Tag: Fortsetzungsgeschichte

Mord mit zwei Stück Zucker
Ein (Buch-)Mord: Beweisfoto ITooth hatte anscheinend das Jagdfieber gepackt, vielleicht war es auch ein unbewusstes Überbleibsel des unterdrückten Blutrausches, jedenfalls rief er nach seinem riesenhaften Assistenten mit dem Sonnenschirm, kaum dass ich die Türen geöffnet hatte. Ohne auf diesen zu warten, marschierte er schnurstracks auf den Ausgang der Pathologie zu, sodass ich mir ernsthaft überlegte, ihm eine Leine anzulegen.
Zu dritt traten wir ins Freie – es regnete in Strömen und ich wollte mich unter den barocken Sonnenschirm flüchten. „Bleiben Sie mir bloß vom Leib, Whiskers, der Regen macht es schon schwer genug, da brauche ich nicht auch noch Sie mit Ihrem Whiskey-, Zigarren- und Knoblauchgestank, vor dem sich selbst Untote wieder in die Erde verkriechen würden.“
Ich schlug den Mantelkragen hoch, zog den Hut tiefer ins Gesicht und folgte dem Sonnenschirm zum Tatort, wo nichts mehr davon zeugte, dass wir uns an dem Ort eines Verbrechens befanden. Ich blieb stehen und beobachtete Tooth, wie er die nähere Umgebung lautstark schnüffelnd abging. Während mir der Regen in den Mantelkragen tropfte und eiskalt den Nacken hinunterrann, wartete ich darauf, dass er anschlug, eine Vorstellung, die mich trotz des Wetters grinsen ließ. Tatsächlich stürmte er plötzlich mit einem triumphalen Ausruf eine Gasse entlang, sodass selbst sein Sonnenschirmboy kaum hinterherkam.

Tagebuch einer Mörderin:
Ein konstantes Zwicken erinnerte mich daran, dass ich aufgeschmissen war. Ein winziger Schnitt für mich, eine unfehlbare Spur für die Ermittler. Hochmut kommt vor dem Fall. Ich lachte in meinem stillen Zimmer auf. Ein trockenes, humorloses Lachen.
Der Sekundenzeiger der Uhr tickte stetig vor sich hin, klick-klack, klick-klack. Wie lange würde es noch dauern, bis sie mich gefunden hätten?
Ich hatte darüber nachgedacht zu fliehen. Die Stadt zu verlassen, besser noch das Land. Doch wohin konnte ich schon gehen? Es gab kein Versteck für mich. Die Ermittler hatten einen Vampir in ihren Reihen und mit nur einem einzigen Tropfen Blut von mir … Ein (Buch-)Mord: Beweisfoto Jnun. Jeder wusste, wozu ein Vampir in der Lage war. Er hätte meine Spur bis in den Himalaya verfolgen können.
Als diese Erkenntnis erst einmal den Schock über meine dumme, sehr dumme Unachtsamkeit ersetzt hatte, machte sich schließlich Akzeptanz in mir breit. Ich wartete. Mein Blick huschte immer wieder zum Fenster hinaus auf die Straße, so wie er es schon zum hundertsten Mal in den vergangenen Stunden getan hatte. Und dann, schließlich, nach einer endlos scheinenden Wartezeit, sah ich sie kommen. Eine dreiköpfige Gruppe näherte sich mit schnellen Schritten meinem Wohnhaus. An der Spitze ein blasser Kerl in altmodischem Mantel, der seine Nase mit einem Ausdruck von Jagdfieber in den Augen genüsslich in den Wind reckte, hier und da stockte, nur um dann zielsicher einen abrupten Richtungswechsel zu vollziehen. Dicht bei ihm bewegte sich ein Hüne mit einem absurd lächerlichen Sonnenschirm in der Hand, stets darauf bedacht, keinen noch so flüchtigen Sonnenstrahl in die Nähe seines Meisters kommen zu lassen. Der Anblick des mit Rüschen besetzen Schirms ließ mich erneut auflachen.
Den beiden grotesken Figuren folgte eine weitere Gestalt dichtauf. Ein langer, abgetragener Mantel flatterte bei jedem Schritt um seinen hageren Körper. Den Hut hatte er tief ins Gesicht gezogen, so erkannte ich nur ein Paar grimmiger
Mundwinkel, aus denen eine leicht abgeknickte Zigarette heraushing.
In wenigen Sekunden würden sie die Tür erreicht haben. Ich ließ meinen Blick zu dem gerahmten Cover meines Opfers wandern. Es wäre alles anders gekommen, wenn ich diesem Buch bloß nie begegnet wäre.
Ich hörte gedämpfte Stimmen vor der Tür und ein nervöses Schnüffeln. Es war soweit, ich war bereit.

