Ein öffentlicher (Buch-) Mord – Ein Fortsetzungskrimi (Teil 2)

Asche zu Asche, Buch zu Buch:
Ein (Buch-)Mord: AktenfotoIch stand vor der Flügeltür zur Pathologie. Der Geruch nach Formaldehyd und Desinfektionsmitteln brannte in meiner Nase. Eine olfaktorische Mischung, die ich inzwischen instinktiv mit dem Tod verband und bei der sich mir die Nackenhaare sträubten. Hinter der Türe, wo der Geruch in all seiner Stärke wie ein eiserner Schlag ins Gesicht auf mich wartete, lagen die ausgefliesten Gänge und ihr allgegenwärtiges kaltes Neonlicht, die mich zur sterilen und vorzeitigen Ruhestätte entstellter Leichen führten.
Ich drückte meine Zigarre sorgfältig an der Wand aus und steckte den Stummel in meine Manteltasche. Ein schwarzer Fleck blieb am Verputz zurück – einer von vielen, eine düstere Statistik meiner Besuche im Reich der Toten und zugleich eine Metapher für diese verkommene Stadt: kaum noch zu erkennendes Weiß. Unweigerlich wurde mir klar, dass sich das Sinnbild meines Lebens in den Taschen meines Mantels verbarg: Flachmann und Zigarrenstummel – Rausch und Rauch …
Seufzend betrat ich Tooth‘ kaltes Reich durch die quietschende Flügeltür – war unter den Toten der Untote König? Als ich den unerbittlich ausgeleuchteten Gang entlangschritt, wies mir sein fröhliches Pfeifen den Weg – wie er so fröhlich sein konnte, war mir ein Rätsel, aber für Rätsel hatte ich schließlich etwas übrig – und ich betrat den kahlen Sezierraum aus Stahl und Fliesen. „Tooth“, war meine spartanische Begrüßung. Meine Stimme klang kratziger als üblich. Die Folge einer von Alpträumen geplagten Nacht, die mit Schweiß und Schreien in der Dunkelheit geendet hatte. Das ausgiebige Whiskeyfrühstück danach hatte meine Stimmbänder sicher auch nicht geschont. „Ah, Whiskers, ein bezaubernder Anblick wie immer. Das Ergebnis der Obduktion ist …“, er sah kurz an mir herab, “… Leberzirrhose.” “Wenn ich sterbe, dann entweder an dem verdammten Gestank oder Ihrem elenden Humor – der Whiskey hilft gegen beides!” Unwillig deutete ich auf das Opfer und beendete damit das Begrüßungsritual. Die Ein (Buch-)Mord: Beweisfoto CUntersuchung hatte sichtlich ihre Spuren hinterlassen und der Anblick war dadurch gewiss nicht schöner geworden. „Die Identität konnten wir noch nicht mit abschließender Sicherheit feststellen, aber es kann nicht mehr lange dauern. Dafür habe ich eine Bestandsaufnahme der Brutalitäten gemacht und konnte die Reihenfolge bestimmen. Wollen Sie es hören?“ Natürlich wollte ich es nicht hören, aber wir wussten beide, dass es eine rhetorische Frage gewesen war, nur dazu da, Zeit zu schinden. Das Opfer wurde noch einmal – völlig zweckentfremdet – durchgeblättert. Grausame Details entfalteten sich vor meinen Augen wie eine obszöne Landkarte des Verbrechens. Es verging eine halbe Ewigkeit, bis Tooth seufzend zum Ende kam, sich den Schweiß von der Stirn wischte und verdutzt auf die glosende Zigarre in meinem Mundwinkel starrte – er hatte nicht einmal bemerkt, dass ich sie mir während des Vortrags angezündet hatte.

Tagebuch einer Mörderin:

Ein (Buch-)Mord: Beweisfoto DEs waren Tage vergangen seit meiner letzten Begegnung mit der dunklen, mörderischen Seite in mir. Noch immer lag dieses verabscheuungswürdige “Meisterwerk” der phantastischen Literatur draußen auf dem Gartentisch und trotzte Wind, Regen und Sonneneinfall. Jeden Morgen hatte ich in den vergangenen Tagen mit meiner Teetasse vor den verschlossenen Glastüren gestanden und hinaus gestarrt. Ich wollte es zermalmen, es in Stücke reißen, es durch einen Reißwolf drehen … ich musste mich beruhigen. Selbstbeherrschung war gefragt. Ich musste mit Bedacht an die Sache herangehen. Mein erster impulsiver Übergriff, das war mir inzwischen bewusst geworden, war gefährlich gewesen. Um Haaresbreite hätte ich das Buch schon zu Beginn zu Tode ertränkt. Einige Sekunden länger unter Wasser, und es wäre womöglich zu nichts mehr zu gebrauchen gewesen. Ja, ich hatte diese Tage vorbeistreichen lassen müssen, um die Kontrolle über meine rachsüchtigen und ungezähmten Gelüste festigen zu können. Das Buch durfte keinen schnellen und einfachen Tod finden, was ich brauchte, war ein Plan. Eine Liste!
Einen ganzen Tag lang sammelte ich Ideen, eine führte zur anderen, jede grausamer und effektiver als die vorherige. Bald schon begann ich manche Einfälle zu verwerfen, nur die besten sollten auf die Liste. Ein Glück, dass dieses falsche Meisterwerk von Buch so viele Seiten bot. Mehr Seiten, mehr Material, mehr Möglichkeiten, es ihm heimzuzahlen … Dann, als meine Liste fertig war und meine Hände voller Vorfreude zu zittern begannen, war es soweit. Ich warf einen letzten Blick aus dem Fenster.
Gleich, mein Liebes, gleich.
Ein (Buch-)Mord: Beweisfoto EIch legte meine Werkzeuge bereit: Klebstoff, Skalpell, Streichhölzer und Kerzen, einen Tacker, einen Locher … der böse kleine Schatz würde nicht einfach nur brennen, nicht einfach nur reißen, er würde von allem ein bisschen ertragen. Eine eigene, individuelle Qual für jedes Kapitel. Mein Opfer hatte bezaubernd viele Kapitel. Kapitel, die einst mich gequält hatten mit ihren endlosen Schilderungen vermeintlich magischer Orte, so gar nicht spannender Kämpfe und ach so schöner Geschöpfe! Rage hämmerte bei der Erinnerung daran gegen die sorgfältig aufgebauten Mauern meiner Selbstbeherrschung.

Es war soweit.
Mit stoischer Ruhe öffnete ich eine der Türen und trat an das Buch heran. Begeistert erkannte ich als erstes, dass sich inzwischen ein Vogel darauf erleichtert hatte. Das Buch flatterte mit seinen nunmehr gewellten Seiten im lauen Wind, als hoffte es darauf, erlöst zu werden. Wie hilflos es dabei knisterte. So ausgeliefert. So entzückend verwundbar!
Ich nahm das Buch, dessen Buchdeckel nunmehr wie eine Trophäe an meiner Wand hing, in die Hände – Zeit für den zweiten Akt.

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Die Ermittler bitten um Unterstützung bei der Identifizierung
des unbekannten Buchopfers:

Zeugen, die sachdienliche Hinweise zu der Identität des Buchs liefern können, haben die Chance eine kleine Belohnung zu gewinnen.
Hinweise können in Form eines Kommentars unter dem Text eingereicht werden.

7 Kommentare zu Ein öffentlicher (Buch-) Mord – Ein Fortsetzungskrimi (Teil 2)

  1. sisterdew sagt:

    Ich wusste doch, dass mir der Schnörksel bekannt vorkommt.
    Ist das etwa der berüchtigte Jonathan Strange der da ein wohlverdientes Ende fand?

  2. Elric sagt:

    @Sis: das hatte ich am Ende von Teil 1 schon vermutet, wurde aber mit einer komischen Antwort abgefertigt… *grübel*
    Ob ich da schon Recht hatte?
    Bisher würde es ja passen mit dem “London”, Taschenbuch, dick, viele Kapitel, magische Welten… Ich hab das zwar nie gelesen, aber Schatz hat davon erzählt…

    Is das jetzt böse, wenn wir dem Herrn Ermittler Schneckerl unterstellen, dass er langsam ist!? 😛

  3. sisterdew sagt:

    ich bin mir ziemlich sicher, ich hab das Ding selber nur angelesen, aber der Schnörksel!! Glass Books of the Dream Eaters könnt es auch noch sein, aber die englische Ausgabe davon hat nicht solche Schnörksel.

  4. Elric sagt:

    Und das Ding hat ja “nur” 10 Kapitel – soweit ich das verstanden habe. Außerdem hat Moya die “Glassfresser” nur auf Deutsch, wenn mich da meine Erinnerung an Zorge nicht völlig trügt.

  5. moyashi sagt:

    Das hat jetzt zwar gar nichts mit der Lösung zu tun, aber ich komme einfach nicht dahinter. Von welchem Schnörksler redet ihr denn hier immer?^^
    Das Buch selber hat keinen Schnörkel. Nirgendwo. Den einzigen Schnörkel den man auf den Fotos sieht (sofern ich nicht total blind bin und irgendwas winziges übersehe) habe ich selber da rein gezeichnet.

  6. sisterdew sagt:

    Ach echt? Ich dachte, der gehört da dazu:D (ich konnte, nicht nachsehen, das Buch ist im Keller..denke ich, meinte aber mich an so Verzierungen bei Strange&Norrell erinnern zu können)
    Egal!

  7. sisterdew sagt:

    @Elric: Die Glass Books sind 10 Bücher, zwar schlanke, aber dennoch- der All-in-one Band der davon erschienen ist ist ein ziemlicher Ziegel;)

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