Subgenre: Science Fiction

Cover von ABC Zhang von Maureen F. McHughTechniker Zhang ist schwul. Das ist im Zweite-Welt-Land Amerika strafbar, in China, der Schirmherrin Amerikas, werden Homosexuelle zum Teil sogar hingerichtet. In Episoden, die aus einem Zeitraum von vier Jahren stammen, wird das Leben Zhangs und einiger weiterer Personen, deren Leben er berührt, in dieser fortschrittlichen Welt erzählt. Es wird geschildert, wie er seine Arbeit verliert, weil er die San-xiang, die Tochter seines Vorgesetzten, nicht heiraten will; wie er einen deprimierenden Job auf Baffin Island, jenseits des Polarkreises gelegen, annehmen muß und schließlich in China landet um Bauingenieur zu werden.

-Der Vorarbeiter schnatterte Meihua, die herrliche Sprache, Singapur-Englisch.-
China Mountain – Zhang

Die Geschichte spielt im 22. Jh. auf einer Parallelwelt, doch die Unterschiede, die zu dieser Annahme führen, sind nur kosmetischer Natur (z.B. findet der Zusammenbruch der Sowjet Union im frühen 21. Jh. statt). Die Schauplätze sind sehr unterschiedlich, New York, Baffin Island, Jerusalem Ridge auf dem Mars, Nanjing und Wuxi in China. New York ist heruntergewirtschaftet, viele Gebäude sind noch aus dem 20. Jh. – und dieses sind zumeist die besseren, denn neuere Gebäude haben zum Teil in den oberen Stockwerken kein fließend Wasser. Nach der “Großen Läuterung” ist Amerika ein sozialistisches Land geworden – die Kapitalisten sind allerdings rehabilitiert – und der Staat organisiert die Grundbedürfnisse und verteilt die Arbeit. Dieses alles aber zumeist auf einem niedrigen Niveau, wer mehr will, muß sich auf dem Freien Markt behaupten. Alleine wohnt fast niemand, da der Wohnraum exorbitant teuer ist – ein Luxus, den sich Zhang gönnt, allerdings ist seine Wohnung eine kleine Bruchbude, in der er sich nur zum Schlafen aufhält. Üblich ist das Leben in Kommunen, sich selbst organisierenden Verwaltungseinheiten auf wirtschaftlicher und politischer Basis. In New York ist Homosexualität strafbar, aber sie wird selten geahndet, auf Coney Island läßt man die Homosexuellen sogar weitgehend gewähren. In China ist das Leben ganz anders; Homosexuelle kommen in ein Umerziehungslager oder werden gleich per Genickschuß hingerichtet. Auch wenn die Bürger nicht scharf überwacht werden, geht man mit diesem “Verbrechen” nicht lax um. Technologisch ist China viel weiter entwickelt; während in New York nur passive Systeme, in die man sich aktiv einklingen muß – wie ein Bibliothekscomputer, der auf Anfragen Daten herausgibt, direkt ins Bewußtsein gespeist – existieren, sind in Wuxi aktive Systeme, die sich selbst einklinken üblich – wie ein Gebäudekomplex, der die Bedürfnisse der Anwesenden überprüft und entsprechend reagiert, z.B. die Temperatur so regelt, daß einem nicht zu warm und nicht zu kalt ist.
Das Leben auf dem Mars ist viel härter, es gibt nur wenig Land, nur wenige, veraltete Geräte, aber es gibt auch weniger Vorschriften – die Kommunen entscheiden selbst wie sie verfahren wollen. Aber auch hier sind nicht alle gleich – die Mächtigsten sind die alteingesessenen Pächter – aus ganz pragmatischen Gründen, wie sie versichern, denn die Pächter müssen sich um ihre Pacht kümmern und können daher wenig anderes machen (als andere an die Polkappen abzukommandieren).
Die insgesamt neun Episoden werden von fünf unterschiedlichen Ich-Erzählern bestritten, Zhang Zhong Shan Rafael erzählt in fünfen von seinem Leben, so daß diese ein wenig Ähnlichkeit mit einem Entwicklungsroman erhalten. Er ist das Kind einer Spanierin und eines Chinesen, seine Eltern haben seine Gene manipulieren lassen, so daß er als ABC – American Born Chinese (oder Another Bastard Chink, wie die Langnasen sagen) – durchgeht, immer am Bangen, daß er keine Genanalyse durchhalten muß und auffliegt. Außerdem ist er schwul. Wie er feststellen wird, ist er ein echter New Yorker, es zieht ihn immer wieder in diese Stadt, auch wenn sie das letzte Loch ist, und er anderswo deutlich bessere Chancen hätte.
Wie Zhang selbst sind auch die anderen Episodenerzähler, von denen jeder nur eine erzählt, liebenswerte, alltägliche Menschen mit Macken und Stärken. Daneben tauchen noch viele weitere Figuren auf, die alle interessant und glaubwürdig sind.
Die Episoden erzählen vom Alltag der Figuren, in dem allerdings nicht immer Alltägliches geschieht. So erfährt der Leser viel über die Möglichkeiten der aktiven Systeme in China, die Krankenhauspatienten in die richtige Stimmung versetzen, Hochgefühle beim illegalen Glücksspiel auslösen und den großen Komplexen, in denen der Mensch quasi als Sinnesorgan des gesamten Körpers fungiert, aber auch davon, wie Zhang in eine Razzia gerät und flüchten muß – die Hinrichtung droht. Wer nach echten Helden oder großen Aufgaben sucht wird hier allerdings enttäuscht.
Sprachlich ist das Werk sehr gut, es gelingt der Autorin die Stimmung der Szenen und Emotionen der Protagonisten eindringlich zu schildern; so ist einem die neue San-xiang auf Anhieb unsympathisch, man sieht jedoch schnell, in welche Falle sie zu laufen droht – und man gönnt es ihr nicht.
Wenn es ein Manko hat, dann ist es das fehlende Etwas, es fehlt einfach der Funke Genialität um das Buch perfekt zu machen.
Wer nach Fantasy im engeren Sinne sucht, sollte dieses Buch meiden; es enthält viele Elemente von guter Science Fiction, mit Zhangs Episoden die eines Entwicklungsromans, ist aber auch gute Social Fantasy – nur eben ohne Magie.

Bettler in Spanien von Nancy KressDer schwerreiche Roger Camden will für die geplante Tochter nur das Beste, das heißt, die neuesten und vielversprechendsten genetischen Modifikationen. Und so neu, dass es eigentlich noch im Teststadium ist, ist die Ausschaltung des Schlafbedürfnisses. Doch bald wollen mehr Eltern diese Modifikation: Die Kinder sind leistungs- und lernfähiger, da die nutzlos verbrachten Ruhestunden wegfallen, und anderen in jeglicher Hinsicht überlegen.
Doch Leisha Camden, die mit einer Schwester ohne die Modifikation aufwächst, lernt bald die Schattenseiten kennen: Die gewöhnlichen Menschen kommen nicht besonders gut mit den überlegenen Veränderten zurecht, und die »Schlaflosen« ängstigen sie zutiefst.

-Sie saßen steif auf seinen antiken Eames-Stühlen, zwei Menschen, die gar nicht hier sein wollten – besser gesagt, eine der beiden Personen wollte es nicht, und die zweite ärgerte sich über das Widerstreben der anderen.-
1

Nancy Kress betrachtet in ihrer SF vorrangig weder technologische Entwicklung, noch schaut sie hinaus in ein größeres Universum – ihre Spezialität ist der Mensch unter veränderten Bedingungen, und Bettler in Spanien (Beggars in Spain), der Roman, mit dem ihr der Durchbruch gelang, ist dafür ein Paradebeispiel. Er basiert auf einer gleichnamigen Novelle, die mit Hugo und Nebula Award ausgezeichnet wurde und immer noch den besten Teil der längeren Fassung darstellt – in den ergänzten Abschnitten werden dieselben Konflikte lediglich auf eine andere Ebene gehievt, wobei sich das vielschichtige Grundthema durchaus für eine mehrteilige Betrachtung anbietet. So kann Kress fein herausarbeiten, woraus sich das Menschliche konstituiert und die Reaktionen – gesellschaftliche und individuelle – auf das Andere, oder vielmehr das Bessere in Form der Schlaflosen ausloten. Die Befremdung und schließlich Bedrohung, die die gewöhnlichen Menschen in ihnen wahrnehmen, lässt wohlbekannte Prozesse ablaufen, die sowohl aus dem Umgang mit Fremden allgemein als auch aus der etwas spezielleren Form der Intellektuellenfeindlichkeit abgeleitet sind.

Als LeserIn verfolgt man dabei hauptsächlich Leisha Camden, die erste Schlaflose, und für sie ist die gesellschaftliche Grundhaltung eher ein mal stärkeres, mal schwächeres Hintergrundraunen, denn für die Schlaflosen selbst ist der Leistungsgedanke das bestimmende Element. Wo er hinführen kann, wenn durch eindeutige Überlegenheit Tatsachen geschaffen werden und Leistung gleichzeitig als Rechtsgrundlage dient, ist ein sehr beunruhigendes Gedankenexperiment, das zwar einerseits ein Kind seiner Zeit ist (die »Leistungsgesellschaft« bekam in den 90ern erstmals große Medienpräsenz), andererseits aber auch visionär und immer noch (oder erst recht?) gültig.
Von der anderen Seite der Medaille, den Bevölkerungsmassen, deren Leistung, aber auch Empathie im Großen und Ganzen geringer ausfällt, wird kein weniger pessimistisches Bild gezeichnet.
Aus diesen beiden Polen, den sich aufschaukelnden gesellschaftlichen Konfliktherden und dem Sicherheitsbedürfnis der Privilegierten, entwickelt sich vor allem im ersten Teil von Bettler in Spanien eine hochspannende Dynamik, in der gemäßigte Stimmen zunehmend untergehen.

Die Figuren, sowohl gewöhnliche Menschen als auch Schlaflose, sind wie bei Kress üblich keine uneingeschränkten Sympathieträger, sondern sehr anfällig für Fehler: ob fanatisch, gleichgültig, egoistisch oder fehlgeleitet, hier wird die ganze Bandbreite menschlicher Irrungen abgedeckt. Leisha Camden, die Protagonistin und der »Prototyp« der Schlaflosen, ist allerdings eine faszinierende Figur – ein perfektes Geschöpf, das durch Gen-Engineering nicht mehr ganz menschlich ist, aber als diejenige, aus deren Perspektive erzählt wird, sehr viel Menschlichkeit zeigt, ja sogar krampfhaft danach sucht.
An ihren Hauptfiguren untersucht Kress auch familiäre Strukturen, ihre langjährige Wirkung, ihre letztliche Auflösung: in der Familie der Camdens und als Gegenentwurf bei den (meist) deutlich negativer geprägten Sharifis, einer radikaleren Schlaflosen-Familie. Ambitionierte Eltern in einer ambitionierten Gesellschaft sind dabei immer ein Punkt, an dem die Brüche und Verwerfungen ihren Anfang nehmen.

Die Zukunftswelt an sich bleibt (inklusive der handlungstreibenden Gentechnik) relativ unentwickelt, Kress denkt hier eher grobe Richtungen an, ohne Details zu liefern – die Fragen, die sie stellt, sind immer die gesellschaftlichen: Die Machbarkeitsfantasien der Gentechnik werden von ihr genau an die Grenze getrieben, an der das Resultat so fremd wird, dass die Option trotz ihrer Vorteile nicht mehr in Frage kommt – und an der die künstliche Evolution auch zu einer gesellschaftlichen führt, zu einer Weggabelung, an der Systeme auseinanderdriften, weil (gefühlt) die Gemeinsamkeiten fehlen, vor allem in Bezug auf die Leistungsunterschiede. Dass dieser Schritt keiner Genforschung bedarf, muss nicht ausgesprochen werden, denn das Bettler-Motiv zieht sich durch den ganzen Roman.
Nancy Kress’ Schlaflose sind eine jener genialen SF-Ideen, die Faszination und Relevanz in sich vereinen, und in Bettler in Spanien hat sie die Spannung, die das Thema bietet, im Rahmen von Leishas Lebensgeschichte optimal genutzt. In den einzelnen Abschnitten des Romans lässt sich durch Zeitsprünge eine langfristige gesellschaftliche Entwicklung verfolgen, und diese ausführliche Auseinandersetzung mit der Thematik gewährleistet einen tiefen Einblick in die Konflikte, die zwischen Eliten und dem Rest der Gesellschaft entstehen, allerdings, ohne eine Stellung zu beziehen oder das Grundproblem aufzulösen.

