiert, und es war eine jener Erfahrungen, die das Leben verändern, die Welt erweitern und die Augen öffnen. Zu dieser Zeit hatte ich es aufgegeben, Science-Fiction- und Fantasy-Geschichten zu schreiben, und habe in meiner Freizeit stattdessen gelernt, wie man Predigten und religiöse Lieder schreibt. Ich war damals schon ziemlich weit mit dem Gitarrespielen gekommen und habe daher auch viele Abende damit verbracht, auf den Straßen von Stuttgart Songs von Simon and Garfunkel, Bob Dylan und John Denver zum Besten zu geben.
Während meines Aufenthalts habe ich mich natürlich auch in ein paar deutsche Mädchen verliebt. Und eine große, große Schwäche für die Deutschen, die Kultur und … das Essen entwickelt. Ich habe etliche Wochenenden mit deutschen Familien verbracht, und sogar ein paar Mal mit ihnen Weihnachten gefeiert. Ich habe dort eine wunderbare Zeit verlebt und habe es sehr vermisst. Ich bin schon jahrelang nicht mehr da gewesen, aber ich habe einen Spätzlehobel und habe meine Vorliebe für Jägerschnitzel nie verloren.
Ich will eines Tages unbedingt wiederkommen und hoffe, dass meine Bücher das nicht nur wahrscheinlicher machen, sondern dass sie mir vielleicht auch helfen, einige der deutschen Freunde wiederzufinden, zu denen ich in den zwanzig Jahren, seit ich gegangen bin, den Kontakt verloren habe.

bp: In Ihren Romanen gibt es Roboter, Magie, Geheimbünde, allerlei Steampunk-Elemente und traditionelle Schwertkämpfe, und der Freund von Genreschubladen tut sich schwer bei der Einordnung. Wenn Sie eine Genre-Bezeichnung für Ihre Isaak-Reihe erfinden müssten, wie würde sie lauten?

KS: Also, ich habe beim Schreiben nie ernsthaft groß über das Genre nachgedacht. Ich wollte, dass die Geschichte die Freiheit hat, so zu werden, wie sie werden musste, und sie nicht durch verschiedenste Erwartungen fesseln, die Leser an die Genres herantragen, die sie gerne lesen. Wenn ich einen Namen vergeben müsste, würde ich sagen: postapokalyptische SF, die als Fantasy verkleidet ist und obendrein Stilelemente aus dem Techno-Thriller und dem Krimi enthält.

bp: In den Legenden von Isaak geht es um von langer Hand geplante Intrigen und Ereignisse, in denen die Einflüsse vieler Fraktionen und Einzelpersonen kulminieren. Planen Sie beim Schreiben von langer Hand?

Ken Scholes in einem alten römischen Badehaus, irgendwo bei Stuttgart, 1987.
Ken Scholes in einem alten römischen Badehaus, irgendwo bei Stuttgart, 1987.

KS: Erstaunlicherweise nicht. Ich plane meine Romane eigentlich sehr wenig. Ich denke und schmiede die Pläne unterwegs, lege hier und da eine Pause beim ersten Entwurf ein, um mir Gedanken zu machen, wohin die Geschichte geht. Ich habe Glück, dass ich sowohl instinktiv als auch organisch arbeiten kann, so dass sich die Geschichte entwickeln und entfalten kann, während ich sie schreibe … und dass ich meine Arbeit bis zu einem gewissen Grad dadurch planen kann, dass ich mich rückwärts durcharbeite – meistens entwickle ich die Ereignisse umgekehrt, vom Ende her.
Bei den Legenden von Isaak schreibe ich ohne große Notizen oder Leitfäden. Ich habe nur Karten für einige Teile jener Welt gemacht, weil die Leser sie in den Büchern haben wollten. Bei meinem nächsten Projekt werde ich vermutlich mehr Weltschöpfung und Grundrisse vor den ersten Entwurf stellen, vor allem, weil ich neugierig darauf bin, etwas anderes auszuprobieren. Bei meinen kürzeren Texten wurden, denke ich, etwa zwei Drittel meiner Geschichten spontan und instinktiv geschrieben und etwa ein Drittel vorher ein wenig durchdacht und geplant.

bp: Ihre Kapitel wirken wie prägnante Streiflichter mit einem sehr präsenten eigenen inneren Aufbau. Haben Sie einen schriftstellerischen Zugang aus Ihren Kurzgeschichten in Ihre Romane mitgenommen? Und inwiefern waren Sie vielleicht schon immer Romanautor, wenn man Ihre teils episch-mythischen Kurzgeschichten wie Edward Bear oder The Santaman Cycle betrachtet?