***

Wir waren vor einer unauffälligen Wohnungstür in einem biederen Wohnhaus angekommen – die schmucke Fassade, hinter der sich nur allzu oft die Fratze des Verbrechens verbarg. Angewidert blickte ich auf die Fußmatte, die uns mit einem freundlichen “Willkommen” grüßte. Mit einem beherzten Schritt trat ich darauf, hinterließ Schmutz- sowie Wasserflecken und hob die Hand, um an die Tür zu klopfen. “Wollen Sie nicht ihre Waffe ziehen, Whiskers?”, flüsterte Tooth direkt hinter mir, ich ignorierte ihn – diese Art von Verbrecher steht nicht mit gezückter Pistole hinter der Tür, sie sind viel gefährlicher – und klopfte. Ein kühl-gefasstes “Herein” war durch das Holz der Tür zu hören und wir traten ein. Mein Blick fiel sofort auf die junge, zierliche Frau mit der Tasse Tee neben sich und danach auf den Bucheinband an der Wand hinter ihr, auf dem in weißen Lettern “Jonathan Strange & Mr. Norell” stand. “Es auch noch wie eine Jagdtrophäe aufzuhängen!”
»Was sonst sollte ich damit tun? Das Cover war das einzig gute, was dieses Buch hervorgebracht hat.«
Ich starrte sie an, kaltblütig musterte sie mich. Frauen wie sie kannte ich inzwischen zur Genüge. Früher (vor langer, langer Zeit) hatten sie einmal eine Anziehungskraft auf mich ausgeübt, aber auch diese Lektion hatte ich gelernt. Ich hatte weder das Bedürfnis, noch die Kraft, herauszufinden, ob auch sie – wie so viele Frauen in meinem Leben – mit einem Widerhaken versehen war …Ein (Buch-)Mord: Beweisfoto K
Ein Schluck Whiskey half, mich wieder auf den Fall zu konzentrieren und mich von ihrem Blick zu lösen. Tooth war inzwischen vorgetreten und hatte ihr die Handschellen angelegt.
»Sie bereuen ihre Tat also nicht.«
»Das tue ich nicht. Dieses Buch hat mich leiden lassen. Auge um Auge, Seite um Seite – wenn sie verstehen, was ich meine.«
»Ich kenne das Sprichwort, aber nein, ich verstehe Sie nicht!« Sie lächelte hochmütig und sah mich mit einem Anflug von Bedauern an, ehe sie erneut antwortete.
»In jedem von uns steckt ein Buchmörder, Detective. Der Unterschied zwischen Ihnen und mir ist simpel: nicht jeder begegnet im Leben seiner Nemesis und sieht sich vor den Kampf mit seiner dunklen Seite gestellt. Sie hatten Glück. Bisher. Vielleicht werden Sie stärker sein, als ich es war, wenn es soweit ist. Vielleicht werden Sie aber auch selbst zum Gesetzlosen, mit der richtigen Motivation.«