Blade Runner von Philip K. DickRick Deckard lebt mit seiner Frau auf der vom dritten (atomaren) Weltkrieg verwüsteten Erde, deren Bevölkerung dazu angehalten wird, auf die Kolonien im Sonnensystem auszuwandern. Zumindest jene, deren Erbgut nicht wie das von J.R. Isidore durch den Fallout verändert wurde. Dieser ist ein Mensch zweiter Klasse und liefert elektrische (gesellschaftlich verpönte) Ersatzhaustiere aus, als plötzlich eine geheimnisvolle Frau in seinen Apartmentblock einzieht. Rick Deckard arbeitet als Kopfgeldjäger und befördert illegal von den Kolonien remigrierte Androiden in den Ruhestand. Seine neue Herausforderung besteht darin, auch bei den neuen Nexus-6-Modellen Mensch und Android zu unterscheiden.

– Die automatische Weckvorrichtung der Stimmungsorgel neben seinem Bett weckte Rick Deckard mit einem fröhlichen kleinen Stromstoß. –

Zu Blade Runner liegt eine Rezension der Originalausgabe bei Bibliotheka Phantastika vor, dazu bitte hier entlang.

Corpus Delicti von Juli ZehMia Holl leidet, seit ihr Bruder, der aufgrund eines erschlagenden DNA-Beweises des Mordes überführt wurde, im Gefängnis den Freitod gewählt hat. Sie leidet so sehr, dass sie ihr Sportprogamm und die Überprüfung und Abgabe ihrer Körperdaten vernachlässigt. Dadurch gerät sie in die Mühlen der Bürokratie des Staates, der der “Methode” folgt, einer Regierungsform, in der Gesundheit der höchste und einzige Wert ist. Ihr Fall schlägt hohe Wellen, sie verstrickt sich immer tiefer, und die Kritik ihres Bruders an der “Methode” wirkt in ihr nach.

-Rings um zusammengewachsene Städte bedeckt Wald die Hügelketten.-
Mitten am Tag, in der Mitte des Jahrhunderts

Für junge Leser ist die Dystopie seit einer Weile im Trend, für Erwachsene scheinen die Höhepunkte des Subgenres dagegen schon längst von gestern zu sein. Aber rufen die Tatsache, dass die Klassiker langsam von der Gegenwart eingeholt werden, und das Einzughalten neuer Entwicklungen nicht nach unverbrauchten dystopischen Szenarien?
Schon kurz vor dem Boom der All-Age-Dystopie ist Juli Zeh mit ihrer Vision eines Überwachungs- und Gesundheitsterror-Staates in SF-Gefilde vorgedrungen und hat damit Themen aufgegriffen, die Lust machen, sich auf das “was wäre wenn?”-Spiel einzulassen.
Man könnte nun die x-te Überlegung über Nicht-Genre-Autoren anstellen, die ins Genre drängen (wobei nicht ganz klar ist, ob Zeh das wirklich beabsichtigt hat), doch der Fokus von Corpus Delicti liegt ohnehin nicht auf den SF-Elementen und dem Zukunftsentwurf, sondern auf rechtsphilosophischen Betrachtungen und der Beobachtung menschlicher Reaktionen auf gesellschaftliche Entwicklungen, die nur grob angerissen und mit zu wenigen Mosaiksteinchen konkretisiert werden, als dass man sich auch nur annähernd ein Gesamtbild zusammensetzen könnte. Sogar die Sprache des neuen Regimes, die seit jeher ein Medium für die dahinterstehende Ideologie darstellt, ist lediglich anhand einiger prägnanter Einzelheiten wie dem omnipräsenten Gruß “Santé!” herausgearbeitet.

Corpus Delicti ist ein durchaus spannend und geschickt mit Rückblenden und anderen Kniffen verschachtelter Roman, der nicht davor zurückscheut, nach allen Regeln der unterhaltungsliterarischen Kunst Nebenfiguren in Stellung zu bringen, die dann wie ein Uhrwerk ihre Funktion im Spannungsaufbau erfüllen, besonders in den (jawohl!) Action-Szenen. Letzten Endes erwächst die Spannung aber vor allem daraus, dass die meist passive, von außen bewegte Heldin unvorhersehbar handelt (oder eher das Handeln unterlässt) und so gut wie alles geschehen kann, ohne Konsequenz des Vorausgehenden sein zu müssen.
Kafkaeske Auslieferung an die Staatsmacht nimmt in der Tat auch den Großteil der Handlung des mit “Ein Prozess” untertitelten Romans ein, dem ein gleichnamiges Theaterstück vorausgegangen ist. Das Gewicht liegt dementsprechend auf den mit vielen Hintergründen ausgearbeiteten Gerichtsszenen, von denen Zeh auch sonst stilistisch nicht unbeeinflusst scheint. Die Abschnitte dazwischen haben dagegen etwas Skizzenhaftes, was durch die zunehmend extrem handelnden Figuren der Nachvollziehbarkeit des Geschehens nicht gerade zum Vorteil gereicht – besonders die Figurenbeziehungen bleiben kryptisch und die Charaktere selbst seltsam unlebendig, ihre biographischen Hintergründe, etwa Mia Holls Berufswissen als Biologin, werden zwar bei Bedarf ausgepackt und eingesetzt, färben aber sonst nicht auf das Innenleben ab.

Interessant bleibt vor allem die Ausgangsfrage nach der Natur des “Methode” genannten staatlichen Gesundheitsterrors und vor allem nach dem Menschen darin. Da aber die Methode der “Methode” sich vor allem schöner neuer Überwachungstechnik bedient, ist die Kritik am Überwachungsstaat und seinen in ihrer Komfortzone ungestörten Mitläufern in Corpus Delicti ausgeprägter als die am Gesundheitswahn, und damit hat das Szenario seine Unverbrauchtheit schnell verspielt. Für die rechtsphilosophische Fragestellung muss dann auch ein möglicher (Achtung, Spoiler im Link), aber konstruierter Fall herangezogen werden, die echten Probleme eines solchen Weltentwurfs bleiben Andeutungen oder ganz unausgesprochen – was der Handlung etwas von einem aufgesetzten Diskurs verleiht.
Zu einem guten Teil ist der künstliche Charakter Programm: Eine Welt ohne Krankheit, wie sie in Corpus Delicti ausgemalt wird, hat das Zeug zur (und ist in anderen phantastischen Szenarien eine) Utopie, hier wird sie zur blutleeren, sterilen und naturentfremdeten Welt. Ich bin krank, also bin ich?
Corpus Delicti liefert dazu eine interessante, mitunter spannende Betrachtung, der man jedoch das Konstrukt zu sehr ansieht, als dass sie auf überzeugende Weise Leben simulieren könnte.

The Crown Jewels von Walter Jon WilliamsDrake Maijstral, adlig, weltgewandt, kriminell, hat sich den Planeten Peleng ausgesucht, um ein paar krumme Dinger abzuziehen. Dort versammelt sich gerade so einiges mit Rang und Namen aus der Galaxis, beste Gelegenheiten also für Drake, die Reichen, Schönen und Wichtigen auf gesellschaftlichen Ereignissen auszuspähen und später auszunehmen. Doch auf Peleng geht es um mehr als nur Bälle, Blitzlichtgewitter und Abhängen im Landhaus: Insgeheim wird dort große Politik gemacht. Und Drake ist drauf und dran, mitten hinein zu schlittern …

– Drake Maijstral walked on soft leather buskins down the center of the Peleng City ballroom and never made a noise. He was light-footed by trade.-
Chapter One

SF und Humor sind eigentlich keine Genres, die sich oft in trauter Zweisamkeit zwischen zwei Buchdeckeln wiederfinden, mit Ausnahme vielleicht von parodistischen One-Night-Stands. Bei Walter Jon Williams’ Drake Maijstral-Trilogie läuft die Sache allerdings so geschmeidig, dass man beinahe an eine längerfristige Beziehung glauben könnte. Aber Williams nutzt auch einige Tricks, um die beiden zu verkuppeln: Die SF-Elemente stammen aus der fantasy-nahen Space Opera. Es gibt eine rückwärtsgewandte, die Galaxis überspannende Gesellschaft mit Bällen, Protokollen und Hierarchien, in der Hochzeiten und Beziehungen eine große Rolle spielen. Und in dieses opulente SF-Setting hat Williams das Motiv vom Gentleman-Dieb verfrachtet, der sich durch die oberen Gesellschaftsschichten bewegt.
Als besonderer Clou ist Drake Maijstral, ein Trickster-Jüngling mit persönlicher Vendetta, nicht einmal im eigentlichen Sinne kriminell, denn das gesellschaftlich anerkannte Konzept des „Allowed Burglar“ bringt einen gewissen Respekt vor meisterhaft abgezogenen Diebstählen mit sich, die in den stets der High Society hinterherspionierenden Medien abgefeiert werden und mit einem gewissen Ruhm einhergehen.

Für Reibung und unendliche Möglichkeiten, die Situation für glorreiche Diebestaten auszunutzen, sorgt ein bewährtes Zwei-Fraktionen-Konzept, in dem ein aggressives galaktisches Alien-Imperium mit sich zur eigenen Autorität gemausert habenden menschlichen Rebellen auf Augenhöhe verhandeln muss. Auf diesem diplomatisch delikaten Terrain bewegt sich die Handlung, auch wenn die epische Breite der Geschichte letztlich im Hintergrund bleibt, da sich The Crown Jewels vorrangig auf dem Planeten Peleng abspielt, auf dem der Tross der oberen Zehntausend wie ehedem das Wanderkönigtum eine Weile Halt macht. Trotzdem behandelt The Crown Jewels die Themen Eroberung, Überfremdung, Imperialismus, Loyalität und Fanatismus, jedoch auf spielerisch-leichte Weise. Wie auch anders, wenn die Eroberer fluffige … Katzenbären sind?
Für den SF-Einschlag sorgen vor allem die omnipräsenten Medien (nicht so weit weg von der heutigen Boulevardpresse) und die ausgeklügelte Technik – beides macht sich Drake bei seinen Beutezügen (und den Winkelzügen, um am Ende ganz smooth auf der legalen Seite und um einiges reicher dazustehen) gekonnt zunutze.

So viel also zu den Hintergründen, das eigentlich Spannende an The Crown Jewels ist die Umsetzung: In kurzen Abschnitten lässt Williams die Geschichte in einem extrem flotten Rhythmus über die Bühne tänzeln, manchmal sogar staccato: Es gibt tatsächlich Kapitel, die die Geschichte in nur einem Wort nach vorne katapultieren und das Konzept des Prosa-Erzählens ziemlich ausreizen. Ein Kunststück, das man eigentlich gelesen haben muss, um zu glauben, was da erzählerisch abgeht, sind die elaborierten Tanzszenen (es geht um Hoftänze mit wechselnden Partnern), die an den Höhe- und Wendepunkten der Geschichte zum Einsatz kommen.
Gelungener Slapstick-Humor ist eine feste Größe bei The Crown Jewels, genauso wie Wortspiele (man beachte den Titel, höhö) und ein generell spielerischer Umgang mit Sprache und Sprachebenen, der auch dazu dient, die liebenswerte Figurenriege zu charakterisieren, die bis in die kleinsten Nebenrollen Spaß macht, begünstigt durch die vielen Szenen- und Perspektiv-Wechsel, bei denen man Einblick in die schrulligen, edlen, verruchten oder überambitionierten Protagonisten bekommt, Menschen wie Aliens, vom Ex-Militär bis zum dumpfen Schläger.

