Bibliotheka Phantastika fragt Ken Scholes…

Ken Scholes, dessen auf fünf Bände ausgelegte Fantasy-Reihe Psalms of Isaak auch auf Deutsch erscheint, startete seine schriftstellerische Karriere mit Kurzgeschichten; mit einer davon gewann er 2005 den Writers-of-the-Future-Award. Aus einer weiteren Geschichte stammen auch der Metallmann Isaak und Rudolfo, der Zigeunerkönig, zwei Figuren, die sich als Protagonisten des Romans Lamentation (2008) und dessen Nachfolger ebenfalls hervorragend machten. Scholes lebt mit seiner Frau und seinen Zwillingstöchtern in Oregon und schreibt in seiner freien Zeit am vierten Band seiner Saga, wenn es sein muss, auch mit Kind im anderen Arm. Trotzdem hat er in seinem stressigen Terminplan die Zeit freigeschaufelt, für Bibliotheka Phantastika ein paar Fragen zu beantworten, und hat für uns sogar in seinen alten Photoalben geblättert …

Bilbiotheka Phantastika: Anders als viele andere US-Autoren, die ins Deutsche übersetzt werden, haben Sie Deutschland schon einmal besucht. Wollen Sie uns etwas darüber erzählen? Was verbinden Sie mit Deutschland?

Ein verregneter Frühlingstag in Ulm, 1988

Ein verregneter Frühlingstag in Ulm, 1988. © alle Bilder: Ken Scholes.

Ken Scholes: Ich habe sogar von 1986 bis 1988 in Deutschland gelebt – in Kornwestheim in der Nähe von Ludwigsburg und Stuttgart. Ich war als junger Mann dort bei der US Army stationiert, und es war eine jener Erfahrungen, die das Leben verändern, die Welt erweitern und die Augen öffnen. Zu dieser Zeit hatte ich es aufgegeben, Science-Fiction- und Fantasy-Geschichten zu schreiben, und habe in meiner Freizeit stattdessen gelernt, wie man Predigten und religiöse Lieder schreibt. Ich war damals schon ziemlich weit mit dem Gitarrespielen gekommen und habe daher auch viele Abende damit verbracht, auf den Straßen von Stuttgart Songs von Simon and Garfunkel, Bob Dylan und John Denver zum Besten zu geben.
Während meines Aufenthalts habe ich mich natürlich auch in ein paar deutsche Mädchen verliebt. Und eine große, große Schwäche für die Deutschen, die Kultur und … das Essen entwickelt. Ich habe etliche Wochenenden mit deutschen Familien verbracht, und sogar ein paar Mal mit ihnen Weihnachten gefeiert. Ich habe dort eine wunderbare Zeit verlebt und habe es sehr vermisst. Ich bin schon jahrelang nicht mehr da gewesen, aber ich habe einen Spätzlehobel und habe meine Vorliebe für Jägerschnitzel nie verloren.
Ich will eines Tages unbedingt wiederkommen und hoffe, dass meine Bücher das nicht nur wahrscheinlicher machen, sondern dass sie mir vielleicht auch helfen, einige der deutschen Freunde wiederzufinden, zu denen ich in den zwanzig Jahren, seit ich gegangen bin, den Kontakt verloren habe.

bp: In Ihren Romanen gibt es Roboter, Magie, Geheimbünde, allerlei Steampunk-Elemente und traditionelle Schwertkämpfe, und der Freund von Genreschubladen tut sich schwer bei der Einordnung. Wenn Sie eine Genre-Bezeichnung für Ihre Isaak-Reihe erfinden müssten, wie würde sie lauten?

KS: Also, ich habe beim Schreiben nie ernsthaft groß über das Genre nachgedacht. Ich wollte, dass die Geschichte die Freiheit hat, so zu werden, wie sie werden musste, und sie nicht durch verschiedenste Erwartungen fesseln, die Leser an die Genres herantragen, die sie gerne lesen. Wenn ich einen Namen vergeben müsste, würde ich sagen: postapokalyptische SF, die als Fantasy verkleidet ist und obendrein Stilelemente aus dem Techno-Thriller und dem Krimi enthält.

bp: In den Legenden von Isaak geht es um von langer Hand geplante Intrigen und Ereignisse, in denen die Einflüsse vieler Fraktionen und Einzelpersonen kulminieren. Planen Sie beim Schreiben von langer Hand?

