Der Zirkus erscheint plötzlich. Er ist nur bei Nacht geöffnet und seine Zelte, seine Akteure, alles ist ganz und gar schwarz und weiß. Hellseher, Illusionisten, Zelte, die in die Wolken oder in weiße Gärten aus Eis führen. In seinem Zentrum brennt ein weißes Feuer, das niemals erlischt. Der Nachtzirkus ist anders als jeder normale Zirkus, er ist der Inbegriff der Mystik.
Doch was niemand weiß: er ist das neue Spielbrett zweier sehr alter Magier, die ihre eigenen Schüler gegeneinander antreten lassen – in einem Wettstreit um Leben und Tod. Es gab schon viele Schüler, und nun gibt es zwei Neue: Celia und Marco wachsen getrennt voneinander auf, werden verschieden ausgebildet, gefangen in einem lebenslangen Spiel, dessen Regeln sie nie erfahren.
– The Circus arrives without warning.
No announcements precede it, no paper notices on downtown posts and billboards, no mentions or advertisements in local newspapers. It is simply there, when yesterday it was not.
The towering tents are striped in white and black, no golds and crimsons to be seen. No color at all … –
Anticipation, S. 3
Erin Morgenstern liefert mit ihrem Debütroman The Night Circus (Der Nachtzirkus) ein ungewöhnliches und nachhallendes Lesevergnügen ab. Zunächst erscheint einem die Entscheidung, im Präsens zu erzählen, sehr gewöhnungsbedürftig, doch nach einer Weile stellt sich dadurch verstärkt der Eindruck ein, das Ganze direkt mitzuerleben. Durch die episodenhafte Aufteilung der Kapitel und einer nicht chronologischen Erzählstruktur, die in der Zeit vor und zurück springt, erfährt man zunächst auch nur die grobe Rahmenhandlung und ist darüber hinaus als Leser ebenso ahnungslos wie die beiden Spielfiguren Celia und Marco. Die Autorin schildert die Welt dabei sehr plastisch und schafft es trotz einer wenig ausgefallenen Sprache, Leben in jedes Zelt und jeden Charakter zu hauchen. Als Freund bildhafter Beschreibungen ist man mit The Night Circus daher gut beraten. Doch auch die Ideen selbst verstehen zu faszinieren, es ist beinahe enttäuschend, dass man als Leser nicht die Chance hat, den Zirkus leibhaftig zu besuchen.
Anfangs bleibt lange unklar, was die eigentliche Handlung dieses Romans ist und was der Zirkus damit zu tun hat. Man entdeckt gerne jedes einzelne Zelt und kann sich als Leser an den wunderbaren Ideen und Beschreibung ergötzen, doch was der Zweck des Ganzen ist, wird nur vage angedeutet. Erst nach und nach setzen sich ab Buchmitte alle Episoden zu einem großen Puzzle zusammen. Die Handlung erstreckt sich über ca. 30 Jahre und wird durch die Sprünge in der Erzählung bereits komplex, doch auch die Beweggründe und das Verhalten der Protagonisten werden erst dann nachvollziehbar, wenn man sich immer mal wieder einen Moment Zeit nimmt, um sich in die Figuren hineinzuversetzen und über ihr Handeln und ihre Reaktionen nachzudenken. Das Buch macht einen traurig und glücklich zur selben Zeit, wenn man versteht, was das alles für die betroffenen Charaktere und ihr Leben bedeutet. Dieses Gefühl spiegelt auch perfekt wider, wie der Nachtzirkus – The Circus of Dreams – auf seine Besucher wirkt, und erklärt, weshalb ihm eine Schar von Menschen rund um den Globus folgt. Er berührt Sehnsüchte nach Geheimnissen, Magie und Mystik in der Welt.
Es erwarten einen hier keine großen Spannungsmomente, keine epischen Schlachten, nicht einmal aufgebauschte Dramatik oder ein fulminantes Finale. The Night Circus schafft es auf ganz alltägliche, sanfte Weise ergreifend und faszinierend zu sein, angereichert mit einem Hauch von Magie, die sich nicht in bombastischen Effekten zeigt, sondern im Erschaffen von Attraktionen. Für den Romantiker wird auch bald ersichtlich, dass … nein, das wollen wir an dieser Stelle nicht verraten. Nur so viel: das Verhältnis zwischen Celia und Marco entwickelt sich auf erwachsene und beiläufige Weise, vermag es aber trotz hintergründigem Ablauf, die Pläne der beiden Wettväter gründlich zu stören und den Wettstreit zu einem noch grausameren Akt zu machen, als er es ohnehin schon ist.
Neben stark gezeichneten Charakteren, die mit jedem Kapitel mehr Persönlichkeit bekommen und einen dazu bewegen, Interesse an ihrem Leben zu entwickeln, ist vor allem die Idee interessant, wahre Magie hinter technischen Konstrukten zu verstecken um sie glaubhaft zu machen. Der Roman spielt in unserer realen Welt um 1870 bis ca. 1900, später wird auch ein noch deutlich neueres Datum angedeutet – das einen von Schmunzeln begleiteten Aha-Effekt auslöst – und so bleiben die Magier selbstbestimmt unerkannt und verbergen ihre Talente hinter dem Scheinbild des Zirkus. Bei allem hat man stets eine gewaltige Welt aus feinen, detaillierten Scherenschnitten vor Augen, sobald man den Zirkus betritt, was sicherlich der reduzierten Farbgebung und künstlerischen Beschreibung zu verdanken ist.
The Night Circus ist keine schnell zu verschlingende Lektüre. Daher die Warnung: wer leichte Kost für zwischendurch sucht, wird mit diesem Roman sicher nicht glücklich werden. Allen, die Bücher vor allem emotional erleben und erfühlen wollen, ist dieser faszinierende, ruhige Roman dagegen dringend zu empfehlen. Ansonsten verhält es sich mit The Night Circus wie mit der Farbgebung der Zelte in schwarz oder weiß: Entweder man liebt es oder man hasst es, dazwischen dürfte es kaum Graustufen geben.