Zettelkasten

Blut schmeckt besser als Wasser
Ein (Buch-)Mord: Beweisfoto FDie letzten Tage war ich in einen neuen Kreis meiner ganz persönlichen Hölle hinabgestiegen. Die Öffentlichkeit hatte nach der Lösung des Falls geschrien, hatte ihre eigenen Theorien über Opfer und Mörder in die Welt hinausposaunt, während mir im Revier Commissioner Fell täglich im Nacken saß und Ergebnisse verlangte. Viel schlimmer war jedoch mein eigener Jagdtrieb gewesen, bis spät nachts brütete ich über den Akten und jeder noch so winzigen Spur, bis ich selbst in meinen Alpträumen hinter dem Mörder herjagte. Alles erfolglos, bis eines Morgens Tooth in mein Büro stürmte (normalerweise ein schlechtes Omen und ein Grund sich einen Doppelten einzuschenken) und zwar noch fröhlicher als sonst (ein Grund den Doppelten ja schnell zu trinken). „Whiskers, Sie werden nicht glauben, was ich gerade entdeckt habe!“ Dass er seinen üblichen Seitenhieb vergaß, bedeutete, dass es wirklich wichtig war – schlagartig war ich nüchtern. „Wir konnten die Identität des Opfers feststellen. Einige Hinweise aus der Öffentlichkeit haben sich bestätigt, es handelt sich um Jonathan Strange & Mr. Norrell, ein unschuldiges englisches Taschenbuch. Aber ich habe noch etwas besseres!” Zweifelnd zog ich die Augenbraue hoch. “Das Opfer hat sich gewehrt! Ich habe an einer Seitenkante Blut gefunden, das kann nur das Blut des Täters sein!“ Ich sprang auf, der Stuhl kippte nach hinten: „Was hat die Analyse ergeben?“ „Der Täter ist weiblich, die Blutgruppe hilft uns allerdings nicht weiter, die Frau ist nicht in unseren Akten, aber ich habe einen Plan!“ Sein diabolisch-entzücktes Grinsen jagte mir einen Schauer über den Rücken. „Ich werde das Blut untersuchen, mit meinen Vampirsinnen kann ich sicher mehr herausfinden.“ Ich verschluckte mich am Whiskey, den ich gegen die Gänsehaut getrunken hatte. „Sind Sie wahnsinnig, Tooth?! Wissen Sie noch was das letzte Mal passiert ist? Wir mussten Sie in der Pathologie einsperren, Blutkonserven einkaufen und Knoblauchkränze tragen, nur damit Sie nicht über uns herfallen! Ich riskiere keinen Blutrausch mehr, Sie Irrer!“

Aber natürlich riskierte ich es schließlich doch, ich musste den Mörder … die Mörderin fangen! Mürrisch betrachtete ich den Knoblauchkranz um meinen Hals, dessen Gestank selbst den Whiskeygeschmack und den Zigarrengeruch verdrängte – ich hasste das Ding. Das nächste Mal würde ich mich lieber beißen lassen, beschloss ich. Hinter den verschlossenen Türen der Pathologie, durch deren runde Fenster ich starrte, beugte sich Tooth zu dem aufgeschlagenen Opfer hinab, zwinkerte mir noch einmal vergnügt zu und fing an, die Seite zu beschnüffeln. Seine Nasenflügel blähten sich und hinter Ein (Buch-)Mord: Beweisfoto Gseiner Oberlippe schoben sich die gewachsenen Eckzähne hervor. Ich nahm einen Schluck aus meinem Flachmann und schmeckte … Knoblauch. Angewidert schleuderte ich den Kranz in eine Ecke. Tooth hatte sich inzwischen vor das Opfer gekniet und befühlte die Seite mit der Zunge. Plötzlich sprang er hoch, drehte sich zur Tür und stand auf der anderen Seite des Fensters – er hatte sich schneller bewegt, als das menschliche Auge wahrnehmen konnte – und starrte mir mit weit aufgerissenen Augen entgegen, die Zähne gebleckt. Nun trauerte ich dem Kranz doch nach, aber bevor ich mich suchend umblicken konnte, sprach Tooth: „Die Mörderin ist Ende Zwanzig oder Anfang Dreißig, ein guter Jahrgang.“ Seine Augen leuchteten kurz auf. „Außerdem schmecke ich eine deutliche Note von vigna fugiens, Fluchtbohne, ein äußerst exotisches Gewächs. Wir müssen zurück zum Tatort, wenn der Geruch dieser speziellen Blutnote dort noch stark genug ist, können wir die Täterin vielleicht aufspüren.“, er blähte die Nasenflügel wie ein Bluthund kurz vor der Jagd. Verdutzt starrte ich ihn an, trotz seines wahnhaften Äußeren wirkte seine Stimme vollkommen rational. „Ich habe nach dem letzten Mal mit Yoga angefangen“, kam er meiner Frage zuvor. „Sollten Sie auch mal versuchen, ist gesünder als Whiskey!“ Die Stichelei überzeugte mich endgültig davon, dass er sich unter Kontrolle hatte. „Werde ich dann auch so ekelhaft fröhlich wie Sie?“, konterte ich und entriegelte die Türen. „Kommen Sie, Tooth, suchen wir nach dieser … Fluchtbohne.“