KS: Das ist eine großartige Frage. Ich glaube, dass ich das aus meinen Kurzgeschichten mitgebracht habe – bis ich Sündenfall geschrieben habe, hatte ich nur Kurzgeschichten und Novelletten verfasst, also habe ich gewissermaßen einfach das geschrieben, womit ich mich auskannte. Ich wollte, dass die Szenen als Schnappschüsse aus dem Leben der Figuren dienen – auch nicht unbedingt, um die Action einzufangen, sondern manchmal um der Folgen der Handlungen willen oder der Reaktion der Figuren darauf. Denn so wie ich mir die Geschichte vorstelle, handelt sie nicht von diesem Schrecken, der die Benannten Lande heimgesucht hat, sondern vielmehr davon, wie das Leben der Menschen von diesen Ereignissen verändert wird und wie sie damit umgehen. Alles andere wirkt auf mich sekundär.

bp: Eines beschäftigt viele Leser: „Xhum Y’Zir“ sticht aus Ihrem Namensgebungsmuster etwas heraus. Wie kam es zu dieser Namensschöpfung? Hatten Sie Mitleid mit den letzten Buchstaben des Alphabets?

KS: Ha! Diese Buchstaben haben mir bestimmt einigen Kummer bereitet, aber das XYZ war ein Zufall. Und die Geschichte seines Namens ist eigentlich recht simpel. Der Ausgangspunkt dieser Reihe war eine Kurzgeschichte namens Of Metal Men and Scarlet Thread and Dancing with the Sunrise, und es war nie geplant, dass es mehr als nur eine einzelne Kurzgeschichte hätte sein sollen, die ich für einen Markt geschrieben habe, der sich Geschichten über mechanische Kuriositäten wünschte. Ich habe nicht viel über die Namen nachgedacht. Aber ich brauchte für den uralten Hexer, den ich erwähnte, einen Namen, der sich von den übrigen Figuren und dem Setting abhob … etwas Exotischeres. Ich denke, ich habe den Namen in der ursprünglichen Geschichte nur ein- oder zweimal benutzt, aber als ich mich hinsetzte, um Sündenfall zu schreiben, habe ich so viel von der Original-Geschichte behalten, wie nur möglich, und habe es nie groß neu überdacht, da ich mir nie ausgemalt hätte, dass sich mein erster Roman wirklich verkaufen und auf der ganzen Welt erscheinen würde. Und ich hätte mir nie ausgemalt, dass der Hexer zu einer ganzen Dynastie von Hexern führen würde, die tausend Jahre in meiner Welt zurückreicht.

bp: Begeben wir uns ins Spekulative: Religionsparallelen, „Zar“, „Papst“, Versatzstücke des Lateinischen – manchmal scheinen die Benannten Lande auf die irdische Geschichte zu verweisen. Lebt Rudolfo in einem post-post-(post-)apokalyptischen Europa, oder sehen Sie die Benannten Lande völlig losgelöst von unserer Welt?

Feldübung bei Grafenwohr, 1988 (kurz nach Ken Scholes' 20. Geburtstag).
Feldübung bei Grafenwöhr, 1988 (kurz nach Ken Scholes' 20. Geburtstag).

KS: Bei dieser Frage bin ich etwas zurückhaltend, denn sie wird nach und nach in der Reihe selbst beantwortet. Aber ich kann sagen, dass ich absichtlich einen Flickenteppich aus Titeln, hierarchischen Systemen und Sprachen benutzt habe, um ein Gefühl der Vertrautheit und ein Gefühl von menschlichen Kulturen zu erzeugen, die sich über große Zeiträume hinweg vermischt haben.

bp: In Ihrem Roman Hohelied bietet der Glaube Heimatlosen eine geistige Zuflucht, nährt Hoffnungen oder zerstört diese. Viele Figuren sprechen von „Liebe“, wenn sie die grässlichsten Dinge im Namen ihres Glaubens tun, und andere erstarken dann, wenn die Situation völlig aussichtslos zu sein scheint. Was, denken Sie, ist der stärkere Handlungsmotor? Glaube oder Zweifel?

KS: Ich denke eigentlich nicht im Rahmen von Handlungsmotoren. Ich versuche stattdessen Menschen so “wahrheitsgemäß” wie möglich einzufangen und unsere Widersprüche und Schwächen zusammen mit unseren Stärken und unserer Größe zu zeigen. Auch heute noch gibt es Leute, die glauben, dass es ein Akt der Liebe und des Gehorsams gegenüber ihrem Gott ist, sich eine Bombe umzuschnallen und sie auf einem belebten Platz detonieren zu lassen … oder ein Akt der Treue und Liebe für ihren Stamm, wenn sie ein Gewehr nehmen und sich daran beteiligen, das Gebiet eines anderen Stammes einzunehmen.
Ich glaube, um die ganze Bandbreite der schönen Hässlichkeit der Menschheit einzufangen, müssen Glaube und Zweifel beide gemeinsam mit Liebe und Hass zum Tragen kommen … und um wirklich zu demonstrieren, wie fähig wir tatsächlich zum Guten und zum Bösen sind, glaube ich, dass wir zeigen müssen, wie leicht wir uns selbst und andere in die Irre führen können, so dass wir erschreckende Verhaltensweisen im Namen irgendeines angenommenen größeren Guten rationalisieren und rechtfertigen.