Ken Scholes in einem alten römischen Badehaus, irgendwo bei Stuttgart, 1987.

Ken Scholes in einem alten römischen Badehaus, irgendwo bei Stuttgart, 1987.

KS: Erstaunlicherweise nicht. Ich plane meine Romane eigentlich sehr wenig. Ich denke und schmiede die Pläne unterwegs, lege hier und da eine Pause beim ersten Entwurf ein, um mir Gedanken zu machen, wohin die Geschichte geht. Ich habe Glück, dass ich sowohl instinktiv als auch organisch arbeiten kann, so dass sich die Geschichte entwickeln und entfalten kann, während ich sie schreibe … und dass ich meine Arbeit bis zu einem gewissen Grad dadurch planen kann, dass ich mich rückwärts durcharbeite – meistens entwickle ich die Ereignisse umgekehrt, vom Ende her.
Bei den Legenden von Isaak schreibe ich ohne große Notizen oder Leitfäden. Ich habe nur Karten für einige Teile jener Welt gemacht, weil die Leser sie in den Büchern haben wollten. Bei meinem nächsten Projekt werde ich vermutlich mehr Weltschöpfung und Grundrisse vor den ersten Entwurf stellen, vor allem, weil ich neugierig darauf bin, etwas anderes auszuprobieren. Bei meinen kürzeren Texten wurden, denke ich, etwa zwei Drittel meiner Geschichten spontan und instinktiv geschrieben und etwa ein Drittel vorher ein wenig durchdacht und geplant.

bp: Ihre Kapitel wirken wie prägnante Streiflichter mit einem sehr präsenten eigenen inneren Aufbau. Haben Sie einen schriftstellerischen Zugang aus Ihren Kurzgeschichten in Ihre Romane mitgenommen? Und inwiefern waren Sie vielleicht schon immer Romanautor, wenn man Ihre teils episch-mythischen Kurzgeschichten wie Edward Bear oder The Santaman Cycle betrachtet?

KS: Das ist eine großartige Frage. Ich glaube, dass ich das aus meinen Kurzgeschichten mitgebracht habe – bis ich Sündenfall geschrieben habe, hatte ich nur Kurzgeschichten und Novelletten verfasst, also habe ich gewissermaßen einfach das geschrieben, womit ich mich auskannte. Ich wollte, dass die Szenen als Schnappschüsse aus dem Leben der Figuren dienen – auch nicht unbedingt, um die Action einzufangen, sondern manchmal um der Folgen der Handlungen willen oder der Reaktion der Figuren darauf. Denn so wie ich mir die Geschichte vorstelle, handelt sie nicht von diesem Schrecken, der die Benannten Lande heimgesucht hat, sondern vielmehr davon, wie das Leben der Menschen von diesen Ereignissen verändert wird und wie sie damit umgehen. Alles andere wirkt auf mich sekundär.

bp: Eines beschäftigt viele Leser: „Xhum Y’Zir“ sticht aus Ihrem Namensgebungsmuster etwas heraus. Wie kam es zu dieser Namensschöpfung? Hatten Sie Mitleid mit den letzten Buchstaben des Alphabets?

KS: Ha! Diese Buchstaben haben mir bestimmt einigen Kummer bereitet, aber das XYZ war ein Zufall. Und die Geschichte seines Namens ist eigentlich recht simpel. Der Ausgangspunkt dieser Reihe war eine Kurzgeschichte namens Of Metal Men and Scarlet Thread and Dancing with the Sunrise, und es war nie geplant, dass es mehr als nur eine einzelne Kurzgeschichte hätte sein sollen, die ich für einen Markt geschrieben habe, der sich Geschichten über mechanische Kuriositäten wünschte. Ich habe nicht viel über die Namen nachgedacht. Aber ich brauchte für den uralten Hexer, den ich erwähnte, einen Namen, der sich von den übrigen Figuren und dem Setting abhob … etwas Exotischeres. Ich denke, ich habe den Namen in der ursprünglichen Geschichte nur ein- oder zweimal benutzt, aber als ich mich hinsetzte, um Sündenfall zu schreiben, habe ich so viel von der Original-Geschichte behalten, wie nur möglich, und habe es nie groß neu überdacht, da ich mir nie ausgemalt hätte, dass sich mein erster Roman wirklich verkaufen und auf der ganzen Welt erscheinen würde. Und ich hätte mir nie ausgemalt, dass der Hexer zu einer ganzen Dynastie von Hexern führen würde, die tausend Jahre in meiner Welt zurückreicht.