Tagebuch einer Mörderin:
Nun, da die einzelnen Kapitel seziert und und in all ihrer massakrierten Pracht vor mir lagen, überkam mich eine seltene und tief empfundene Ruhe. Ich hatte das Buch in seine einzelnen Kapitel zerlegt und mich jedem ganz individuell gewidmet. 69 Kapitel, 69 Foltermethoden. Es war ein herrlicher Spaß gewesen. Mit einer frischen Tasse Tee neben mir, die ich auf einer Seite des Buches abstellte und perfekte Teekränze darauf hinterließ, begann ich die Reihe der Ein (Buch-)Mord: Beweisfoto HKapitel wieder zu einem buchähnlichen Gebilde zusammen zu setzen. Sie hatten keine Nummern mehr, ich hatte ihnen Titel gegeben. So folgte Kapitel Marmelade auf Kapitel Fetzen, Kapitel Konfetti auf Kapitel Waschmaschinenschnipsel und so fort. Es war schwer, noch etwas von dem ursprünglichen Buch auszumachen. Ich liebte seinen neuen Zustand.
Schließlich nähte ich Kapitel um Kapitel mit unordentlichen Stichen am Rücken zusammen, achtete nicht auf einen glatten Anschnitt oder die einst korrekte Reihenfolge. Als ich das entstellte Buch dann in all seiner Hässlichkeit vor mir liegen sah, wusste ich, es war Zeit, Abschied zu nehmen. Ein Lächeln umspielte meine Lippen, ich konnte die Zufriedenheit bis in die Zehen spüren. Ich nahm das Nie-wieder-Buch in die Hände und warf es in eine Plastiktüte, zog die Gummihandschuhe aus, die ich zum Schutz vor Fingerabdrücken trug, und warf sie auf den Tisch, nahm die Tüte und verließ mit ihr die Wohnung. Im Hausflur traf ich eine Nachbarin, sie grüßte mich höflich, unschuldig grüßte ich zurück und begab mich zum Ausgang. Niemand ahnte etwas von dem traurigen Opfer, das ich bei mir trug.
Es hatte drei Tage lang ununterbrochen geregnet und in den Straßen hatten sich überall Pfützen gebildet. Welch wundervolle Fügung. Noch eine allerletzte Qual bot sich mir an, als ich nach einem ausgiebigen Fußmarsch in einen fremden Stadtteil einbog und eine kleine dunkle Gasse betrat. Hinter einem Müllcontainer hatte sich eine besonders große, dreckige und schleimige Pfütze gebildet, die zusätzlich nach Abfallsäften stank. Ich warf einen verstohlenen Blick in beide Richtungen der Gasse. Niemand zu sehen. In einem finalen Akt schüttelte ich das Nie-wieder-Buch aus der Tüte direkt in die Wasserlache hinein. Es platschte wie ein Stein zu Boden und blieb reglos in der Pfütze liegen. Das Wasser verschlang es zur Hälfte.
Ich warf einen letzten Blick darauf, prägte mir das einzigartige Bild genauestens ein und verließ glücklich die jämmerliche Ruhestätte.