Mit irrsinnigen Verfolgungsjagden, Keilereien mit viel Kollateralschaden an Keramik, spritzigen Dialogen und absurden Manövern des kriminellen Genies Drake mäandert The Crown Jewels zwischen Screwball-Komödie und Gesellschaftsstück und wirkt beinahe etwas sperrig, wenn es dann wirklich (aber nur kurz!) ernst wird.
The Crown Jewels hat keinen großen Tiefgang – allein schon um der vielen Geheimpläne willen muss es sich auch bei den Figuren eher am Äußeren als am Inneren entlanghangeln –, es ist eine Spaßlektüre, die die eingegliederten Genres auf die Spitze treibt und ein bisschen auf den Arm nimmt, ein tänzelnd leichtes Vergnügen, doch als solches durchaus meisterhaft choreografiert.

The Daedalus Incident von Michael J. MartinezLieutenant Weatherby dient im Jahr 1779 auf der stolzen Fregatte Daedalus in der Flotte Seiner Majestät, des Königs von England, inmitten eines Konflikts mit den Vereinigten Staaten von Ganymed, die sich soeben von der Krone abgespalten haben. Draußen in der Leere des Weltraums, den die riesigen Segler durchpflügen, nutzen aber noch ganz andere Kräfte diese Auseinandersetzung, um ihre hinterhältigen Pläne zu verdecken …
Im Jahr 2132 dient Lieutenant Jain in der Schutzmannschaft eines Bergbauunternehmens auf dem Mars, und sie erlebt hautnah, wie der Planet plötzlich geologisch verrückt spielt und die Minenkolonie in ernste Gefahr gerät …

-Mars is supposed to be dead, just a big hunk of cold rock hanging in space.-
July 24, 2132

Michael J. Martinez’ The Daedalus Incident ist für den geneigten Weltraum-Romantiker wie Ostern und Weihnachten an einem Tag: Es warten farbenprächtige Segelabenteuer, in denen Gentlemen säbelschwingend für Krone und Vaterland mit den Gewalten des Weltraums ringen, Freibeuter bekämpfen und auf den Sonnenwinden ihre Gegner einholen müssen – ja, wir sprechen hier von klassischen Segelschiffen, die sich in bester Space-1889-Manier aus den Ozeanen erheben und ins All aufsteigen. Und wenn man sich gerade mal in den unerfahrenen, aber dafür umso eifrigeren jungen Offizier Weatherby eingelesen hat, findet man sich gleich wieder in der Zukunft, ohne Äther und Segelschiffe, in einer beengten Minenkolonie auf dem Mars, wo es nicht mit rechten Dingen zugeht – dort ist die Raumfahrt zur Dienerin des Kommerzes geworden, und Lieutenant Shaila Jain hat bereits eine bewegte Karriere hinter sich, als sie auf diesem vermeintlichen Abstellposten landet.
Was haben die beiden völlig voneinander abweichenden Szenarien miteinander zu tun? Nun, diese Frage ist für einen Teil der Spannung verantwortlich, mit der The Daedalus Incident zu fesseln vermag.

Man liest abwechselnd entweder Weatherbys getreulich verfasstes Tagebuch über die immer haarsträubenderen Ereignisse, in die sich die Mannschaft der Daedalus verstrickt, nachdem sie zunächst als nette Geste einen Mord auf Merkur aufklären hilft, oder von den Fährnissen Jains, die inmitten von Erdbeben, rätselnden Wissenschaftlern und ungehaltenen Kumpeln die Ordnung zu wahren versucht und sich und ihrer Karriere mit ihrem ungezügelten Forscherdrang immer wieder ins Knie schießt. Die beiden Handlungsstränge sind perfekt abgestimmt: Es ergibt sich nicht nur nach und nach ein Bild der Zusammenhänge, sondern auch eine treibende Dynamik. Weatherbys Segelabenteuer sind eine Achterbahnfahrt aus Kämpfen, wilden Verfolgungsjagden, alchemistischen Wundern und Reisen durch den Raum und auf die Planeten des Sonnensystems. Während Weatherby energisch durch venusianische Dschungel stapft, ist Jain dagegen in ihre Mars-Station oder ihren Raumanzug eingepfercht und muss Informationen zusammenbringen und Geheimnisse ergründen, um zu verstehen, was auf dem Planeten vorgeht. Beim Lesen steht man damit vor dem herrlichen Dilemma, bei jedem Wechsel eigentlich am liebsten ein Kapitel überspringen zu wollen, nur um bei der Rückreise in den ersten Handlungsstrang wieder genauso fest am zweiten zu kleben.

Sowohl in den Mysterien auf dem modernen bzw. zukünftigen Mars als auch in den Abenteuern der Vergangenheit bildet Martinez gekonnt die Zwänge der jeweiligen Zeit in seinen gut ausgearbeiteten Hauptfiguren ab. Weatherby hält sich für einen sehr anständigen Menschen, obwohl er gerade erst an der Schwelle ist, vielleicht zu einem solchen heranzureifen, und seine Menschlichkeit unter Pflicht, Ehre und Anstand begräbt. Mit seiner aufrechten Haltung ist er ein Vorzeigeoffizier, gerade jung genug für den Krieg, aber für die Herausforderungen, die vor ihm stehen, muss er noch wachsen. Diesem etwas steifen Protagonisten stellt Martinez die progressive Frauenfigur Jain gegenüber, die immer kurz vor einem Disziplinarverfahren steht und den wirtschaftlichen Zwängen ihrer Zeit trotzdem relativ machtlos ausgeliefert ist, obwohl sie genau weiß, dass es eine schlechte Idee ist, den Rohstoffabbau unter den gegebenen Umständen weiterzutreiben. Auch die Nebenfiguren sind eine Pracht – auf der einen Seite der bescheidene Kapitän Morrow und ein Alchemist, der gerne zu tief in seinen Alembik schaut, auf der anderen Seite ein koketter französischer Geologe und die Stationskommandantin Diaz, die diplomatisch zwischen Bossen und Militär vermitteln muss, obwohl sie genauso gut zupackt und zuhaut wie Lieutenant Jain.

Das doppelte Abenteuergarn gipfelt schließlich in einige geniale Szenen, die die Herzen von SF-Fans höher schlagen lassen – Auftritte für den Mars-Rover, Sonnenstürme, Planetenseelen und Benjamin Franklin (auch ein Beispiel dafür, dass man nach und nach Abweichungen und Übereinstimmungen von Weatherbys Welt mit der realen Geschichte entdecken kann) sind dabei inkludiert.
Am Ende sind der verzauberte Kosmos und die Welt der “realen” Raumfahrt (mitsamt realem Kapitalismus) gleich spannend – vielleicht auch, weil The Daedalus Incident zwei Elemente prominent zur Schau stellt, die sonst in der SF ein wenig zu selten vorkommen: Schiffe, die durch den Äther fliegen, und Astronautinnen, die zum Jupiter fliegen.

Degrees of Wrong von Anna Scarlett2053: Nach dem Tod ihrer Eltern lebt Dr. Elyse Morgan ein bescheidenes Leben auf einer kleinen Insel, wo sie die Menschen ihres Dorfes behandelt und recht abgeschottet von den politischen Machtspielen der Außenwelt lebt. Alles ändert sich, als eines Tages die beiden großen gegnerischen Parteien auf der kleinen Insel einfallen um dort ihren Disput auszutragen. Bis klar wird, dass sie beide nur ein Ziel haben: Elyse.
Ehe sich die junge Ärztin versieht, wird sie von den Soldaten der UOC gerettet (gekidnappt) und auf ein Unterwasserschiff gebracht, wo sie die Heilung für den tödlichen Virus findet soll, der auch ihre Eltern getötet hat.

– I was too tired for his charm to be charming. In fact, since I’d already bludgeoned the medical code of ethics today, overdosing him to shut him up seemed an acceptable degree of wrong. –

Degrees of Wrong startet mitten im Geschehen und ohne lange Eingewöhnungsphase mit Dr. Elyse Morgan, die gerade einen vorlauten Soldaten zusammenflickt. Es ist ein mildes Science-Fiction Abenteuer, das einen in die Tiefen der Ozeane entführt und dabei mindestens einmal pro Seite dazu verführt, laut aufzulachen. Vielleicht erinnert sich noch jemand an die TV-Serie SeaQuest, die in den 90ern lief? Degrees of Wrong erinnert sehr stark an diese Serie und weckt vielleicht auch deshalb nostalgische Gefühle in mir, war ich doch ein bekennender Fan der SeaQuest und wollte fast nichts lieber, als auf diesem Unterwasserschiff durch die Ozeane streifen.

In Degrees of Wrong nun befinden wir uns im Jahre 2053 n.Chr. und die politische Situation hat sich recht umfangreich verändert. Die Nationen haben sich zusammengeschlossen in der Organisation UOC (United Ocean Corps) und den unabhängigen Nationen, die nicht näher benannt werden, aber als Rebellen gelten und terroristische Bio-Angriffe auf die Nationen der UOC verüben. Die schlimmste Erfindung dieser Terroristen ist das Virus HTN 4 – eine der Pest ähnliche Krankheit, die innerhalb von 48 Stunden zum unweigerlichen Tod führt und für die es noch keine Heilung gibt.
Dr. Elyse Morgan ist aufgrund einer ihrer Studien zu diesem Virus auf den Radar der Rebellen gelangt und die UOC greift ein, um Elyse vor der Entführung zu bewahren. Dummerweise müssen die eigentlich helfend gesinnten Soldaten dafür ebenfalls zu Entführern werden, denn unsere Ärztin reagiert auf beide Parteien recht allergisch. Im Nu wird Elyse mit einem Elektroschocker in die Bewusstlosigkeit geschickt und zu ihrer eigenen Sicherheit auf die »Bellator« gebracht, ein Unterwasser-Militärschiff, auf dem nicht nur ein modernes Labor wartet, mit allem, was sie sich nur wünschen kann, sondern auch ein Kapitän, der es sich schon bald zur Aufgabe macht, Elyse für sich zu gewinnen.
An dieser Stelle kommt jene Thematik ins Spiel, die die Hälfte der Leser nun vermutlich in die Flucht schlagen wird: Romantik!

So peinlich es mir vielleicht sein sollte, ich komme nicht umhin zu sagen, dass Degrees of Wrong gerade wegen dieser sich entwickelnden Beziehung zwischen Elyse und Nicoli Marek zu einem Pageturner wurde. Der Handlungsstrang nimmt recht viel Platz ein, man muss also wirklich dafür aufgeschlossen sein, sich einem romantischen Katz-und-Maus-Spiel zu stellen, das seinesgleichen sucht. Es ist einfach zu komisch, wie sich Elyse und Nicoli mit bissigem Witz ebenbürtig begegnen, denn ganz so einfach ist die Lage nicht. Elyses Weigerung, sich trotz ihrer Zuneigung nicht mit dem Kapitän einzulassen, erhält eine verständliche Begründung. Während man als Leser nun mitfiebern darf, ob sie sich am Ende kriegen oder es doch besser sein lassen, wird man mit viel Humor und neckischen Streitereien belohnt, während Elyses mütterliche Freundin zusätzlich regelmäßig Sabotage an deren Standhaftigkeit verübt.

Hiervon einmal abgesehen bietet Degrees of Wrong eine Heldin mit Verstand und messerscharfer Zunge in jeder Lebenslage. Egal ob sie gerade entführt, verhört, becirct, vergiftet oder zurechtgewiesen wird, Elyse kann einfach nicht aus ihrer Haut und kontert alles mit einem frechen Mundwerk – auch wenn sie genau weiß, dass sie dafür noch mehr Ärger bekommen wird. Sie ist selbstbewusst und lässt sich nicht gerne Vorschriften machen. Zum Glück befinden sich gut 40 Kilo Schokolade an Bord, mit denen sich die Nerven beruhigen lassen. Unfehlbar ist sie dabei wahrlich nicht, und das macht sie umso sympathischer.
Nebenrollen gibt es bei diesem Roman nur wenige, die wirken dafür größtenteils recht familiär und bringen ihre eigene Prise Witz mit in die Geschichte ein. Die Wendungen sind oft überraschend und unerwartet und kündigen sich nicht schon 50 Seiten vorher an. Sicherlich, ein zwei Dinge muss man davon ausnehmen.