bp: Begeben wir uns ins Spekulative: Religionsparallelen, „Zar“, „Papst“, Versatzstücke des Lateinischen – manchmal scheinen die Benannten Lande auf die irdische Geschichte zu verweisen. Lebt Rudolfo in einem post-post-(post-)apokalyptischen Europa, oder sehen Sie die Benannten Lande völlig losgelöst von unserer Welt?

Feldübung bei Grafenwohr, 1988 (kurz nach Ken Scholes' 20. Geburtstag).

Feldübung bei Grafenwöhr, 1988 (kurz nach Ken Scholes' 20. Geburtstag).

KS: Bei dieser Frage bin ich etwas zurückhaltend, denn sie wird nach und nach in der Reihe selbst beantwortet. Aber ich kann sagen, dass ich absichtlich einen Flickenteppich aus Titeln, hierarchischen Systemen und Sprachen benutzt habe, um ein Gefühl der Vertrautheit und ein Gefühl von menschlichen Kulturen zu erzeugen, die sich über große Zeiträume hinweg vermischt haben.

bp: In Ihrem Roman Hohelied bietet der Glaube Heimatlosen eine geistige Zuflucht, nährt Hoffnungen oder zerstört diese. Viele Figuren sprechen von „Liebe“, wenn sie die grässlichsten Dinge im Namen ihres Glaubens tun, und andere erstarken dann, wenn die Situation völlig aussichtslos zu sein scheint. Was, denken Sie, ist der stärkere Handlungsmotor? Glaube oder Zweifel?

KS: Ich denke eigentlich nicht im Rahmen von Handlungsmotoren. Ich versuche stattdessen Menschen so “wahrheitsgemäß” wie möglich einzufangen und unsere Widersprüche und Schwächen zusammen mit unseren Stärken und unserer Größe zu zeigen. Auch heute noch gibt es Leute, die glauben, dass es ein Akt der Liebe und des Gehorsams gegenüber ihrem Gott ist, sich eine Bombe umzuschnallen und sie auf einem belebten Platz detonieren zu lassen … oder ein Akt der Treue und Liebe für ihren Stamm, wenn sie ein Gewehr nehmen und sich daran beteiligen, das Gebiet eines anderen Stammes einzunehmen.
Ich glaube, um die ganze Bandbreite der schönen Hässlichkeit der Menschheit einzufangen, müssen Glaube und Zweifel beide gemeinsam mit Liebe und Hass zum Tragen kommen … und um wirklich zu demonstrieren, wie fähig wir tatsächlich zum Guten und zum Bösen sind, glaube ich, dass wir zeigen müssen, wie leicht wir uns selbst und andere in die Irre führen können, so dass wir erschreckende Verhaltensweisen im Namen irgendeines angenommenen größeren Guten rationalisieren und rechtfertigen.

bp: In Hohelied widersetzt sich nicht nur der Mechoservitor Isaak dem Willen seines Erbauers und seines Freundes Rudolfo (und verletzt damit, nebenbei bemerkt, das zweite Gesetz der Asimov’schen Laws of Robotics!). Träumen Sie von einer Maschine, die träumen kann? Oder erschreckt Sie die Vorstellung einer autarken künstlichen Intelligenz?