bp: In Hohelied widersetzt sich nicht nur der Mechoservitor Isaak dem Willen seines Erbauers und seines Freundes Rudolfo (und verletzt damit, nebenbei bemerkt, das zweite Gesetz der Asimov’schen Laws of Robotics!). Träumen Sie von einer Maschine, die träumen kann? Oder erschreckt Sie die Vorstellung einer autarken künstlichen Intelligenz?

KS: Ich würde, glaube ich, sagen, dass ich verhalten träume. Menschen haben Maschinen entworfen, um unser Leben einfacher zu machen, uns an Orte zu bringen, an die wir sonst nicht gelangen könnten, Dinge zu tun, die wir normalerweise nicht tun könnten. Ich frage mich unwillkürlich, was geschehen wird, wenn wir eine Intelligenz schaffen, die sich wirklich über das uns Zugängliche hinaus entwickelt. Wird sie uns dabei helfen, denselben Ort zu erreichen? Wie wird sie uns verändern? Ich spiele gerne “was wäre, wenn?” mit diesen Überlegungen, und manche dieser Überlegungen sind tatsächlich ein Teil dessen, was ich mit den Legenden von Isaak erkunde.

bp: In den Genres Fantasy und SF gibt es kaum Grenzen für die Antwort auf die Frage “was wäre wenn?”, nicht einmal die Gesetze der Physik oder die Regeln der Gesellschaft müssen befolgt werden; der Schriftsteller hat die Freiheit, eine ganze Welt um die Frage “was wäre wenn?” zu entwerfen. Können Sie uns ein paar andere “was wäre wenns?” nennen, die Sie inspiriert haben und die Ihre Kreativität beflügeln?

Ken Scholes zur Preisverleihung des Writers-of-the-Future-Award 2005.
Ken Scholes zur Preisverleihung des Writers-of-the-Future-Award 2005.

KS: Auf jeden Fall! Das ist die Frage, die meine ganzen Texte antreibt. Was wäre, wenn ein Superheld sich zur Ruhe setzt, sein Vermögen verliert und in ein Altersheim gehen müsste? (Action Team-Ups Number Thirty-Seven.) Was wäre, wenn jeder einen persönlichen Gott hätte, der ihm seine Herzenswünsche erfüllt? (That Old Time Religion.) Was wäre, wenn sich zwei sich durch Dungeons wühlende Charaktere aus D&D treffen, sich verlieben und sich entscheiden, aus dem Abenteurerleben auszusteigen, um eine Familie zu gründen? (Last Flight of the Goddess.) Was ist WIRKLICH zwischen Kain und Abel vorgefallen … und wie hat Kain seine Frau gefunden? (East of Eden and Just a Bit South.) Ich könnte ewig weitermachen.

bp: In Ihrer Welt gibt es eine interessante Wissenskultur: aus den Bruchstücken früherer Hochkulturen erfolgt ein Wiederaufbau auf einer weniger weit entwickelten Stufe (wie bei den alten und neuen Mechoservitoren), und 2000 Jahre hat eine starke Instanz das verbliebene Wissen gehütet. Sehen Sie die Gefahr der Degeneration von Wissen als real an oder ist es ein bewusster Gegenentwurf?

KS: Ich halte es für real. Immerhin sind wir immer noch nicht damit fertig, unsere eigene Frühgeschichte zusammenzustückeln. Wir erfahren die ganze Zeit immer mehr darüber. Und in den Legenden von Isaak ist der größere Kern, um den es mir geht, dass es Leute gibt, die das Gefühl haben, es wäre ihre Aufgabe, den Informationsfluss zu kontrollieren, um die Menschheit vor sich selbst zu schützen … dass jedoch die Kontrolle des Informationsflusses und der Wille, diese privilegierten Informationen einzusetzen, um diese Kontrolle zu erhalten (wie es bei den Androfranzinern der Fall ist) einem das Verderben bringen kann.

bp: Weshalb haben Sie sich dafür entschieden, eine kirchlich geprägte Fraktion als optimale Hüter des Wissens zu benutzen (wie auch schon Walter Miller jr. in Lobgesang auf Leibowitz)?