Der Weltenbau in Degrees of Wrong kommt subtil daher. Man gewinnt ein gutes Gefühl für das Schiff und seine Besatzung und auch für den Grund der Meere, so dass man als Leser den dringenden Wunsch entwickelt, sich in einen der Pods (kleine Transport-U-Boote, um sich zwischen dem Festland und der Bellator zu bewegen) zu setzen und selbst auf Unterwasserabenteuer zu gehen. Unnötig lange Umschreibungen sucht man hier vergeblich, die bestehenden Gegebenheiten werden eher beiläufig und selbstverständlich erklärt. Positiv aufgefallen ist auch die selbstverständliche Vermischung aller möglichen ethnischen Gruppen.

Was man negativ ankreiden könnte, ist, dass die Suche nach der Heilung ein wenig ins Abseits gerät und die Lösung letztlich etwas zu einfach scheint. Denn Degrees of Wrong ist vordergründig eine locker-leichte Romanze für Erwachsene mit Science-Fiction-Hintergrund. Wem also einmal der Sinn nach dieser Kombination steht, der wird mit Degrees of Wrong viele amüsierte Stunden verbringen können.

Maxim Kammerer, Raumpilot der Gruppe für Freie Suche, Erdbewohner und fest verwurzelt in seiner irdischen sozialistischen Utopie, muss auf einem Planeten notlanden und findet sich in einem Land wieder, das lebensfeindlicher nicht sein könnte: der radioaktiv verstrahlte Staat wird von einer Militärdiktatur regiert, die Bürger ergehen sich in blindem Patriotismus. Maxim gerät auf der Suche nach einer Möglichkeit, den Planeten zu verlassen, in die Mühlen der Diktatur und weiß bald nicht mehr Gut von Böse zu unterscheiden …

Von denen, die am Boden lagen, würden einige sterben, andere waren bereits tot. Und jetzt wusste er: Sie waren Menschen, nicht Affen oder Panzerwölfe, wenn auch ihr Atem stank, ihre Berührung schmutzig, die Absichten viehisch und abscheulich waren. Trotz allem empfand er Bedauern und fühlte Verlust. Ihm war, als habe er gerade etwas von seiner Reinheit verloren, ein entscheidendes Stückchen Seele des früheren Maxim. Er wusste, sein früheres Ich war jetzt für immer verschwunden, und das war bitter – weckte aber auch einen bis dahin unbekannten Stolz.
– Robinson, S. 84

Maxim Kammerer, moderner Robinson, Soldat, Terrorist, Sträfling – er ist weit gereist, um Zustände anzutreffen, die wir von unserer Erde kennen. Für ihn jedoch liegen irdische Kriege, atomare Zerstörung und Diktatoren so weit in der Vergangenheit, dass ihre Namen bereits in Vergessenheit geraten sind; der Diktator „Hilmer oder so ähnlich“ und seine Verbrechen sind nicht mehr gegenwärtig. Umso härter trifft ihn die geistige Verrohung der Bevölkerung der „bewohnten Insel“, deren Weltbild eine perfekte Parabel ihrer Egomanie ist: in ihrem diktierten, unangefochtenen Weltbild leben sie auf der Innenseite einer Kugel; der Blick ist immer auf das eigene System gerichtet, dessen zentrales Merkmal die Unveränderlichkeit ist.
In dieser Welt wird Maxim, der von außen kommt und nicht dem System zugehörig ist, als Übermensch angesehen. Die Anstrengungen, ihn in das diktatorische System zu integrieren, müssen jedoch auf Dauer zwangsläufig scheitern – die korrumpierenden Strukturen versagen an ihm, die Ideologie, die sich einzig auf gewaltsam eingeforderte Gefügigkeit stützt, ist dem frei denkenden Menschen zutiefst zuwider und nährt seinen Hunger nach Widerstand, Rache und Veränderung.

Bald ist Maxim von Freunden zur Heldenfigur stilisiert, von Feinden als Übermacht gefürchtet, und seine Kraft, sein breitgefächertes Wissen und seine heilenden Fähigkeiten bewirken das ihre. Doch nicht allen ist es vergönnt, sich in blinder Bewunderung zu ergehen: schnell wird dem Leser bewusst, dass Maxim trotz allem keine glorreiche Verheißung bringen kann. Doch die Desillusionierung des gestrandeten Raumfahrers selbst schreitet nur langsam voran; zu übermächtig ist die Hoffnung, die Regierung schließlich doch noch zu stürzen, den Menschen Frieden zu bringen, den Planeten doch noch zu retten.

Dieser ausgedehnte Verstehensprozess verleiht dem Science-Fiction-Klassiker Züge eines Abenteuerromans. Maxim wechselt von einer Terrorzelle – staatlich organisiert oder im Untergrund tätig – in die nächste und stößt auf der Suche nach einer Möglichkeit, seine Ideale durchzusetzen, allerorts auf Widerstand. Die Organisation des staatlichen Militärs wurde durch die Unbekannten Väter, die anonymen Diktatoren des Reiches, perfektioniert; der Widerstand ist in mannigfaltige Splittergruppen mit höchst unterschiedlichen Zielen zerteilt und, wie Maxim schmerzlich erfahren muss, in größerem Rahmen nicht handlungsfähig. Ihr Aktionismus geht über organisierte Himmelfahrtskommandos nicht hinaus; langfristige, gemeinsame Ziele gibt es in der zerstrittenen Untergrundbewegung nicht. Schmerzlich klar formulieren die Strugatzkis die Kraft und die Grenzen des Widerstandes gegen ein übermächtiges System.

Ein wiederkehrendes Thema der Brüder Strugatzki wird auch in diesem Roman subtil bearbeitet: Wann hört der Mensch auf, Mensch zu sein? Die Definition von Menschlichkeit wird von der Militärdiktatur auf optische und biologische Faktoren begrenzt – die Opfer einer Genmutation, „Entartete“ genannt, werden vom Staat erbittert gejagt, obgleich sich die höchsten Ränge aus ihren Reihen rekrutieren. Denn den Entarteten zueigen ist eine besondere Reaktion auf die Emitterstrahlen, die von den Diktatoren eingesetzt werden, um die Bevölkerung zu passiven Akteuren innerhalb des Systems zu degradieren. Diese besondere Reaktion macht sie zu gefährlichen Gegnern – oder zu mächtigen Verbündeten. Es ist eine feine Ironie, dass diese Entarteten und die Mutanten der Wüste, deren bloßer Anblick Maxim in größte Furcht versetzt, mehr Menschlichkeit in sich tragen, als die staatlich anerkannten Menschen, die wie geistlose Maschinen funktionieren. Und so münden alle Kämpfe, Kriege und äußeren Konflikte in der Frage, wie viel Maxim von seiner eigenen Menschlichkeit aufzugeben bereit ist, um seine Ideale den Prinzipien einer Unterdrückungskultur entgegenzustellen.

Arkadi und Boris Strugatzki haben mit Die bewohnte Insel* (Обитаемый остров) eine Studie des Widerstandes geschrieben, ein Plädoyer für Vernunft und einen Roman über die Sinnlosigkeit der durch das Gewissen gebilligten Zerstörungswut. Sie loten die Untiefen des menschlichen Geistes aus, ohne sich daran zu ergötzen und analysieren ihn genau – und deshalb bleibt Maxim immer das, was er ist: kein Held, sondern ein Erdenmensch.

* Eine Anmerkung zu den Ausgaben: vom rezensierten Roman Die bewohnte Insel existieren mehrere gekürzte Versionen. Erstmals ungekürzt ist das Buch 2010 bei Heyne erschienen, im Strugatzki-Sammelband 1. Diese Ausgabe ist deshalb dringend zu empfehlen und hat außerdem den Vorteil, dass die beiden Folgebände ebenfalls enthalten sind.

Cover von The Dispossessed von Ursula K. Le GuinVor über 100 Jahren wurde Anarres, der karge Mond des fruchtbaren Planeten Urras, besiedelt. Die Kolonisten waren Ausgestoßene, Anhänger einer marxistisch-anarchischen Bewegung (Odonianismus), die auf den Mond verfrachtet wurden, um Ruhe und Frieden auf Urras wiederherzustellen – aus Sicht urrastischer Regierungen – bzw. um dort eine ideale, neue Gesellschaft zu errichten – aus Sicht der Siedler. In dieser egalitären, regierungslosen Gesellschaft ist Shevek aufgewachsen, zutiefst geprägt von Odos Idealen, doch nun möchte der berühmte Zeitphysiker als erster Anarresti wieder zurück nach Urras.

-It is hard to swear when sex is not dirty and blasphemy does not exist.- S. 258

Ursula K. Le Guins The Dispossessed (Planet der Habenichtse (1976), Die Enteigneten (2006)) gilt als eine der letzten modernen Utopien, jedoch deutet der Untertitel An ambigious utopia (bzw. Eine ambivalente Utopie) bereits darauf hin, dass dies bei weitem kein plakativer Heile-Welt-Roman ist. Stattdessen schickt sich die Autorin mit unglaublichem Gespür für menschliche Gesellschaften, Feinheiten und Details an, einen alternativen Gesellschaftsentwurf zu durchleuchten. All dies geschieht durch die Augen des genialen Physikers und großen Idealisten Shevek, dessen Persönlichkeit, Geschichte und Entwicklung das Buch zu einem spannenden Roman (anstatt zu einer reinen philosophisch-politischen Abhandlung) macht, indem er dessen großen Themen für den Leser/die Leserin „erfahrbar“ macht.

In zwei Handlungssträngen, die abwechselnd erzählt werden, erfährt man etwas über Sheveks Erlebnisse auf Urras (Handlungsstrang 1) und über sein Leben bis zur Abreise von Anarres (Handlungsstrang 2). Während man auf Urras mit Spannung verfolgt, wie sich Shevek in einer Gesellschaft zurechtfindet, deren Werte, Gepflogenheiten und Strukturen ihm fremd sind, erfährt man zugleich mehr über die dortigen – dem Leser/der Leserin sicher rasch sehr vertraut erscheinenden – Verhältnisse, wo wissenschaftliche Neugier und (nationaler und männlicher) Chauvinismus, Naturschönheit und menschliche Abgründe nahe beieinander liegen. Anders als Anarres ist Urras zudem in verschiedene Nationen gegliedert, mit unterschiedlichen Wirtschafts- und Regierungssystemen, stets in einen schwelenden Konflikt um Macht- und Einflusssphären verwickelt. In diesem Umfeld ist Shevek nicht einfach nur Gast oder akademischer Kollege auf Forschungsaufenthalt, sondern auch Ressource, Risikofaktor und Hoffnungsträger, wie er bald feststellen muss.
Auf Anarres wiederum findet man mehr über Sheveks privates Leben und seinen Werdegang zum planetenübergreifend berühmten Zeitphysiker heraus. Dabei beweist Ursula K. Le Guin nicht nur ein Händchen für das Individuelle (Sheveks Liebesgeschichte ist so wunderbar unkitschig und doch so berührend), sondern auch für dessen Verflechtungen mit dem Gesellschaftlichen. Anarres‘ Gesellschaft mag auf Idealen errichtet sein, aber das macht sie nicht zu einer perfekten Form des Zusammenlebens – es ist vor allem eine zutiefst menschliche Gesellschaft mit kleineren Unzulänglichkeiten, Konflikten, Eifersüchteleien sowie familiären Dramen und sie ist auch nicht statisch, sondern verändert sich. Diese Wandlung von einer revolutionären, sich selbst nach eigenen Idealen schaffenden zu einer “postrevolutionären”, gefestigten und diese Ideale verteidigenden Gesellschaft ist es, die einen bedeutenden Handlungsmotor darstellt.