Als ich wieder Zuhause war, beseitigte ich die letzten Spuren des Nie-wieder-Buchs, als ich es entdeckte: Ein Schnitt im Zeigefinger. Hektisch rannte ich zu meinen Gummihandschuhen, die noch immer auf dem Tisch lagen, und überprüfte sie. Meine schlimmsten Befürchtungen wurden wahr. Auch hier ein Schnitt im Zeigefinger und daran winzige Spuren meines Blutes. Das Biest hatte sich gewehrt …

Scriptorium

Asche zu Asche, Buch zu Buch:
Ein (Buch-)Mord: AktenfotoIch stand vor der Flügeltür zur Pathologie. Der Geruch nach Formaldehyd und Desinfektionsmitteln brannte in meiner Nase. Eine olfaktorische Mischung, die ich inzwischen instinktiv mit dem Tod verband und bei der sich mir die Nackenhaare sträubten. Hinter der Türe, wo der Geruch in all seiner Stärke wie ein eiserner Schlag ins Gesicht auf mich wartete, lagen die ausgefliesten Gänge und ihr allgegenwärtiges kaltes Neonlicht, die mich zur sterilen und vorzeitigen Ruhestätte entstellter Leichen führten.
Ich drückte meine Zigarre sorgfältig an der Wand aus und steckte den Stummel in meine Manteltasche. Ein schwarzer Fleck blieb am Verputz zurück – einer von vielen, eine düstere Statistik meiner Besuche im Reich der Toten und zugleich eine Metapher für diese verkommene Stadt: kaum noch zu erkennendes Weiß. Unweigerlich wurde mir klar, dass sich das Sinnbild meines Lebens in den Taschen meines Mantels verbarg: Flachmann und Zigarrenstummel – Rausch und Rauch …
Seufzend betrat ich Tooth‘ kaltes Reich durch die quietschende Flügeltür – war unter den Toten der Untote König? Als ich den unerbittlich ausgeleuchteten Gang entlangschritt, wies mir sein fröhliches Pfeifen den Weg – wie er so fröhlich sein konnte, war mir ein Rätsel, aber für Rätsel hatte ich schließlich etwas übrig – und ich betrat den kahlen Sezierraum aus Stahl und Fliesen. „Tooth“, war meine spartanische Begrüßung. Meine Stimme klang kratziger als üblich. Die Folge einer von Alpträumen geplagten Nacht, die mit Schweiß und Schreien in der Dunkelheit geendet hatte. Das ausgiebige Whiskeyfrühstück danach hatte meine Stimmbänder sicher auch nicht geschont. „Ah, Whiskers, ein bezaubernder Anblick wie immer. Das Ergebnis der Obduktion ist …“, er sah kurz an mir herab, “… Leberzirrhose.” “Wenn ich sterbe, dann entweder an dem verdammten Gestank oder Ihrem elenden Humor – der Whiskey hilft gegen beides!” Unwillig deutete ich auf das Opfer und beendete damit das Begrüßungsritual. Die Ein (Buch-)Mord: Beweisfoto CUntersuchung hatte sichtlich ihre Spuren hinterlassen und der Anblick war dadurch gewiss nicht schöner geworden. „Die Identität konnten wir noch nicht mit abschließender Sicherheit feststellen, aber es kann nicht mehr lange dauern. Dafür habe ich eine Bestandsaufnahme der Brutalitäten gemacht und konnte die Reihenfolge bestimmen. Wollen Sie es hören?“ Natürlich wollte ich es nicht hören, aber wir wussten beide, dass es eine rhetorische Frage gewesen war, nur dazu da, Zeit zu schinden. Das Opfer wurde noch einmal – völlig zweckentfremdet – durchgeblättert. Grausame Details entfalteten sich vor meinen Augen wie eine obszöne Landkarte des Verbrechens. Es verging eine halbe Ewigkeit, bis Tooth seufzend zum Ende kam, sich den Schweiß von der Stirn wischte und verdutzt auf die glosende Zigarre in meinem Mundwinkel starrte – er hatte nicht einmal bemerkt, dass ich sie mir während des Vortrags angezündet hatte.