KS: Dies ist vielleicht eine Stelle, an der die Übersetzung der Reihe vom Englischen ins Deutsche ein wenig an meinen Absichten gerüttelt hat. Die Androfranziner sind eigentlich im Kern keine echt kirchliche Fraktion. Oder vielleicht drückte man es besser aus, wenn man sagt, sie benutzen die Symbole der Kirche. Sie sind säkularisierte Humanisten … Wissenschaftler, Archäologen, Ingenieure, Verhaltensforscher … die eine religiöse Hierarchie geschaffen und die Errungenschaften der Menschheit (in Form des Lichtes) “vergöttlicht” haben, um sie zu schützen, indem sie sich ihnen mit einer Art religiöser Ehrfurcht und Eifer nähern. Dies ist ein Teil des rückwärtsgewandten Traums, in dem Petronus immer mehr eine Lüge erkennt, die er nicht mehr unterstützen kann. Mit den Androfranzinern spiele ich sehr stark im Sandkasten der Religion, die absichtlich als Werkzeug eingesetzt wird, um eine Gesellschaft zu formen und Überlebende (und überlebendes Wissen) vor wiederholten Kataklysmen zu schützen. Wohingegen ich mit den Y’Ziriten eine eher am Glauben orientierte religiöse Bewegung einbringe, bei der das Blutlösen und die rituelle Verletzung mit dem Messer im Mittelpunkt ihrer Praktiken stehen. Ich dachte, dass diese beide divergierenden Systeme der Reihe einen wahrheitsgemäßeren Ton verleihen, als es bei den traditionellen, eher mit Schwarz-Weiß-Zeichnung arbeitenden Geschichten der Fall ist, in denen sich Gut und Böse gegenüberstehen. Und es sollte eine gute Bühne für das Drama abgeben, das sich darauf abspielt.

bp: Der Bannspruch wird, trotz größter Bedenken, nicht zerstört, sondern bewahrt. Ist die Zerstörung von Wissen noch frevelhafter als das, was mit diesem Wissen in der Hand der Menschen geschehen könnte?

Ken @ Powell's Books, 2010.
Ken @ Powell's Books, 2010.

KS: Das ist eine tolle Frage, finde ich. Manches Wissen – wie die Sieben Kakophonischen Tode – könnte großen Schaden anrichten, wenn es jenen, die das Wissen bewahren, nicht möglich ist, es sicher zu halten. Und solange es Leute gibt, die nichts zu verlieren haben und willens sind, diese schreckliche Macht zu benutzen … Nun, man kann sehen, worauf es hinausläuft. Das ist eine der Fragen, mit denen ich in der Reihe spiele. Aber jenes Wissen zu zerstören – überhaupt Wissen zu zerstören – öffnet die Tür für Zensur und Kontrolle. Es ist besser, wenn wir in unser Wissen hineinwachsen und lernen, wie wir unseren Hang zur Selbstzerstörung mäßigen, wenn wir es können.

bp: Bewegen wir uns vom Wissen der Menschheit zum Wissen eines Autors: Was hat Sie bewogen, nicht nur den üblichen alten Mentor, sondern eine ganze Menge alter oder älterer Männer als Protagonisten zu wählen? Welche erzählerischen Möglichkeiten haben Sie sich davon versprochen?

KS: Ich habe mir vordergründig gar keine Gedanken darum gemacht. Ich wollte mit einigen vertrauten Fantasy-Elementen beginnen – dem weisen und vergessenen König, dem schneidigen Prinzen, der spionierenden Kurtisane, dem Waisenknaben, dem mechanischen Mann (der Marionette) – und diese Elemente dann ein wenig auf den Kopf stellen, während die Geschichte ihren Lauf nimmt. Ich denke, jüngere Protagonisten sind die Norm, und ich habe versucht, mein Ensemble stärker auszuarbeiten, als es um Gender oder Alter ging, daher haben wir Neb und Winters, die beide in ihren Teenager-Jahren sind, Jin Li Tam in den frühen Dreißigern, Rudolfo in den frühen Vierzigern und dann eine gute Prise von 60- und 70-Jährigen mit Lysias, Grymlis, Charles und Vlad Li Tam.

bp: War es genauso einfach, die weiblichen Figuren auf den Kopf zu stellen, wie bei den männlichen? Und könnten Sie sich vorstellen, die gleiche Wirkung auch mit alten Frauen zu erzielen?