Gerade dieses Augenmerk auf die Ambivalenzen der Gesellschaften auf Urras und Anarres zeichnet den Roman aus. Die Verquickung der Lebensgeschichte des sehr sympathischen Shevek mit weitreichenderen Themen, vielen kleinen und großen Weisheiten und einer wunderbaren Sprache machen aus dem eher geruhsamen Roman zudem einen „pageturner“, wenn auch nicht im herkömmlichen Sinn mit einem cliffhanger am Ende jedes Kapitels. Allerdings nimmt die Handlung des Buches im letzten Drittel deutlich an Fahrt auf, ohne dass sich die Ereignisse überstürzen, und gegen Ende wird sogar noch der Horizont für das Universum jenseits von Urras und Anarres geöffnet. Alles in allem eine unbedingte Empfehlung, insbesondere an jene, die sich gerne mit gesellschaftlichen Fragestellungen und Gedankenspielen beschäftigen.

Diving Mimes, Weeping Czars and Other Unusual Suspects von Ken ScholesDie siebzehn Kurzgeschichten führen diesmal auf die Erde nach einem Alien-Angriff, Kolonien auf fernen Planeten, deren Siedler längst die Technik vergessen haben, in die 30er Jahre des vorigen Jahrhunderts, ins Herz eines Galaktischen Imperiums, in eine Bar irgendwo im Westen und an etliche andere Orte zu anderen Zeiten.

-Frederico leaned close to smell the poison on his thirteenth wife’s cold, dead lips.-
A Weeping Czar Beholds the Fallen Moon

Auch Ken Scholes’ zweite Sammlung von Kurzgeschichten – eine Form, in der der Autor zu Hause ist wie der Fisch im Wasser – bietet wieder einen kreativen Reigen von vor allem thematisch und durch ihre überbordende Phantasie verbundenen Episoden, die völlig verschiedenen Subgenres zuzuordnen sind und die Tür zu ihren jeweiligen Welten einmal weit aufreißen, um sie nach einem kurzen Blick wieder zu schließen.
Das Nachwort verrät – falls man es sich nicht aus den Texten selbst erschließen konnte – die Zugehörigkeit einzelner Geschichten zu größeren (meist noch ungeschriebenen) Zyklen oder einem gemeinsamen Setting.

Zwei der Geschichten gehören zur Psalms of Isaak (Die Legende von Isaak)-Reihe, darunter die lange Eröffnungs-Erzählung, die eine gute Ergänzung zum zweiten Band der Reihe darstellt und in eine frühere Ära der Benannten Lande führt. Of Missing Kings and Backward Dreams and the Honoring of Lies ist dagegen ein früher Entwurf für den ersten Band, als dieser noch als Zyklus aus mehreren Kurzgeschichten konzipiert war, und gibt einen guten Einblick in Scholes’ schöpferischen Prozess.
In beiden Geschichten tritt eines seiner großen Talente zutage: Mit der Weltschöpfung auch auf kleinstem Raum mehr zu vermitteln als andere in ganzen Zyklen und dieses Grundkonzept der Fantasy, das Simulieren von großen Welten mit wenigen Worten, damit auf die Spitze zu treiben.
In beinahe jeder Geschichte in Diving Mimes and Weeping Czars kann man staunend davorsitzen, wenn dieser Trick wieder und wieder gelingt, etwa in der knallig bunten und tieftraurigen postapokalyptischen Erde der Four Clowns of the Apocalypse and the Mecca of Mirth, die sich schnell ein neues Bezugssystem aus Mythen und Geschichten zugelegt haben, oder im pangalaktischen Invisible Empire of Ascending Light, das schon etliche Schismen hinter sich hat und in der tragischen Erzählung nur eine Ahnung der Geschichten vermittelt, die sich innerhalb seiner Grenzen abspielen könnten.
Dieses unerwähnt bleibende Mehr, das in vielen Geschichten der Sammlung mitschwingt, ist mitunter Scholes’ größte Trumpfkarte.

Eine andere sind seine Themen: Fast alle Geschichten haben spirituelle, aber auch religionskritische Untertöne, in einigen rücken sie auch in den Vordergrund, wie etwa bei On the Settling of Ancient Scores, wo es Gott und der Teufel in einer Bar austragen wollen, oder The God-Voices of Settler’s Rest, einer melancholischen Rückschau auf ein Leben, das einer ominösen Religion gewidmet war.
Auf verschiedenen Wegen nähert sich Scholes auch dem Umgang mit dem Tod (absurd und tragikomisch, aber psychologisch unfehlbar in Grief-Stepping to the Widower’s Waltz, mit eindeutig durchschimmernder Eigenerfahrung in The Taking Night). Zwei Liebesgeschichten bereiten auch dieses Thema verspielt und geschickt auf: Love in the Time of Car Alarms ist eine niedliche, aber unkitschige Romanze in Scholes’ Superhelden-Universum, There Once Was a Girl in Nantucket reiht die Liebe als ein weiteres Element in eine Parade von surrealen Ereignissen ein.

Viel Vergnügen machen auch zwei Geschichten, die auf den Artus-Mythenkreis zurückgreifen, diesen aber sehr ungewöhnlich umsetzen: eine entpuppt sich als auf schlichte Weise schön und bleibt dicht an ihrem adoleszenten Helden, der in die Fußstapfen von Tom Sawyer und Huckleberry Finn zu treten scheint, die andere tischt ein kurioses, drastisches Setting auf und wird von Scholes’ Inszenierung der Heldenwerdung seiner Figuren getragen – wie schon in früheren Geschichten versteht er es, völlige Außenseiter in diese Rolle zu drängen und ihnen in den richtigen Momenten Pathos zu verleihen.
Nicht nur in dieser Geschichte ist die Zeit nach der Apokalypse ein Thema, zu dem Scholes immer wieder zurückkehrt – er beschreibt Neuanfänge, oft Rückfälle auf niedrigere Entwicklungsstufen, oder eine völlige Veschiebung des gesellschaftlichen Paradigmas, meist weg von der Rationalität, hin zum Glauben oder zu Welten, in denen Mythen und Geschichten Realität stiften.

Diese Mythen zaubert er aus dem Hut, als wären sie im Dutzend billiger – Ähnlichkeiten und gemeinsame Ursprünge lassen sich feststellen, genauso, wie sich nach und nach ein Mosaik aus Geschichten ergibt, die Teil eines größeren Entwurfs sind. Selbst in den kürzesten Geschichten, dem poetischen SF-Action-Kracher (!) The Night the Stars Sang Out My Name und der düsteren und trotzdem warmherzigen Endzeit-Episode What Child is This I Ask the Midnight Clear, scheut sich Scholes nicht, eine Fülle von Hintergründen durchscheinen zu lassen, die auf mühelose Weise authentisch wirkt.
Eines der Highlights der Sammlung, The Second Gift Given, ist dann auch zugleich Schöpfungs- und Zukunftsmythos und kann außerdem gut als Beispiel dafür dienen, dass die anspruchsvollen Konstruktionen des Weltenbaus niemals die menschliche Basis der Geschichten überragen: Es behandelt ein moralisches Thema, mit dem beinahe jeder Mensch irgendwann einmal konfrontiert wird, auf so einfühlsame Weise und gleichzeitig mit einem solchen Weitblick, dass man schon allein für diese eine Geschichte unter siebzehn diese Sammlung ins Regal stellen sollte.

Cover von Do Androids Dream of Electric Sheep? von Philip K. DickRick Deckard lebt mit seiner Frau auf der vom dritten (atomaren) Weltkrieg verwüsteten Erde, deren Bevölkerung dazu angehalten wird, auf die Kolonien im Sonnensystem auszuwandern. Zumindest jene, deren Erbgut nicht wie das von J.R. Isidore durch den Fallout verändert wurde. Dieser ist ein Mensch zweiter Klasse und liefert elektrische (gesellschaftlich verpönte) Ersatzhaustiere aus, als plötzlich eine geheimnisvolle Frau in seinen Apartmentblock einzieht. Rick Deckard arbeitet als Kopfgeldjäger und befördert illegal von den Kolonien remigrierte Androiden in den Ruhestand. Seine neue Herausforderung besteht darin, auch bei den neuen Nexus-6-Modellen Mensch und Android zu unterscheiden.

– ‘Dial 888,’ Rick said as the set warmed. ‘The desire to watch TV, no matter what’s on it.’ –
S. 4

Do Androids Dream of Electric Sheep? ist ein Klassiker der SF-Literatur, vielen ist sicherlich auch die Verfilmung des Stoffes durch Ridley Scott unter dem Titel Blade Runner ein Begriff. Wer den einen schon kennt, kann ruhigen Gewissens zum anderen greifen, denn der Handlungsverlauf unterscheidet sich doch deutlich, sodass sich niemand vor Spoilern fürchten braucht. Klassiker zu rezensieren ist nicht einfach, schließlich ist die Bewertung ja schon längst vorhanden. Aber warum könnte der Roman diesen Status erlangt haben?

Das könnte einerseits an der spannenden Story liegen oder andererseits an den Themen, die im Verlauf der Handlung angesprochen werden, wahrscheinlich liegt es aber daran, dass diese beiden Elemente so wunderbar miteinander verflochten sind. Die tiefgreifenden Fragen, die Dick in diesem Zusammenhang über das Verhältnis von Mensch-Maschine, organischem und mechanischem Leben aufwirft, sind wunderbar in den Handlungsverlauf, die Figurenentwicklung und die Facetten der dystopischen Welt eingeflochten, die dem Leser/der Leserin nach und nach präsentiert werden. Die Frage, was organisches Leben von mechanischem unterscheidet, wird im Zuge des Romans immer wieder neu gestellt, und gerade weil handlungsimmanent Empathie als hochoffizielles und durch einen standardisierten Testapparat überprüfbares Kriterium für das Menschsein gilt, eröffnet sich ein breiter Interpretationsspielraum, der den Roman so denkwürdig macht.

Gleichzeitig wird man vor allem vom Handlungsstrang um Rick Deckards Jagd auf die illegalen Androiden, der mit einigen interessanten Wendungen aufzuwarten weiß, durch den dünnen, aber sehr dichten Roman gezogen. Herauszufinden, welche der auftretenden Figuren als Android klassifiziert werden und welche nicht, wird ebenfalls schnell zur Triebfeder für das Geschehen. J.R. Isidores Anteil an der Story ist demgegenüber deutlich begrenzter, aber deswegen nicht unwichtig, eröffnet er doch immer wieder neue Perspektiven auf gewisse Aspekte der Handlung und liefert für die erste Hälfte des Romans eine sympathische Alternative zum unterkühlt-rationalen Kopfgeldjäger. Deckard gewinnt aber zunehmend an charakterlicher Tiefe und entwickelt sich zu einem interessant-tragischen Protagonisten, wenn auch vielleicht nicht zu einem Sympathieträger.

Do Androids Dream of Electric Sheep? beeindruckt also besonders durch die enge Verzahnung von spannender, wendungsreicher Handlung, gelungener Charakterzeichnung und techno-philosophischen Fragestellungen, die auch heute noch aktuell sind. Auf Deutsch ist der Roman unter dem Titel Träumen Androiden von elektrischen Schafen? bzw. Blade Runner erschienen.