Tagebuch einer Mörderin:

Ein (Buch-)Mord: Beweisfoto DEs waren Tage vergangen seit meiner letzten Begegnung mit der dunklen, mörderischen Seite in mir. Noch immer lag dieses verabscheuungswürdige “Meisterwerk” der phantastischen Literatur draußen auf dem Gartentisch und trotzte Wind, Regen und Sonneneinfall. Jeden Morgen hatte ich in den vergangenen Tagen mit meiner Teetasse vor den verschlossenen Glastüren gestanden und hinaus gestarrt. Ich wollte es zermalmen, es in Stücke reißen, es durch einen Reißwolf drehen … ich musste mich beruhigen. Selbstbeherrschung war gefragt. Ich musste mit Bedacht an die Sache herangehen. Mein erster impulsiver Übergriff, das war mir inzwischen bewusst geworden, war gefährlich gewesen. Um Haaresbreite hätte ich das Buch schon zu Beginn zu Tode ertränkt. Einige Sekunden länger unter Wasser, und es wäre womöglich zu nichts mehr zu gebrauchen gewesen. Ja, ich hatte diese Tage vorbeistreichen lassen müssen, um die Kontrolle über meine rachsüchtigen und ungezähmten Gelüste festigen zu können. Das Buch durfte keinen schnellen und einfachen Tod finden, was ich brauchte, war ein Plan. Eine Liste!
Einen ganzen Tag lang sammelte ich Ideen, eine führte zur anderen, jede grausamer und effektiver als die vorherige. Bald schon begann ich manche Einfälle zu verwerfen, nur die besten sollten auf die Liste. Ein Glück, dass dieses falsche Meisterwerk von Buch so viele Seiten bot. Mehr Seiten, mehr Material, mehr Möglichkeiten, es ihm heimzuzahlen … Dann, als meine Liste fertig war und meine Hände voller Vorfreude zu zittern begannen, war es soweit. Ich warf einen letzten Blick aus dem Fenster.
Gleich, mein Liebes, gleich.
Ein (Buch-)Mord: Beweisfoto EIch legte meine Werkzeuge bereit: Klebstoff, Skalpell, Streichhölzer und Kerzen, einen Tacker, einen Locher … der böse kleine Schatz würde nicht einfach nur brennen, nicht einfach nur reißen, er würde von allem ein bisschen ertragen. Eine eigene, individuelle Qual für jedes Kapitel. Mein Opfer hatte bezaubernd viele Kapitel. Kapitel, die einst mich gequält hatten mit ihren endlosen Schilderungen vermeintlich magischer Orte, so gar nicht spannender Kämpfe und ach so schöner Geschöpfe! Rage hämmerte bei der Erinnerung daran gegen die sorgfältig aufgebauten Mauern meiner Selbstbeherrschung.

Es war soweit.
Mit stoischer Ruhe öffnete ich eine der Türen und trat an das Buch heran. Begeistert erkannte ich als erstes, dass sich inzwischen ein Vogel darauf erleichtert hatte. Das Buch flatterte mit seinen nunmehr gewellten Seiten im lauen Wind, als hoffte es darauf, erlöst zu werden. Wie hilflos es dabei knisterte. So ausgeliefert. So entzückend verwundbar!
Ich nahm das Buch, dessen Buchdeckel nunmehr wie eine Trophäe an meiner Wand hing, in die Hände – Zeit für den zweiten Akt.

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Die Ermittler bitten um Unterstützung bei der Identifizierung
des unbekannten Buchopfers:

Zeugen, die sachdienliche Hinweise zu der Identität des Buchs liefern können, haben die Chance eine kleine Belohnung zu gewinnen.
Hinweise können in Form eines Kommentars unter dem Text eingereicht werden.