KS: Es war nicht einfach, nein. Die meiste Zeit über hatte ich Angst davor, weibliche Figuren zu schreiben. In meinen gesamten Kurzgeschichten haben Frauen meistens Nebenrollen von unterschiedlicher Stärke und Bedeutung für die eigentliche Geschichte eingenommen, und ich bin fest in der Perspektive meiner männlichen Protagonisten verwurzelt geblieben. In einigen wenigen Geschichten habe ich es riskiert, aus der Perspektive einer Protagonistin zu schreiben, aber ich war dabei meistens nervös. Zum Großteil kam das durch meine Angst, etwas zu falsch zu machen und Leute vor den Kopf zu stoßen. Also bin ich dicht an den Arten von Figuren geblieben, die ich nach meinem Dafürhalten am besten kannte. Selbst in Sündenfall habe ich eigentlich nur aus der Sicht einer einzigen Protagonistin erzählt. In Lobgesang habe ich weitere hinzugefügt. Und es kommt mir so vor, als würde ich dabei sicher Einiges falsch machen, aber eben auch Einiges richtig. Und ich habe festgestellt, dass einige Leute, die unzufrieden damit sind, wie ich eine Figur schreibe – ob sie nun weiblich ist oder nicht -, das auf hilfreiche, konstruktive Weise kundtun, und andere werden einfach wütend. Und sie stimmen nicht einmal alle überein.
Aber um die Antwort kurz zu machen: Ja, ich könnte mir auch vorstellen, die gleiche Wirkung mit alten Frauen zu erzielen. Und ich gehe davon aus, dass ich in zukünftigen Büchern und zukünftigen Serien genau das in Angriff nehmen werde. Irgendwann habe ich vor, eine Trilogie zu schreiben, die auf meiner Kurzgeschichte Invisible Empire of Ascending Light basiert, mit Tana Berrique, einer Protagonistin in ihren 60ern, als Hauptcharakter in der entsprechenden Figurenriege.

bp: Der Themenkomplex “Familie” nimmt in Ihren Romanen eine zentrale Stellung ein. Ist es Ihre persönliche Erfahrung, die Sie dazu bewogen hat, oder finden Sie, dass das Thema in der Phantastik unterbeleuchtet ist? Fallen Ihnen gar literarische oder filmische Vorbilder ein, in denen Sie dieses Thema gerne näher beleuchtet gesehen hätten?

Ken, Jen, Lizzy und Rae, 2010
Ken, Jen, Lizzy und Rae, 2010

KS: Auch hier war es wieder nichts, das ich absichtlich so eingerichtet habe, aber ich glaube, dass es zu dem wahrheitsgemäßen Klang beiträgt, auf den ich mit meinem Schreiben abziele. Als ich den Entwurf von Sündenfall geschrieben habe, habe ich schnell bemerkt, dass die Einführung eines Kindes in Rudolfos und Jin Li Tams Leben ein größeres Ereignis inmitten von allem anderen sein würde, und als sich die Rolle des Kindes in der ganzen Saga ergeben hat, habe ich eine Gelegenheit gesehen, diesen Gedanken noch weiter zu untersuchen. Was, wenn das eigene Kind eine messianische Figur in einem alten Blutkult wäre? Das sah mir nach einem famosen Versuchsaufbau aus. Und dann, darüber hinaus, schien mir auch das tiefere Schürfen in der Familie Tam ein guter Ansatz zu sein, um den Familienbanden nachzugehen, und der Frage, wie diese Bande genutzt werden können, um den eigenen Willen durchzusetzen, wenn man in der eigenen Familie das beste Werkzeug – oder die beste Waffe – sieht, um die Welt zu beherrschen. Liebe und Angst sind große Motivationen für Menschen. Und ich habe schon den Verdacht, dass die Liebe zur Familie in der Belletristik häufig die zweite Geige im Vergleich zur romantischen Liebe spielt.
Ich habe keine richtigen Beispiele, in denen ich das Thema gern besser ausgearbeitet sähe, und was meine eigenen Erfahrungen angeht, so denke ich auf jeden Fall, dass meine eigene Familie – sowohl die problematische, in die ich geboren wurde, als auch die Familie, für die ich mich später entschieden habe – ganz sicher in mein Schreiben hineinspielt. Denn ich neige dazu, mein Schreiben durch meine eigenen Lebenserfahrungen zu nähren … durch die guten, die schlechten und die hässlichen.

bp: Die Buchtitel, die Paul-Simon-Anspielung in Hohelied, die Macht der Musik in einigen Ihrer Kurzgeschichten: Musik zieht sich wie ein Leitmotiv durch Ihr Werk. Welche Rolle spielt Musik in Ihren Büchern? Und sind Sie auch außerhalb der Buchdeckel musikbegeistert?