Cover von Embassytown von China MiévilleAvice Brenner Cho ist in Botschaftsstadt auf dem Planeten Arieka aufgewachsen. Umgeben von einer Luftblase, um die Menschen vor der für sie giftigen natürlichen Atmosphäre des Planeten zu schützen, bildet Botschaftsstadt eine kleine Kolonie, die vor allem in linguistischer Hinsicht einzigartig ist. Denn die insektioden Ariekei sprechen mit zwei Stimmen gleichzeitig, können nicht lügen und nur mit Lebewesen kommunizieren, die selbst mit zwei Stimmen sprechen. So hat sich in Botschaftsstadt eine eigene Hierarchie rund um die “Botschafter” gebildet, Beinahe-Klone, geschaffen, um wie ein Wesen mit zwei Stimmen zu wirken. Als jedoch das imperiale Zentrum Bremen einen neuen Botschafter entsendet, gerät Avice’ Welt plötzlich aus den Fugen …

-The miab splits, sending blades of hull matter viciously airborne. Something from the immer comes out. […] It was put down quickly. They hammered it with sometimes-guns, that violently assert the manchmal, this stuff, our everyday, against the always of the immer.- S. 22/23

Wer schon einmal Leseerfahrungen mit China Miéville gesammelt hat, der ahnt wahrscheinlich schon, dass einen wieder ein ganzer Strauß phantastischer Vorstellungen, Szenarien und Kreaturen erwartet. Denn auch wenn sich Embassytown relativ deutlich einem Genre – nämlich der Science Fiction – zuordnen lässt, was ungewöhnlich ist für Miéville, so finden sich darin doch viele Tugenden und Motive wieder, die typisch sind für den britischen Autor. Zwar ist Embassytown ein SF-Roman und bietet in der ersten Hälfte und am Schluss sehr viel Entdeckergeist und Raumfahrerflair, der Großteil des Buches ist jedoch bestimmt von Miévilles Faszination für das Urbane und so bildet die namensgebende Stadt auch den wichtigsten Handlungsschauplatz. Die fremdartigen, faszinierenden und monströsen Aspekte von Botschaftsstadt sowie der sie umgebenden Ariekei-Stadt zu erforschen, die sich darin abspielenden Machtspielchen zwischen verschiedenen Fraktionen und wechselnden Allianzen kennenzulernen, macht einen Großteil des Reizes von Embassytown aus. Denn Miéville versteht es erneut, seine Welt mit einzigartigen Geschöpfen zu füllen und die Fähigkeit der Ariekei organische Materie und Technologie zu chimärenartigen Maschinen, Waffen oder auch Gebäuden zu verschmelzen sowie die ganze sich daraus ergebende Ökonomie sorgen für unfassbar eindrückliche Szenen.

Aber dieses Kennenlernen der Welt passiert quasi im Vorbeigehen, während man in zwei verschiedenen Zeitsträngen einerseits die Ereignisse nach dem Eintreffen des neuen Botschafters verfolgt und andererseits mehr über Avice, ihre Kindheit in Botschaftsstadt, ihre Jahre als Weltraumreisende und ihre Rückkehr in ihre Heimatstadt erfährt. Dieser Art Exposition hat Miéville viel Platz eingeräumt, was dem Roman sehr gut tut. Zwar schreitet dadurch die eigentliche Handlung längere Zeit weniger rasch voran, es halten einen jedoch sowohl das Setting – etwa Miévilles eher philosophische als physikalische Lösung für intergalaktische Reisen durch den zeitlosen Raum des “immer” -, als auch die Heldin selbst bei der Stange, die eine der zugänglichsten ProtagonistInnen ist, die Miéville bisher erschaffen hat.

Das Faszinierendste an Embassytown und zugleich dasjenige, das Lesern und Leserinnen wohl am meisten Kopfzerbrechen bereiten dürfte, ist das Hauptthema des Romans, nämlich Sprache oder konkreter “die Sprache” (im Original: “Language”, im Gegensatz zu jeder anderen “Sprache”, “language”) der Ariekei. Dass sie gleichzeitig mit zwei verschiedenen Mündern in zwei unterschiedlichen Tonlagen sprechen, ist dabei noch das herkömmlichste an der Sache. “Die Sprache” ist nämlich nicht wie jede andere durch Signifikant (das Bezeichnende), Signifikat (das Bezeichnete) und die Beziehung zwischen den beiden bestimmt, sondern sie kann nur das ausdrücken, was in der Welt ist. Das heißt auch, dass die Ariekei nicht lügen können. Durch die Ankunft der Menschen verändert sich diese Beziehung der Ariekei zu ihrer Umwelt jedoch langsam aber nachhaltig und wird schließlich durch den neuen Botschafter erschüttert. Welche dramatischen Folgen dies zeitigt und wie damit umgegangen wird, macht den eigentlichen Plot des Romans aus, der besonders im letzten Drittel des Romans rasant zulegt und trotz des sprach- und gesellschaftsphilosophischen Themas nichts an Spannung vermissen lässt. Dabei vermeidet Miéville gekonnt Exotismen, sondern spielt sogar mit dem Bild vom “edlen Wilden”, so wie der immer mal wieder aufblitzende große Rahmen eines galaktischen Imperiums gewisse Parallelen zur Endphase des Imperialismus im 20. Jahrhundert aufweist und Raum für weitere Romane in diesem Universum böte.

Natürlich ist auch Miévilles idiosynkratischer und neologismenreicher Schreibstil wieder mit von der Partie, der die passenden Wortungetüme zu den fiktiven Monstrositäten liefert. Dieser Roman ist damit sowohl für Miéville-Kenner, als auch für solche, die es noch werden wollen, zu empfehlen, besonders aber jenen, die sich gerne mit Sprache befassen.

Dr. Die ersten Menschen auf dem MondCavor, englischer Wissenschaftler par excellence, erfindet einen Stoff, welcher der Schwerkraft trotzt und es ihm ermöglicht, ein Raumschiff zu bauen, das ihn zum Mond trägt. Gemeinsam mit Bedford, einem gescheiterten Geschäftsmann, betritt er als erster Mensch den Mond. Doch schon bald wird klar, dass weder die unbarmherzige Atmosphäre, noch die absonderliche Vegetation oder die fremden Bewohner des Erdtrabanten die größten Gefahren für diese beiden englischen Gentlemen und ihre Mission sind: es sind sie selbst.

“Was haben Sie denn da?”, fragte ich.
“Haben Sie denn nichts zu lesen mitgenommen?”
“Mein Gott! Nein.”
“Wir werden in dieser Kugel den Weltraum durchfliegen und absolut nichts zu tun haben.”
– Im Inneren der Kugel, S. 56

So manche Zukunftsvision wird unsanft von der Realität eingeholt und offenbart entweder visionäre Weitsicht, naiv-optimistischen Fortschrittsdünkel oder – im besten Falle – eine von der Realität losgelöste poetische Kraft, die der (Zukunfts-)Realität immer einen Schritt voraus ist. Die Geschichte um die erste Mondlandung der beiden englischen Gentlemen Cavor und Bedford erschien erstmals im Jahre 1901 unter dem Titel The First Men in the Moon, ganze 68 Jahre, bevor Aldrin und Armstrong 1969 die Mondoberfläche betraten. Wie wir heute wissen, trafen sie weder Mondkühe noch Seleniten an, noch war es ihnen möglich, den Sonnenaufgang auf dem Mond so zu erleben, wie Bedford und Cavor es mit ehrfürchtigem Erstaunen taten. Die zahlreichen Verschwörungstheorien um die Mondlandung mögen Ausdruck dafür sein, dass unser nachbarlicher Trabant die Phantasie der Menschen auch in Zeiten von Google Moon noch beflügelt. Kein Zweifel: so beeindruckend die Geschichte der menschliche Mondfahrt ist, so ungleich schauervoll-aufregend ist die Fiktion von H.G. Wells.

Protagonisten der zeitlosen Wells’schen Mondlandung sind zwei Männer, die in ihrer Motivation, den Mond zu bereisen, nicht unterschiedlicher sein könnten. Bedford ist ein gescheiterter Geschäftsmann, der sich, auf der Flucht vor seinen Gläubigern, aufs Land zurückzieht, um ein Theaterstück zu schreiben. Zweifelsohne würde er auch daran scheitern, wenn nicht das zerstreute Pfeifen eines spazierenden Mannes erst seinen Ärger, die darauffolgende Bekanntschaft mit Cavor sein Interesse und die Entwicklung des Cavorits seine Gier entfachen würde. Die schriftstellerischen Ambitionen sind bald vergessen, als Cavor, ein exzentrischer Wissenschaftler, wie er im Buche steht, das Cavorit entwickelt. Der Stoff, der den Namen seines Meisters trägt, sprengt die Fesseln der Schwerkraft – oh, gravity, thou art a heartless bitch no more – und ermöglicht den Männern zunächst geistige Höhenflüge: Bedford, der ohne Verständnis den wissenschaftlichen Ausführungen seines Geschäftskollegen zuhört, um sich durch sein vermeintliches Interesse einen festen Platz im Mondgeschäft zu sichern, träumt schnöde vom großen Reichtum, während Cavor gänzlich vom ungetrübten, wissenschaftsromantischen Forscherdrang beseelt ist. Doch Erkenntnis um ihrer selbst willen ist nichts, was die Mägen mit Essen, die Gläubiger mit Zufriedenheit und die Börsen mit Geld füllt, und so starten die beiden Männer wenn auch nicht als Freunde, dann als Unternehmer ihr buchstäbliches Himmelfahrtskommando. Wells beweist sein Können als Satiriker besonders im prälunaren Teil seines Romanes: da auch sein Erbauer nicht weiß, wie lange die Reise mit der Cavorit-Kugel dauern wird, wählt Cavor vorsichtshalber die gesammelten Werke Shakespeares als Reiselektüre für seine Mondfahrt, um seine Bildung zu vervollständigen – wofür er vorher, vor lauter Nachdenken, nie die Zeit fand. Es gibt einfach zu viele Dinge zwischen Himmel und Erde.

Wells ist kein Visionär – zu einfach sind manche Lösungen wissenschaftlicher Probleme, zu makellos die Theorie; vielmehr ist er ein außerordentlicher Phantast und genauer Beobachter der menschlichen Natur. Der satirische, leichte Ton der ersten Buchhälfte verkehrt sich mit der Ankunft auf dem Mond in einen extraterrestrischen Grusel, der kunstvoll gezeichnet das Bild einer, wie die beiden Protagonisten bemerken, völlig anderen, aber dennoch unheimlich ähnlichen Welt entwirft. Der Versuch, Unbekanntes zu erfassen, indem man bekannte Parameter des Begreifens anwendet, muss jedoch zwangsläufig scheitern. Cavor erkennt dies als erstes und sucht nach einem gemeinsamen Nenner, der intelligente Wesen vereinen muss. Weder auf Sprache, auf Gesten, noch auf Mimik können sie sich verlassen, und letztlich landet Cavor bei der euklidischen Geometrie.

Bedford und Cavor sind gezeichnet als satirische Gestalten, die nie aus ihrer Rolle entfliehen können. Der Moment der Ausgelassenheit und der unschuldigen Kindlichkeit, der beide gestandenen Männer in der dünnen Mondatmosphäre wie junge Lämmer über die Mondoberfläche hüpfen lässt, hat für beide furchtbare Folgen. Beim Zusammentreffen mit den Seleniten nähert sich Wells der Frage, wie die menschliche Antwort auf das Unbekannte lautet. Mit Bedford und Cavor streiten sich zwei Seelen, ach, auf dem Mond: Pectus und Ration, Angst und Neugier, Verdammen oder Verstehen. Wells’ Antwort auf diese Dichotomie ist so phantasievoll wie beklemmend und von einer außergewöhnlichen Imaginationskraft geprägt, sodass unsere Realität beinah farblos wirkt. Wells’ Version des „ersten Kontaktes“ lässt das Leserherz vor Spannung und Erstaunen schneller schlagen, und der Wissenschaftsaffine wird seine wahre Freude am Roman haben. Der Autor studiert pointiert nicht nur die Bewohner des Mondes, sondern in erster Linie den Erdenbewohner, der nun auch die Weiten des Weltalls zum Schauplatz seiner gefühlten Großartigkeit macht.
Über den Ausgang der Mondfahrt sei hier nichts verraten, nur eines ahnt man schon: letztlich verkörpert Bedford den Grund, weshalb man Extraterrestriern zu einer großräumigen Umfahrung der Erde raten möchte – denn der Mensch ist nicht nur des Menschen Wolf.