KS: Ich würde, glaube ich, sagen, dass ich verhalten träume. Menschen haben Maschinen entworfen, um unser Leben einfacher zu machen, uns an Orte zu bringen, an die wir sonst nicht gelangen könnten, Dinge zu tun, die wir normalerweise nicht tun könnten. Ich frage mich unwillkürlich, was geschehen wird, wenn wir eine Intelligenz schaffen, die sich wirklich über das uns Zugängliche hinaus entwickelt. Wird sie uns dabei helfen, denselben Ort zu erreichen? Wie wird sie uns verändern? Ich spiele gerne “was wäre, wenn?” mit diesen Überlegungen, und manche dieser Überlegungen sind tatsächlich ein Teil dessen, was ich mit den Legenden von Isaak erkunde.

bp: In den Genres Fantasy und SF gibt es kaum Grenzen für die Antwort auf die Frage “was wäre wenn?”, nicht einmal die Gesetze der Physik oder die Regeln der Gesellschaft müssen befolgt werden; der Schriftsteller hat die Freiheit, eine ganze Welt um die Frage “was wäre wenn?” zu entwerfen. Können Sie uns ein paar andere “was wäre wenns?” nennen, die Sie inspiriert haben und die Ihre Kreativität beflügeln?

Ken Scholes zur Preisverleihung des Writers-of-the-Future-Award 2005.

Ken Scholes zur Preisverleihung des Writers-of-the-Future-Award 2005.

KS: Auf jeden Fall! Das ist die Frage, die meine ganzen Texte antreibt. Was wäre, wenn ein Superheld sich zur Ruhe setzt, sein Vermögen verliert und in ein Altersheim gehen müsste? (Action Team-Ups Number Thirty-Seven.) Was wäre, wenn jeder einen persönlichen Gott hätte, der ihm seine Herzenswünsche erfüllt? (That Old Time Religion.) Was wäre, wenn sich zwei sich durch Dungeons wühlende Charaktere aus D&D treffen, sich verlieben und sich entscheiden, aus dem Abenteurerleben auszusteigen, um eine Familie zu gründen? (Last Flight of the Goddess.) Was ist WIRKLICH zwischen Kain und Abel vorgefallen … und wie hat Kain seine Frau gefunden? (East of Eden and Just a Bit South.) Ich könnte ewig weitermachen.

bp: In Ihrer Welt gibt es eine interessante Wissenskultur: aus den Bruchstücken früherer Hochkulturen erfolgt ein Wiederaufbau auf einer weniger weit entwickelten Stufe (wie bei den alten und neuen Mechoservitoren), und 2000 Jahre hat eine starke Instanz das verbliebene Wissen gehütet. Sehen Sie die Gefahr der Degeneration von Wissen als real an oder ist es ein bewusster Gegenentwurf?

KS: Ich halte es für real. Immerhin sind wir immer noch nicht damit fertig, unsere eigene Frühgeschichte zusammenzustückeln. Wir erfahren die ganze Zeit immer mehr darüber. Und in den Legenden von Isaak ist der größere Kern, um den es mir geht, dass es Leute gibt, die das Gefühl haben, es wäre ihre Aufgabe, den Informationsfluss zu kontrollieren, um die Menschheit vor sich selbst zu schützen … dass jedoch die Kontrolle des Informationsflusses und der Wille, diese privilegierten Informationen einzusetzen, um diese Kontrolle zu erhalten (wie es bei den Androfranzinern der Fall ist) einem das Verderben bringen kann.

bp: Weshalb haben Sie sich dafür entschieden, eine kirchlich geprägte Fraktion als optimale Hüter des Wissens zu benutzen (wie auch schon Walter Miller jr. in Lobgesang auf Leibowitz)?