KS: Zunächst muss ich sagen, dass ich das Wort “leitmotif” liebe! Und ja, ich würde behaupten, dass Musik nicht nur in meinem Schreiben, sondern auch in meinem Leben eine treibende Kraft ist. Ich bin den Großteil meines Lebens lang Musiker und Musikliebhaber gewesen, habe mir in meinen Teenagerjahren das Gitarrespielen beigebracht und bin schon in jungen Jahren an Straßenecken und auf Kirchenbühnen aufgetreten. Ich habe im Zimmer meines älteren Bruders Simon and Garfunkel gehört, noch ehe ich mich erinnern kann, und besonders ihre Lieder – und Paul Simons Solowerke – sind mir stetige Begleiter gewesen. Natürlich liebe ich fast jede Musik – ich denke, Country/Western ist die einzige Stilrichtung, die mir nicht zusagt. Und wenn ich schreibe, brauche ich beinahe immer Kopfhörer und Musik, um meine Worte zu finden.
In der Reihe wollte ich kurze Titel, und ich wollte, dass sie aus der sakralen Musik stammen. Anfangs war es “Lamentation” (Klagelied), “Canticle” (Lobgesang) und “Requiem”, als ich noch dachte, die Legenden von Isaak würden eine Trilogie werden. Aber es gibt eine Zeile am Ende von Sündenfall, da heißt es: “Und Rudolfo sah seine Rolle darin, und er erkannte, wie aus einem Klagelied eine Hymne werden konnte.” Irgendwo im Überarbeitungsprozess des ersten Bandes habe ich erkannt, dass es fünf werden würden, und dass das letzte “Hymne” heißen müsste, basierend auf diesem Ausschnitt. Der letzte Name, der mir einfiel, war “Antiphon” (was ein Gegengesang zum Lobgesang ist) für den dritten Band.
Ich nehme an, die neuen Titel für die deutschen Bücher haben hier ein wenig Chaos gestiftet, weil jedes Buch in sich Anspielungen trägt, die in den Titeln wurzeln, die ich ausgewählt habe, aber ich vertraue darauf, dass das Wesentliche meiner Absichten herausgekommen ist.

bp: Wir haben Angst. Wie traurig wird Requiem?

KS: Ich will nicht lügen: Es wird einigen Anlass zur Traurigkeit geben. Aber denkt einfach daran, dass danach die Hymne kommt. Requiem bringt die Reste des zweiten Aktes unter Dach und Fach und führt uns ordentlich in den abschließenden Akt der Reihe. Daher muss es ein wenig schlimmer werden, ehe es wieder besser werden kann. Aber ich hoffe, meine deutschen Leser werden den Ritt mitmachen und weiterhin Freude an der Geschichte haben, die ich erzähle.

bp: Wir danken Ihnen herzlich für das Gespräch und freuen uns auf all Ihre Hymnen und Klagelieder, und alles, was dazwischen liegt!

For all English-speaking readers of Ken Scholes, we put up the original interview here!

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Mit einer schamlos bei Arte geklauten Aktion unterbrechen wir das laufende Programm und präsentieren euch: einen Kurzfilm.

Genauer gesagt handelt es sich um The Fantastic Flying Books of Mr. Morris Lessmore von William Joyce und Brandon Oldenburg aus dem Jahr 2011, nominiert für den diesjährigen Oscar in der Kategorie “Best Animated Short Film”.

Jedem Bücherfreund müsste bei diesem netten kleinen Filmchen eigentlich das Herz auf gehen. Ganz zu schweigen vom Buster-Keaton-Freund. Und dem Hurricane-Freund. Soll es ja auch geben.
Aber in erster Linie geht es um Bücher. Um die Liebe zu ihnen und auch die Liebe, die sie einem zurück geben, wie sie einem Halt in schweren Zeiten geben, wie sie dem grauen Alltag Farbe verleihen… ach, schaut einfach selbst:

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Mord mit zwei Stück Zucker
Ein (Buch-)Mord: Beweisfoto ITooth hatte anscheinend das Jagdfieber gepackt, vielleicht war es auch ein unbewusstes Überbleibsel des unterdrückten Blutrausches, jedenfalls rief er nach seinem riesenhaften Assistenten mit dem Sonnenschirm, kaum dass ich die Türen geöffnet hatte. Ohne auf diesen zu warten, marschierte er schnurstracks auf den Ausgang der Pathologie zu, sodass ich mir ernsthaft überlegte, ihm eine Leine anzulegen.
Zu dritt traten wir ins Freie – es regnete in Strömen und ich wollte mich unter den barocken Sonnenschirm flüchten. „Bleiben Sie mir bloß vom Leib, Whiskers, der Regen macht es schon schwer genug, da brauche ich nicht auch noch Sie mit Ihrem Whiskey-, Zigarren- und Knoblauchgestank, vor dem sich selbst Untote wieder in die Erde verkriechen würden.“
Ich schlug den Mantelkragen hoch, zog den Hut tiefer ins Gesicht und folgte dem Sonnenschirm zum Tatort, wo nichts mehr davon zeugte, dass wir uns an dem Ort eines Verbrechens befanden. Ich blieb stehen und beobachtete Tooth, wie er die nähere Umgebung lautstark schnüffelnd abging. Während mir der Regen in den Mantelkragen tropfte und eiskalt den Nacken hinunterrann, wartete ich darauf, dass er anschlug, eine Vorstellung, die mich trotz des Wetters grinsen ließ. Tatsächlich stürmte er plötzlich mit einem triumphalen Ausruf eine Gasse entlang, sodass selbst sein Sonnenschirmboy kaum hinterherkam.