Cover des Buches "Fahrenheit 451" von Ray BradburyGuy Montag ist Angehöriger des staatlichen Ordnungsdienstes. Seine Aufgabe ist es, versteckte Bücher und Schriften aufzustöbern und zu verbrennen, denn für den Staat, der über Bücher absolute Kontrolle ausüben will und keine Privatsphäre duldet, sind Bücher eine gefährliche Quelle subversiver Gedanken und aufrührerischer Ideen.
Bislang hat Guy Montag seinen Dienst pflichtgetreu getan, ohne sich viele Gedanken um sein Tun zu machen. Als er der schönen Clarisse begegnet, lernt er eine andere Welt kennen, eine Welt der Fantasie, der Sprache und des Gefühls, und er beginnt über die Trostlosigkeit der Wirklichkeit nachzudenken …

-Es war eine Lust, Feuer zu legen.
Es war eine eigene Lust, zu sehen, wie etwas verzehrt wurde, wie es schwarz und wie es zu etwas anderem wurde. –
1

Fahrenheit 451 ist eines der bekanntesten Bücher von Ray Bradbury und beschreibt in einem erschreckendem Szenario die Welt, wie sie einmal aussehen könnte: Bücher sind verboten, die Menschen sind nur noch leere Hüllen, die durch ihr Leben laufen ohne wirklich zu leben, der Staat kontrolliert alles und versucht die Bewohner durch permanente Überwachung und vorgetäuschtes Lebensglück zu unterdrücken.
Was zunächst wie eine Mischung aus Brave New World (Schöne neue Welt) und 1984 klingt (tatsächlich findet man einige ähnliche Ideen in den beiden großen Antiutopien), entwickelt sich rapide zu einer beklemmenden und apokalyptischen Vision, die mit einem großen Knall endet.

Einige kleine Schwierigkeiten gab es jedoch: Den Stil von Bradbury fand ich manchmal etwas holprig und schwer zu lesen. Wenn man sich gerade in die Welt eingefunden hat, passiert etwas, das die gewohnte Welt des Protagonisten zusammenbrechen lässt, oder das Buch ist zu Ende. Trotzdem verschlingt man diese 170 Seiten regelrecht, weil der Autor durch immer neue Ideen einen Spannungsbogen über das ganze Buch halten kann.

Das wirklich Unheimliche ist aber, dass man heute die Entwicklungen, die dem Szenario zugrunde liegen, schon sehen kann: den Siegeszug des Fernsehens z.B. hat Bradbury schon in den 50er Jahren vorhergesehen. Dass wir vielleicht auf genau die Zukunft zusteuern, vor der Bradbury warnt, ist durchaus möglich. Daran erkennt man wirklich gute Literatur.

Gott sei Dank kann man das Buch zuklappen, ein schales Gefühl aber bleibt.

Ghost Planet von Sharon Lynn FisherDie Therapeutin Elizabeth Cole möchte ein neues Leben beginnen und verlässt daher die Erde, um auf Ardagh 1 zu arbeiten. Ardagh 1 ist ein besonderer Planet, denn dort erhält jeder menschliche Kolonist aus unerklärbaren Gründen einen “Geist” aus seiner Vergangenheit – eine eigentlich verstorbene Person, die ihrem Menschen überall hin folgt. Elizabeth kennt die Protokolle auf Ardagh 1, wonach eine Interaktion mit diesen Aliens streng untersagt ist. Doch es dauert nicht lange, bis Elizabeth feststellen muss, dass sie eine unerwartet enge Verbindung zu den Geistern hat, die ihr eigenes Leben und das ihrer Sympathisanten in Gefahr bringt.

The tarmac was deserted. Foggy and disoriented, I wondered how long I’d been standing there, listening to the evergreens groan in the wind and dreading my first encounter on this new world. Would it be human or alien?
– Murphy’s Ghost

Ein wichtiger Tipp vorweg: wer Interesse entwickelt, Ghost Planet auf den Leseplan zu setzen, der sollte es in jedem Fall vermeiden die offizielle Buchbeschreibung/ den Klappentext zu lesen. Er verrät leider zu viel. Über das Cover sprechen wir besser auch nicht, das hätte mich beinahe vom Kauf abgehalten …

Aber nun zum Buch!

Ghost Planet spielt in einer nicht genau definierten Zukunft, in der die Erde schon sehr verunreinigt ist und Lungenkrankheiten zum normalen Leben zählen – ebenso die hohe Anzahl ausgestorbener Pflanzen- und Tierarten. Es existiert offensichtlich ein recht schnelles Transportmedium um von der Erde zu anderen Planeten zu gelangen, darüber hinaus gibt es aber nur sehr wenige Science-Fiction Elemente in Ghost Planet. Der Roman ist eher als Kolonialisierungsroman zu betrachten, der ohne viel Technologie auskommt und sich dafür sehr viel stärker auf Kolonisten und Geister konzentriert. Auf Ardagh 1 nun entdecken die Kolonisten, dass der Planet vermutlich auf die Bedürfnisse der Besucher reagiert, und so findet sich dort bald Flora und Faune, die auf der Erde längst ausgestorben ist. Mit den Vorteilen kommen aber leider auch die Nachteile, und das sind die eingangs genannten “Geister”.

Wer die Jugendromane His Dark Materials (Der Goldene Kompass) gelesen hat, der erinnert sich sicherlich an die kleinen Begleiter der Menschen, die Daemonen, die an ihre Menschen gebunden sind. Schlägt man Ghost Planet auf, hat man irgendwie sofort das Gefühl, das hier ist der Daemon-Level für Erwachsene ohne sprechende Tiere.
Auf Ardagh 1 werden Menschen lebendig, die verstorben waren. Sie sind an ihre Menschen gebunden und verspüren körperliche Schmerzen (bis hin zum erneuten, wenn auch nur kurz andauernden Tod), wenn sie sich zu weit von ihnen entfernen. Für die Kolonisten auf Ardagh 1 ist das ein psychologisches Problem, denn die Geister, die einen soliden und lebendigen Körper haben, reißen durch ihr plötzliches Auftauchen alte Wunden auf. Wem würde es nicht schwer fallen, plötzlich dem verstorbenen Ehepartner, Kind, Verwandten oder engstem Freund gegenüber zu stehen? Oder gar jemandem, der einem Gewalt angetan hat? Da die Geister nicht verschwinden und nicht beseitigt werden können, wurde das Geist-Protokoll geschaffen. Jede Interaktion mit ihnen ist verboten, um das Leben der Kolonisten so wenig wie möglich zu erschweren, und das scheint eine ganze Weile zu funktionieren. Die Geister werden zu stummen Schatten und fristen ein trostloses, unbeachtetes Dasein.

Die Idee dieser Mensch-Geist-Bindung ist einfach faszinierend, eindringlich, manchmal erdrückend, und die Autorin schildert wunderbar die Problematik dieser beiden Spezies, die zwangsweise in einer unausgeglichenen Symbiose miteinander auskommen, ohne miteinander zu agieren. An diesem Punkt ist vor allem die Protagonistin Dr. Elizabeth Cole die tragende Handlungsgeberin, die mit ihrem Widerstand zum Geist-Protokoll und ihrem starken Willen die Machthaber auf Ardagh 1 verärgert. Elizabeth ist als Charakter recht solide und leicht zugänglich, auch ihre Hintergrundgeschichte lässt sie realistisch und sympathisch wirken.
Ihr gegenüber gesetzt ist Dr. Grayson Murphy, der als Mitbegründer des Geist-Protokolls einer der größten Widersacher für Elizabeths Ideen ist. Da sie allerdings miteinander arbeiten müssen, entsteht hier schnell eine angespannte Dynamik, bei der ein Kompromiss unausweichlich ist. Für den Leser sind die sehr unterschiedlichen Standpunkte durchaus nachvollziehbar und die Entwicklungen hinterlassen teilweise einen bitteren Geschmack. Manchmal scheinen die Fortschritte und Entdeckungen der beiden etwas zu einfach, das stört letztlich aber nicht.

Ghost Planet ist eigentlich ein Roman, den man nur schwer aus der Hand legen kann. Er hält die Neugier konstant aufrecht, hält einen zuweilen in Atem und wartet mit überraschenden Wendungen auf. Das einzige Problem ist, etwa ab der Mitte des Buches packt die Autorin die Hormone aus und packt sie danach nicht wieder ein. Es gibt ein paar deutliche Sexszenen, was eigentlich nicht so dramatisch wäre, wenn sie nicht so aufgesetzt wirken würden und in den unpassendsten Situationen stattfänden. So richtig Stimmung kommt in diesen Momenten daher nicht auf, da es oft einfach nur falsch bis albern wirkt und man sich eher an die Stirn fassen möchte … nunja, man muss da einfach ein bis zwei Augen zudrücken, es wäre schade um den Rest!
Da die eigentliche Thematik und Handlung des Romans viel zu bieten hat und sich stetig weiter entwickelt, gibt es eine klare Leseempfehlung, wenn man Wert auf eine spannende Idee legt. Angereichert wird das alles mit einer Prise sarkastischem Humor und etwas Charme.

The Guild of Xenolinguists von Sheila FinchAls die Menschheit entdeckt, dass es Aliens gibt, ist eine der ersten Prioritäten, die Sprachbarriere zu überwinden. Dazu wird die Gilde der Xenolinguisten ins Leben gerufen – und im Laufe der Zeit gewinnt sie an Bedeutung für die Zivilisationen des Universums, denn es stellt sich heraus, dass der menschliche Stimmapparat besser als alle anderen dafür ausgestattet ist, die Lautäußerungen unterschiedlicher Spezies zu erlernen. Als ›Lingsters‹ sind die Gildenmitglieder begehrte und teure Experten, die nicht selten an vorderster Front eingesetzt werden und mit dem Verständnis der Sprache auch zwischen den Kulturen vermitteln sollen. Doch all das hat einen Preis …

-He was drowning in sound, so many years of alien tongues – nasal, guttural, sibilant. The cacophony of language washed over him till he slid beneath its surface. He pressed tired fingers to his skull.
»Tomas. More sojyk?«-
Babel Interface

Sprachwissenschaftler und Dolmetscher als Helden des Tages! Endlich ein Zukunftsentwurf, in dem Philologen und Übersetzer nicht kurzerhand durch einen Translator in der Hand oder einen Fisch im Ohr ersetzt werden!
Das, so lernen wir von der Autorin Sheila Finch, natürlich selbst eine Linguistin, ist ohnehin die unwahrscheinlichste aller Wendungen. Die Idee hinter den Xenolinguisten fußt auf der Sapir-Whorf-Hypothese, also verkürzt gesagt der Annahme, dass unterschiedliche Sprachen zu unterschiedlichen Denkstrukturen führen, dass die Sprache das Denken bestimmt. Für die Gilde, die es mit den absurdesten Aliens zu tun hat, bedeutet das, dass das Verständnis der Sprache nur möglich wird, wenn auch ein Verständnis für ein fremdes Sein in der Welt vorhanden ist, und diese Bewusstseinsveränderung erreichen die Lingster über Drogen.
Haben sie sich dann aber einmal auf die fremde Denke und Sprache eingelassen, greifen die strikten Gildenregeln, die diesem empathischen Ansatz geradezu entgegenstehen und die Integrität der Gilde wahren sollen: Nicht von Emotionen leiten lassen! Weder den Sender noch die Botschaft moralisch beurteilen! Der Linguist ist lediglich der Kanal, durch den die Botschaft fließt!

Solche Regeln funktionieren in der Theorie hervorragend – in der Praxis allerdings … werden die besten Geschichten aus den Fällen, in denen diese Vorgaben an ihre Grenzen stoßen.
Und genau dort setzen auch die elf Geschichten an, die in The Guild of Xenolinguists versammelt sind. Der größte Teil davon ist zwischen 1988 und 2007 bereits in anderer Form erschienen – die Lingsters begleiten Sheila Finch schon eine ganze Weile. Für diese Sammlung wurden die Geschichten aus dem stetig wachsenden Lingster-Universum chronologisch angeordnet, nicht nach ihrem Erscheinungsdatum, so dass sich vor allem aus den ersten Kurzgeschichten eine grobe Gilden-Chronologie ergibt, ähnlich wie z.B. bei Clifford D. Simaks City.