Scriptorium

Das Buch in der Pfütze:
Ein (Buch-) Mord, Tatortfoto 1Es war ein nasser Oktobermorgen und nicht einmal das Glas Whiskey zum Frühstück hatte die Kälte aus meinen Gliedern vertreiben können. Den Hut tief ins Gesicht gezogen und den Mantelkragen hochgeschlagen, trat ich an den Ort des Verbrechens. Die Polizeilichter flackerten stumm und warfen finstere Schemen an die spärlich beleuchteten Wände der schäbigen Seitenstraße, während die gelben Absperrbänder im Wind flatterten. Der junge Whitefeed kam mir entgegen, der Anblick hatte das Bürschchen sichtlich getroffen, wäre es nicht so ein grauenhafter Morgen gewesen, hätte ich vielleicht sogar Mitleid mit ihm gehabt, so aber drückte ich ihm einfach meinen Flachmann in die Hand, bevor er etwas stammeln konnte, und schob ihn gleichzeitig zur Seite, um mir selbst ein Bild zu machen. Ich wappnete mich gegen das bevorstehende Grauen und steuerte auf den ausdruckslosen Hünen mit seinem riesigen schwarzen Sonnenschirm zu. Nicht nur, dass dieser mit all den schwarzen und roten Rosen und Rüschen daran in den Pranken des Mannes lächerlich wirkte, mir war auch immer noch nicht klar, was der Firlefanz zum Schutz vor der Sonne beitragen sollte. Zwar war das Tageslicht bisher nur spärlich und von regenschweren Wolken verdeckt, jedoch durfte der untote Gerichtsmediziner unter dem Sonnenschirm niemals das Risiko eingehen, von einem Sonnenstrahl getroffen zu werden. Seufzend warf ich einen sehnsüchtigen Blick zu Whitefeed oder besser gesagt zu meinem Flachmann, den er gebannt in Händen hielt, bevor ich in den Schatten des Schirms trat.

Ich hatte ja schon vieles gesehen, der Abschaum dieser Stadt hatte vor meinen Augen seine ruchlosen Galavorstellungen gegeben, aber als mir das unschuldige Mordopfer entgegenstarrte, bereute ich zutiefst, den Flachmann aus der Hand gegeben zu haben …
Das Buch lag inmitten einer schlammigen Pfütze, selbst ein Blinder hätte erkannt, mit welch sadistischem Vergnügen der Mörder es so zugerichtet hatte. Die Leidenschaft des Täters war mehr als offensichtlich. Gerichtsmediziner István Nagy, genannt Tooth, blickte auf, „Sie sehen ja fast noch schlimmer aus als das Opfer, Whiskers, Sie …“ „Haben Sie schon die Identität des Opfers feststellen können, Tooth?“, fiel ich ihm ins Wort – mir fehlte ungefähr eine halbe Flasche Whiskey, um für seine Sticheleien in Stimmung zu sein.
Ein (Buch-)Mord: Beweisfoto ASein Grinsen verschwand und die langen Eckzähne waren wieder hinter den Lippen verborgen. „Es gibt keine äußeren Identifikationsmöglichkeiten mehr. Der Umschlag wurde in einem Akt roher Gewalt herunter gerissen, der Schmutztitel könnte sich irgendwo in diesem… Brei befinden. Das lässt sich hier noch nicht sagen. Das Opfer war offensichtlich englisch-sprachiger Herkunft und gehörte zum Fantasy-Genre, soweit es sich an einzelnen Worten erkennen lässt. Wir müssen es näher untersuchen, um den Titel zu ermitteln. Hoffen wir, dass genug von dem Buch übrig ist, um ihm wenigstens einen Grabstein mit seinem echten Namen verschaffen zu können.“
Der Arzt erhob sich und winkte zwei seiner Mitarbeiter heran. Sie kamen mit finsteren Mienen und einer kleinen grauen Kiste auf ihn zu, setzen sie ab, hoben das Opfer vorsichtig aus der Pfütze in die Kiste hinein und verschlossen es darin.
„Wir werden es jetzt in die Gerichtsmedizin bringen und intensiv untersuchen.“ Während er mit seinen Assistenten vom Tatort verschwand, starrte ich finster in die brackige Pfütze, in der das Opfer gelegen hatte …