Tagebuch einer Mörderin:
Ein konstantes Zwicken erinnerte mich daran, dass ich aufgeschmissen war. Ein winziger Schnitt für mich, eine unfehlbare Spur für die Ermittler. Hochmut kommt vor dem Fall. Ich lachte in meinem stillen Zimmer auf. Ein trockenes, humorloses Lachen.
Der Sekundenzeiger der Uhr tickte stetig vor sich hin, klick-klack, klick-klack. Wie lange würde es noch dauern, bis sie mich gefunden hätten?
Ich hatte darüber nachgedacht zu fliehen. Die Stadt zu verlassen, besser noch das Land. Doch wohin konnte ich schon gehen? Es gab kein Versteck für mich. Die Ermittler hatten einen Vampir in ihren Reihen und mit nur einem einzigen Tropfen Blut von mir … Ein (Buch-)Mord: Beweisfoto Jnun. Jeder wusste, wozu ein Vampir in der Lage war. Er hätte meine Spur bis in den Himalaya verfolgen können.
Als diese Erkenntnis erst einmal den Schock über meine dumme, sehr dumme Unachtsamkeit ersetzt hatte, machte sich schließlich Akzeptanz in mir breit. Ich wartete. Mein Blick huschte immer wieder zum Fenster hinaus auf die Straße, so wie er es schon zum hundertsten Mal in den vergangenen Stunden getan hatte. Und dann, schließlich, nach einer endlos scheinenden Wartezeit, sah ich sie kommen. Eine dreiköpfige Gruppe näherte sich mit schnellen Schritten meinem Wohnhaus. An der Spitze ein blasser Kerl in altmodischem Mantel, der seine Nase mit einem Ausdruck von Jagdfieber in den Augen genüsslich in den Wind reckte, hier und da stockte, nur um dann zielsicher einen abrupten Richtungswechsel zu vollziehen. Dicht bei ihm bewegte sich ein Hüne mit einem absurd lächerlichen Sonnenschirm in der Hand, stets darauf bedacht, keinen noch so flüchtigen Sonnenstrahl in die Nähe seines Meisters kommen zu lassen. Der Anblick des mit Rüschen besetzen Schirms ließ mich erneut auflachen.
Den beiden grotesken Figuren folgte eine weitere Gestalt dichtauf. Ein langer, abgetragener Mantel flatterte bei jedem Schritt um seinen hageren Körper. Den Hut hatte er tief ins Gesicht gezogen, so erkannte ich nur ein Paar grimmiger
Mundwinkel, aus denen eine leicht abgeknickte Zigarette heraushing.
In wenigen Sekunden würden sie die Tür erreicht haben. Ich ließ meinen Blick zu dem gerahmten Cover meines Opfers wandern. Es wäre alles anders gekommen, wenn ich diesem Buch bloß nie begegnet wäre.
Ich hörte gedämpfte Stimmen vor der Tür und ein nervöses Schnüffeln. Es war soweit, ich war bereit.