KS: Dies ist vielleicht eine Stelle, an der die Übersetzung der Reihe vom Englischen ins Deutsche ein wenig an meinen Absichten gerüttelt hat. Die Androfranziner sind eigentlich im Kern keine echt kirchliche Fraktion. Oder vielleicht drückte man es besser aus, wenn man sagt, sie benutzen die Symbole der Kirche. Sie sind säkularisierte Humanisten … Wissenschaftler, Archäologen, Ingenieure, Verhaltensforscher … die eine religiöse Hierarchie geschaffen und die Errungenschaften der Menschheit (in Form des Lichtes) “vergöttlicht” haben, um sie zu schützen, indem sie sich ihnen mit einer Art religiöser Ehrfurcht und Eifer nähern. Dies ist ein Teil des rückwärtsgewandten Traums, in dem Petronus immer mehr eine Lüge erkennt, die er nicht mehr unterstützen kann. Mit den Androfranzinern spiele ich sehr stark im Sandkasten der Religion, die absichtlich als Werkzeug eingesetzt wird, um eine Gesellschaft zu formen und Überlebende (und überlebendes Wissen) vor wiederholten Kataklysmen zu schützen. Wohingegen ich mit den Y’Ziriten eine eher am Glauben orientierte religiöse Bewegung einbringe, bei der das Blutlösen und die rituelle Verletzung mit dem Messer im Mittelpunkt ihrer Praktiken stehen. Ich dachte, dass diese beide divergierenden Systeme der Reihe einen wahrheitsgemäßeren Ton verleihen, als es bei den traditionellen, eher mit Schwarz-Weiß-Zeichnung arbeitenden Geschichten der Fall ist, in denen sich Gut und Böse gegenüberstehen. Und es sollte eine gute Bühne für das Drama abgeben, das sich darauf abspielt.

bp: Der Bannspruch wird, trotz größter Bedenken, nicht zerstört, sondern bewahrt. Ist die Zerstörung von Wissen noch frevelhafter als das, was mit diesem Wissen in der Hand der Menschen geschehen könnte?

Ken @ Powell's Books, 2010.

Ken @ Powell's Books, 2010.

KS: Das ist eine tolle Frage, finde ich. Manches Wissen – wie die Sieben Kakophonischen Tode – könnte großen Schaden anrichten, wenn es jenen, die das Wissen bewahren, nicht möglich ist, es sicher zu halten. Und solange es Leute gibt, die nichts zu verlieren haben und willens sind, diese schreckliche Macht zu benutzen … Nun, man kann sehen, worauf es hinausläuft. Das ist eine der Fragen, mit denen ich in der Reihe spiele. Aber jenes Wissen zu zerstören – überhaupt Wissen zu zerstören – öffnet die Tür für Zensur und Kontrolle. Es ist besser, wenn wir in unser Wissen hineinwachsen und lernen, wie wir unseren Hang zur Selbstzerstörung mäßigen, wenn wir es können.

bp: Bewegen wir uns vom Wissen der Menschheit zum Wissen eines Autors: Was hat Sie bewogen, nicht nur den üblichen alten Mentor, sondern eine ganze Menge alter oder älterer Männer als Protagonisten zu wählen? Welche erzählerischen Möglichkeiten haben Sie sich davon versprochen?

KS: Ich habe mir vordergründig gar keine Gedanken darum gemacht. Ich wollte mit einigen vertrauten Fantasy-Elementen beginnen – dem weisen und vergessenen König, dem schneidigen Prinzen, der spionierenden Kurtisane, dem Waisenknaben, dem mechanischen Mann (der Marionette) – und diese Elemente dann ein wenig auf den Kopf stellen, während die Geschichte ihren Lauf nimmt. Ich denke, jüngere Protagonisten sind die Norm, und ich habe versucht, mein Ensemble stärker auszuarbeiten, als es um Gender oder Alter ging, daher haben wir Neb und Winters, die beide in ihren Teenager-Jahren sind, Jin Li Tam in den frühen Dreißigern, Rudolfo in den frühen Vierzigern und dann eine gute Prise von 60- und 70-Jährigen mit Lysias, Grymlis, Charles und Vlad Li Tam.

bp: War es genauso einfach, die weiblichen Figuren auf den Kopf zu stellen, wie bei den männlichen? Und könnten Sie sich vorstellen, die gleiche Wirkung auch mit alten Frauen zu erzielen?