Tagebuch einer Mörderin:
Kürzlich stieß ich auf den Blogbeitrag der hinreißenden Madame Books. Todesmutig, sozusagen, misshandelte sie das Buch mit dem aussagekräftigen Titel Mach dieses Buch fertig! so wie es ihr das Buch vorgab. Es weckte etwas in mir, eine verborgene Lust darauf, es ihr gleich zu tun. Nur einen Tag zuvor hatte ich zufällig ein ähnliches Stück, das Kein Buch, aus der Buchhandlung geholt, unsicher, ob ich es würde verwenden können. Voller Vorfreude aber griff ich mir nun mein Kein Buch und begann Löcher hinein zu brennen, den Buchrücken zu zerknicken, freizügig Eselsohren zu verteilen und vieles mehr. Kurzum: ich tat dem Buch alles an, was ich mich nie getraut hatte auch nur über ein Buch zu denken. Zu meiner maßlosen Enttäuschung aber musste ich feststellen, dass ich weder Hemmungen hatte das Buch zu verunstalten, noch Genugtuung dabei empfand. Ich raufte mir frustriert die Haare. Was war das Problem?

Ich misshandelte ein Buch! Wie konnte mir das als Buchliebhaberin so entsetzlich egal sein? Nach kurzer Überlegung drängte sich die Antwort jedoch geradezu auf. Das
Kein Buch war kein Buch … Es war dazu erschaffen worden ein Opfer zu sein, dazu geboren voll geschmiert, zerrissen und verbrannt zu werden. Es war seine Bestimmung, sein Schicksal, es erfreute sich mit masochistischer Wonne daran misshandelt zu werden und verhöhnte mich.

Ich entschied mich einen Schritt weiter zu gehen, das Kein Buch links liegen zu lassen und nur noch als Ratgeber zu betrachten. Um jedoch realistische Bedingungen zu schaffen, musste ein echtes Opfer her, ein Buch das auch dazu gedacht war gelesen zu werden. So stand ich kurz darauf vor meinem Regalbrett verstoßener Bücher, die mich allesamt irgendwie enttäuscht hatten. Eins von ihnen würde dran glauben müssen. Ich betrachtete meine Stiefkinder minutenlang, bis meine Wahl mit absurder Klarheit feststand. Ein Buch hatte mich bisher geärgert und genervt wie kein anderes Buch je zuvor. Es strotzte in meinen Augen nur so vor quälender Langeweile, hatte viele Erwartungen größtmöglich enttäuscht, nicht einmal als Geschenk wurde ich es los und hätte ich damals nicht in einem spanischen Dorf ohne Alternativen fest gesessen, ich selbst hätte es niemals weiter gelesen! Nicht einmal die Twilight Saga konnte dieses Leseleid bisher überbieten. Oh ja, dieses Buch hatte es verdient gequält zu werden, nun da ich es wieder sah, kochten alle meine hasserfüllten Erinnerungen daran hoch und verlangten Rache. Fiese, süße Rache! Ich kicherte mit hoher Fistelstimme und zog meine Nemesis diabolisch grinsend aus dem Schutz seiner umstehenden Geschwister. Hübsches Cover, dachte ich bei mir und beging spontan meinen ersten Gewaltakt: Ich riss das hübsche Cover von dem schrecklichen Buch! Ha! Welche Wonne!
Ein (Buch-) Mord, Beweisfoto BIn einem Anflug von Euphorie ließ ich die Badewanne voll laufen, gab wohlig duftendes Badeöl dazu und warf das fiese Ding ins Wasser. Zwei volle Minuten schaute ich zu, wie es sich langsam vollsog, ich tunkte es ein paar mal ganz nach unten, klappte die Seiten hier und da auf, damit das Wasser auch ordentlich Zugang fand und fischte den nunmehr ertränkten, nassen Klumpen schließlich raus, um ihn, unbewacht und den Witterungen schutzlos ausgeliefert, auf dem Balkon trocknen zu lassen. Tage und Nächte lang ließ ich es dort liegen! Eine gesunde Basis für meine kommenden Taten…

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Die Ermittler bitten um Unterstützung bei der Identifizierung
des unbekannten Buchopfers:

Zeugen, die sachdienliche Hinweise zu der Identität des Buchs liefern können, haben die Chance, eine kleine Belohnung zu gewinnen.
Hinweise können in Form eines Kommentars unter dem Text eingereicht werden.

Scriptorium