***

Wir waren vor einer unauffälligen Wohnungstür in einem biederen Wohnhaus angekommen – die schmucke Fassade, hinter der sich nur allzu oft die Fratze des Verbrechens verbarg. Angewidert blickte ich auf die Fußmatte, die uns mit einem freundlichen “Willkommen” grüßte. Mit einem beherzten Schritt trat ich darauf, hinterließ Schmutz- sowie Wasserflecken und hob die Hand, um an die Tür zu klopfen. “Wollen Sie nicht ihre Waffe ziehen, Whiskers?”, flüsterte Tooth direkt hinter mir, ich ignorierte ihn – diese Art von Verbrecher steht nicht mit gezückter Pistole hinter der Tür, sie sind viel gefährlicher – und klopfte. Ein kühl-gefasstes “Herein” war durch das Holz der Tür zu hören und wir traten ein. Mein Blick fiel sofort auf die junge, zierliche Frau mit der Tasse Tee neben sich und danach auf den Bucheinband an der Wand hinter ihr, auf dem in weißen Lettern “Jonathan Strange & Mr. Norell” stand. “Es auch noch wie eine Jagdtrophäe aufzuhängen!”
»Was sonst sollte ich damit tun? Das Cover war das einzig gute, was dieses Buch hervorgebracht hat.«
Ich starrte sie an, kaltblütig musterte sie mich. Frauen wie sie kannte ich inzwischen zur Genüge. Früher (vor langer, langer Zeit) hatten sie einmal eine Anziehungskraft auf mich ausgeübt, aber auch diese Lektion hatte ich gelernt. Ich hatte weder das Bedürfnis, noch die Kraft, herauszufinden, ob auch sie – wie so viele Frauen in meinem Leben – mit einem Widerhaken versehen war …Ein (Buch-)Mord: Beweisfoto K
Ein Schluck Whiskey half, mich wieder auf den Fall zu konzentrieren und mich von ihrem Blick zu lösen. Tooth war inzwischen vorgetreten und hatte ihr die Handschellen angelegt.
»Sie bereuen ihre Tat also nicht.«
»Das tue ich nicht. Dieses Buch hat mich leiden lassen. Auge um Auge, Seite um Seite – wenn sie verstehen, was ich meine.«
»Ich kenne das Sprichwort, aber nein, ich verstehe Sie nicht!« Sie lächelte hochmütig und sah mich mit einem Anflug von Bedauern an, ehe sie erneut antwortete.
»In jedem von uns steckt ein Buchmörder, Detective. Der Unterschied zwischen Ihnen und mir ist simpel: nicht jeder begegnet im Leben seiner Nemesis und sieht sich vor den Kampf mit seiner dunklen Seite gestellt. Sie hatten Glück. Bisher. Vielleicht werden Sie stärker sein, als ich es war, wenn es soweit ist. Vielleicht werden Sie aber auch selbst zum Gesetzlosen, mit der richtigen Motivation.«

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 “Es war der 18. Jänner 2011, an dem eine neues Zeitalter anbrach: das Zeitalter der Bücher. Eine kleine Gruppe von Abenteurern verkündeten die langersehnte Botschaft, und der Wortlaut ging in die Geschichte ein: “Herzlich Willkommen in der neuen Bibliotheka Phantastika!”

So oder ähnlich episch fühlte es sich an, das erste Mal in der neugewandeten Bibliotheka Phantastika auf das “Publish”-Knöpfchen zu drücken. Seitdem wurden Bücher gewälzt, Cover begutachtet, Diskussionen geführt und Kettenbikinis ausgewertet. Begleitet haben uns dabei nicht nur die ewigtreuen Gestalten in Kapuzenmänteln, die im Boden feststeckenden, scharfen Gegenstände und das Waisenkind mit dem Muttermal in Form einer Krone, sondern vor allem ihr: die Leser und Leserinnen! Wir möchten den Anlass nutzen, um uns bei euch für euer Interesse, eure Kommentare und eure Diskussionsbeiträge zu bedanken! Und wenn wir gerade alle hier versammelt sind, möchten wir die virtuellen Umfragebögen austeilen und von euch wissen: was hat euch gefallen, was hat euch gestört? Welche Bücher haben aufgrund einer BP’schen Rezension den Weg in euer Regal gefunden (oder dieses wieder verlassen)? Welche Blogkategorien waren eure Favouriten des Jahres 2011? Wir sind dankbar für jede Rückmeldung, Anmerkung und Kritik, denn die schönste Belohnung für unsere Schreibabenteuer ist Feedback am Ende des lettergepflasterten Weges.

Besonders gefreut hat uns deshalb eine Glückwunschkarte, die den BP-Briefkasten heute Morgen erreichte, geliefert von einem Postboten in Kultistengewandung. Leider stand kein vollständiger Absender auf der Karte – nur ein rätselhaftes “Von Herr C. aus R.” –, aber wir freuen uns natürlich über jede Empfehlung:

Da ist die Motivation natürlich groß, und auch im zweiten BP-Jahr haben wir uns allerhand vorgenommen! Wir werden für euch die Bleistifte und die Ohren spitzen, die bekannten Blogkategorien befüllen und neue Wege beschreiten. Und der erste Höhepunkt des Jahres folgt schon bald: wir haben für euch Kontakt mit einem gewissen US-amerikanischen Schriftsteller aufgenommen, der uns einiges über sich und seine Arbeit verraten hat. Man darf gespannt sein!

Übrigens: wir suchen noch immer neue Leseratten und Schreibwütige, die für die Bibliotheka Phantastika Rezensionen schreiben möchten! Wir bieten euch eine vielgelesene Plattform und ein engagiertes Team und sind gespannt auf eure Beiträge!

Und nun möchten wir mit euch anstoßen – die Pangalaktischen Donnergurgler stehen bereit!

Euer BP-Team

 

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