KS: Es war nicht einfach, nein. Die meiste Zeit über hatte ich Angst davor, weibliche Figuren zu schreiben. In meinen gesamten Kurzgeschichten haben Frauen meistens Nebenrollen von unterschiedlicher Stärke und Bedeutung für die eigentliche Geschichte eingenommen, und ich bin fest in der Perspektive meiner männlichen Protagonisten verwurzelt geblieben. In einigen wenigen Geschichten habe ich es riskiert, aus der Perspektive einer Protagonistin zu schreiben, aber ich war dabei meistens nervös. Zum Großteil kam das durch meine Angst, etwas zu falsch zu machen und Leute vor den Kopf zu stoßen. Also bin ich dicht an den Arten von Figuren geblieben, die ich nach meinem Dafürhalten am besten kannte. Selbst in Sündenfall habe ich eigentlich nur aus der Sicht einer einzigen Protagonistin erzählt. In Lobgesang habe ich weitere hinzugefügt. Und es kommt mir so vor, als würde ich dabei sicher Einiges falsch machen, aber eben auch Einiges richtig. Und ich habe festgestellt, dass einige Leute, die unzufrieden damit sind, wie ich eine Figur schreibe – ob sie nun weiblich ist oder nicht -, das auf hilfreiche, konstruktive Weise kundtun, und andere werden einfach wütend. Und sie stimmen nicht einmal alle überein.
Aber um die Antwort kurz zu machen: Ja, ich könnte mir auch vorstellen, die gleiche Wirkung mit alten Frauen zu erzielen. Und ich gehe davon aus, dass ich in zukünftigen Büchern und zukünftigen Serien genau das in Angriff nehmen werde. Irgendwann habe ich vor, eine Trilogie zu schreiben, die auf meiner Kurzgeschichte Invisible Empire of Ascending Light basiert, mit Tana Berrique, einer Protagonistin in ihren 60ern, als Hauptcharakter in der entsprechenden Figurenriege.

bp: Der Themenkomplex “Familie” nimmt in Ihren Romanen eine zentrale Stellung ein. Ist es Ihre persönliche Erfahrung, die Sie dazu bewogen hat, oder finden Sie, dass das Thema in der Phantastik unterbeleuchtet ist? Fallen Ihnen gar literarische oder filmische Vorbilder ein, in denen Sie dieses Thema gerne näher beleuchtet gesehen hätten?

Ken, Jen, Lizzy und Rae, 2010

Ken, Jen, Lizzy und Rae, 2010

KS: Auch hier war es wieder nichts, das ich absichtlich so eingerichtet habe, aber ich glaube, dass es zu dem wahrheitsgemäßen Klang beiträgt, auf den ich mit meinem Schreiben abziele. Als ich den Entwurf von Sündenfall geschrieben habe, habe ich schnell bemerkt, dass die Einführung eines Kindes in Rudolfos und Jin Li Tams Leben ein größeres Ereignis inmitten von allem anderen sein würde, und als sich die Rolle des Kindes in der ganzen Saga ergeben hat, habe ich eine Gelegenheit gesehen, diesen Gedanken noch weiter zu untersuchen. Was, wenn das eigene Kind eine messianische Figur in einem alten Blutkult wäre? Das sah mir nach einem famosen Versuchsaufbau aus. Und dann, darüber hinaus, schien mir auch das tiefere Schürfen in der Familie Tam ein guter Ansatz zu sein, um den Familienbanden nachzugehen, und der Frage, wie diese Bande genutzt werden können, um den eigenen Willen durchzusetzen, wenn man in der eigenen Familie das beste Werkzeug – oder die beste Waffe – sieht, um die Welt zu beherrschen. Liebe und Angst sind große Motivationen für Menschen. Und ich habe schon den Verdacht, dass die Liebe zur Familie in der Belletristik häufig die zweite Geige im Vergleich zur romantischen Liebe spielt.
Ich habe keine richtigen Beispiele, in denen ich das Thema gern besser ausgearbeitet sähe, und was meine eigenen Erfahrungen angeht, so denke ich auf jeden Fall, dass meine eigene Familie – sowohl die problematische, in die ich geboren wurde, als auch die Familie, für die ich mich später entschieden habe – ganz sicher in mein Schreiben hineinspielt. Denn ich neige dazu, mein Schreiben durch meine eigenen Lebenserfahrungen zu nähren … durch die guten, die schlechten und die hässlichen.

bp: Die Buchtitel, die Paul-Simon-Anspielung in Hohelied, die Macht der Musik in einigen Ihrer Kurzgeschichten: Musik zieht sich wie ein Leitmotiv durch Ihr Werk. Welche Rolle spielt Musik in Ihren Büchern? Und sind Sie auch außerhalb der Buchdeckel musikbegeistert?

KS: Zunächst muss ich sagen, dass ich das Wort “leitmotif” liebe! Und ja, ich würde behaupten, dass Musik nicht nur in meinem Schreiben, sondern auch in meinem Leben eine treibende Kraft ist. Ich bin den Großteil meines Lebens lang Musiker und Musikliebhaber gewesen, habe mir in meinen Teenagerjahren das Gitarrespielen beigebracht und bin schon in jungen Jahren an Straßenecken und auf Kirchenbühnen aufgetreten. Ich habe im Zimmer meines älteren Bruders Simon and Garfunkel gehört, noch ehe ich mich erinnern kann, und besonders ihre Lieder – und Paul Simons Solowerke – sind mir stetige Begleiter gewesen. Natürlich liebe ich fast jede Musik – ich denke, Country/Western ist die einzige Stilrichtung, die mir nicht zusagt. Und wenn ich schreibe, brauche ich beinahe immer Kopfhörer und Musik, um meine Worte zu finden.
In der Reihe wollte ich kurze Titel, und ich wollte, dass sie aus der sakralen Musik stammen. Anfangs war es “Lamentation” (Klagelied), “Canticle” (Lobgesang) und “Requiem”, als ich noch dachte, die Legenden von Isaak würden eine Trilogie werden. Aber es gibt eine Zeile am Ende von Sündenfall, da heißt es: “Und Rudolfo sah seine Rolle darin, und er erkannte, wie aus einem Klagelied eine Hymne werden konnte.” Irgendwo im Überarbeitungsprozess des ersten Bandes habe ich erkannt, dass es fünf werden würden, und dass das letzte “Hymne” heißen müsste, basierend auf diesem Ausschnitt. Der letzte Name, der mir einfiel, war “Antiphon” (was ein Gegengesang zum Lobgesang ist) für den dritten Band.
Ich nehme an, die neuen Titel für die deutschen Bücher haben hier ein wenig Chaos gestiftet, weil jedes Buch in sich Anspielungen trägt, die in den Titeln wurzeln, die ich ausgewählt habe, aber ich vertraue darauf, dass das Wesentliche meiner Absichten herausgekommen ist.

bp: Wir haben Angst. Wie traurig wird Requiem?

KS: Ich will nicht lügen: Es wird einigen Anlass zur Traurigkeit geben. Aber denkt einfach daran, dass danach die Hymne kommt. Requiem bringt die Reste des zweiten Aktes unter Dach und Fach und führt uns ordentlich in den abschließenden Akt der Reihe. Daher muss es ein wenig schlimmer werden, ehe es wieder besser werden kann. Aber ich hoffe, meine deutschen Leser werden den Ritt mitmachen und weiterhin Freude an der Geschichte haben, die ich erzähle.

bp: Wir danken Ihnen herzlich für das Gespräch und freuen uns auf all Ihre Hymnen und Klagelieder, und alles, was dazwischen liegt!

For all English-speaking readers of Ken Scholes, we put up the original interview here!

4 Kommentare zu Bibliotheka Phantastika fragt Ken Scholes…

  1. sisterdew sagt:

    Danke für das tolle Interview!!!

  2. Elric sagt:

    Oh ja, das is wirklich prima!
    Er macht einen sehr sympathischen Eindruck, das muss ich schon sagen.
    Ich hoffe ja sehr, dass es sich doch irgendwie irgendwann ausgeht, dass er seine Deutschlandreise machen kann, mit ihm würde ich mich sehr gerne mal unterhalten. 🙂

  3. Ole sagt:

    Jupp, sehr schönes Interview mit schlauen Fragen und interessanten Antworten!

  4. 'Pingback: Zum 45. Geburtstag von Ken Scholes in der Bibliotheka Phantastika

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