Die Geschichten sind häufig Varianten des Human-Alien-Encounter-Themas, die moralischen Implikationen sorgen aber dafür, dass diesem alten Hut nichts Unschuldiges mehr innewohnt, auch wenn viele bewährte Rezepte anklingen. Trotz der Abgeklärtheit der meisten Protagonisten schimmert hin und wieder Entdeckerfreude durch, allerdings wird ein Lingster nur selten aus reinem Forscherdrang gerufen: In Communion of Minds ist es etwa eine wohlbekannte Notsituation (Gemetzel auf einer Forschungsstation mit einem Überlebenden), deren grusliger Ansatz überraschend aufgelöst wird. In No Brighter Glory, einer der besten Geschichten der Sammlung, ein kleines Problem, das einem wissenschaftlichen Experiment im Wege steht. Wie etliche andere spielt sie auf einer Wasserwelt, wodurch ein weiteres wohlbekanntes SF-Element ins Spiel kommt: Delfine und Wale als Sprachvermittler und in diesem Fall auch Lehrer für die Linguisten.

Sheila Finch benutzt in The Guild of Xenolinguists verschiedene Erzählformen und Perspektiven – nicht immer ist es ein Lingster, der das Geschehen vermittelt, es gibt auch eine biographisch anmutende Erzählung und eine Mission auf einem fremden Planeten, die an Shakespeares Der Sturm angelehnt ist und einen bezaubernden Protagonisten bietet, der einen neuen Blick auf die Gilde ermöglichst. So stehen auch längst nicht in allen Geschichten linguistische Theorie und Praxis im Mittelpunkt, manchmal ist die Gilde nur der Rahmen, in dem die Handlung stattfinden kann. Doch mit ihren spezifischen Talenten, ihrer exponierten Rolle und der Tatsache, dass Sprache und Kommunikation bei Konflikten jeder Art eine zentrale Rolle spielen, finden sich die Lingsters häufig an Orten wieder, wo die Möglichkeit oder gar Notwendigkeit besteht, etwas Großes zu vollbringen.
Nur selten sind es junge, enthusiastische Gildenmitglieder, die vor dieser Entscheidung stehen, sondern eher müde, enttäuschte, desillusionierte Veteranen, für die sich die Verheißungen, die sie einst mit ihrer Berufung und der Gilde verbanden, nicht erfüllt haben. Sie möchten aufhören, hadern mit den Gildenregeln, bezahlen für ihr Talent häufig mit Drogenabhängigkeit, weil die Gilde die Last, die ihr heilige Neutralität zu vertreten, dem Einzelnen aufbürdet. Und von so manch einem fordert ihre Arbeit am Ende wirklich alles.

Auch wenn man fast schon geneigt ist, den Translator dann doch für die humanere Variante zu halten, lassen der Variantenreichtum, mit dem Finch das Thema darstellt, und die vielen Aspekte der Gilde das Gefühl eines wimmelnden, merkwürdigen und grenzenlosen Universums zurück, in dem die Lingster die Chance haben, einen Blick auf Wunderbares zu erhaschen.
Angst haben, dass ein von einer Linguistin geschriebenes Buch mit Linguistenhelden zu verkopft oder gar von Fachtermini oder komplizierten Zusammenhängen überflutet wird, braucht man übrigens nicht: Sprachlich ist es eher einfach gehalten, und sprachwissenschaftliche Theorien stehen abgesehen vielleicht von der Eröffnungsgeschichte First Was the Word eher als Prämisse im Raum, als thematisiert zu werden.
Nicht nur für Spezialisten also, auch wenn es vermutlich ein gewisses Interesse an Geschichten abseits des Mainstreams braucht, um diese feine Sammlung ins Regal aufzunehmen.

Implied Spaces von Walter Jon WilliamsDer Schwertkämpfer Aristide zieht mit seiner Katze (Haus-, nicht Reit- 😉 ) durch die Wüste, doch an einer Oase begegnet er einer unter Belagerung festsitzenden Karawane. Er lässt sich als Wächter anheuern und ersinnt einen Plan, wie er die Belagerung durchbrechen kann. Allerdings entdeckt er Mysteriöses: Die Angreifer folgen einem unbekannten Kult, der Leute mit Haut und Haar verschwinden lässt …

-With long strides the swordsman walked across the desert. Gravel crunched beneath his sturdy leather boots. His eyes were dark, his nose a blade.-
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Am Beginn von Implied Spaces, vollmundig als Mischung aus “nano-technology, quantum theory, fantasy and space opera” angepriesen, kann man sich noch in der trügerischen Sicherheit eines schönen Sword & Sorcery-Settings wiegen: Man begleitet den sympathischen und geistreichen gelehrten Abenteurer Aristide – Marke Errol Flynn – und seine trockene Kommentare beisteuernde, sprechende Katze Bitsy durch eine stereotype Wüstenwelt. Während Aristide sein Schwert (einen Sturmbringer-Verschnitt) schwingt, ahnt man jedoch schnell: irgendetwas ist im Busch, denn Aristide weiß mehr über Welt und Sein, als so ein Wüstensohn wissen sollte.
Und ehe man es sich versieht, treibt man mitten in einem wilden Strudel aus verschiedensten Settings, Stilen und immer wieder neuen Ideen, in dem eine Überraschung die nächste jagt.

Während Aristide einer groß angelegten Verschwörung auf die Spur kommt, verfolgt Walter Jon Williams etliche Themen und Konzepte: Das gewöhnlichste darunter dürfte noch die Frage sein, wie viel Menschlichkeit dem Menschen der fernen Zukunft geblieben ist. Interessanterweise geht er dieser Frage nicht in einem dystopischen Umfeld nach, sondern hat – ein Markenzeichen vor allem auch von Williams’ Kurzgeschichten – eine positive Entwicklung zugrundegelegt, die ihre eigenen Probleme mit sich bringt. Ein weiteres Thema, das unter vielen  Aspekten beleuchtet wird, ist die Frage nach dem freien Willen, darunter auch, inwiefern Persönlichkeiten unter veränderten Umständen (oder durch Manipulation) eine völlig konträre Entwicklung nehmen können.
Thematisches Zentrum sind allerdings die “Implied Spaces” aus dem Titel, denen Aristide nachforscht. Man kann sie tatsächlich wörtlich nehmen – anfangs ein witziges Konzept, das einem nicht mehr so schnell aus dem Kopf geht, später nehmen sie Dimensionen an, die mindestens nachdenklich machen und am Ende des Romans eine philosophisch-theologische Betrachtungsweise eröffnen, die es in sich hat.

Bei einer solchen Fülle an erwachsenen Stoffen kommt es vor allem auf ihre Verpackung an. Und Walter Jon Williams hat eine Achterbahnfahrt für den Leser in petto, bei der nicht die geringste Gefahr besteht, der Roman würde zu trocken werden.
Zunächst ist es schon Aristides Erzählperspektive, die großes Vergnügen bereitet. Der turbanbestückte bunte Vogel auf dem äußerst treffenden Cover bezeichnet sich als Dichter, Philosoph und Kämpfer, und seine Stimme ist manchmal unaufdringlich, manchmal poetisch, hat aber fast immer einen ironischen Unterton zu bieten. Hinzu kommt, dass beinahe jedes Kapitel mit einem neuen Schauplatz aufwartet – und mit einem neuen Genre: Walter Jon Williams wechselt munter den Stil, erzählt nach der Fantasy-Eröffnung in Form eines Krimis, einer Romanze, eines Schurkenstücks, eines Thrillers, eines Kriegsromans und etlicher anderer Varianten weiter, um am Ende mit einem eindringlichen Gedicht zu schließen. Dass bei einem solchen Konzept das Formale manchmal den Vorrang vor Plotentwicklung und Erzähldynamik hat, versteht sich von selbst (die Chance ist auch groß, dass man eines der Genres nicht mag – z.B. die Kriegshandlung gegen Ende zieht sich dann doch recht unpersönlich-taktisch dahin), doch insgesamt ist dieser Clou bestens gelungen, vor allem dank der cleveren Handlungsführung.
Eine fulminante Enthüllung jagt die nächste, und der Autor hat ein Händchen dafür, die Sache immer dann besonders spannend zu machen, wenn man bestimmte Eigenheiten seiner Welt begriffen zu haben scheint und zu der Ansicht kommt, jetzt könne es nicht mehr spannend werden. Dann zaubert er einen neuen Kniff aus dem Hut und hat den Leser wiederum am Wickel. Der Roman ist randvoll mit Ideen und Konzepten, teils ist es ein regelrechtes Abgrasen zeitgenössischer SF-Stoffe, die mit einem Augenzwinkern in einer Vielzahl von Anspielungen gewürdigt werden (ob es sich nun um Literatur, Film, Musik oder Comics handelt – es gibt sogar Seitenhiebe auf Mediävisten).

Auch wenn der Fantasy-Anteil der Handlung nach und nach in den Hintergrund tritt, wird der Text nie mit Techno-Babble überladen und bleibt einer gewissen Fantasy-Attitüde treu – zu viel soll an dieser Stelle nicht verraten werden, denn neben dem durchgehenden leisen Humor ist das größte Vergnügen an Implied Spaces das Entdecken und Rätselraten, wobei man als Leser sowohl die Welt und ihre Parameter nach und nach begreift, als auch die Verschwörung aufdeckt und dazu manchmal vom Autor Informationen zugespielt bekommt, die den Figuren fehlen.
Die endgültige Auflösung fällt nach den wahrhaft gigantischen Materialschlachten zuvor vielleicht eine Spur zu schmal aus, entfaltet aber die Langzeitwirkung, die den ganzen Roman charakterisiert, wenn man Interesse für kosmologische Sinnfragen und Persönlichkeitsentwicklung mitbringt.

Implied Spaces hat zweifellos seine Mängel, die vor allem im heftigst in alle Richtungen strebenden Plot zutage treten, und ebenso in dem Experiment, jedes Kapitel in einem neuen Stil zu erzählen. Man könnte Walter Jon Williams auch vorwerfen, er kopiere die weit entwickelte Welt und die Gesellschaft mit übermächtigen Individuen aus seinem früheren Roman Aristoi, aber damit täte man Implied Spaces unrecht. Am Ende wird man feststellen, dass Walter Jon Williams seinen grandiosen Entwurf gut im Griff hat und eine Geschichte erzählt, die während des Lesens häufig nicht zulässt, dass man das Buch aus der Hand legt, die einen immer wieder zum Staunen bringt und deren Ideen man mitnimmt und lange mit sich herumträgt.

Die Landkarte der Zeit von Félix J. PalmaSie planen eine Zeitreise? Besser, Sie packen eine passende Landkarte ein! Zeitparadoxa sind in diesem Roman vorprogrammiert und laden den Leser dazu ein, sich irgendwo in der Zeit zu verlieren.
In drei Episoden folgt man einem jungen Mann, der seine Geliebte an Jack the Ripper verloren hat und in die Vergangenheit reist, um das Verbrechen zu verhindern; dann trifft man auf Claire, die sich in ihrer Gegenwart des 19. Jh. fehl am Platz fühlt und sich ins Jahr 2000 flüchtet, wo sie sich unerwartet verliebt; zuletzt begleitet man Inspektor Garrett bei der Jagd nach einem Mörder, dessen Waffe noch gar nicht erfunden wurde – und alles läuft zusammen bei H.G. Wells höchstpersönlich …

– Andrew Harrington wäre gern mehrere Tode gestorben, wenn er sich unter all den Pistolen, die sein Vater in den Vitrinen des Salons aufbewahrte, nicht für eine einzige hätte entscheiden müssen. Entscheidungen waren nicht seine Stärke. Genau besehen erwies sich sein Dasein als eine Kette von Fehlentscheidungen, deren letzte ihren langen Schatten bis in die Zukunft zu werfen drohte. Doch mit diesem wenig beispielhaften Leben voller Fehlgriffe war jetzt Schluss. –
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Die Landkarte der Zeit (El mapa del tiempo) ist kein leicht zu rezensierendes Buch, denn es steckt voller Gegensätze. Autor Félix J. Palma spielt mit den Erwartungen seiner Leser, führt sie bewusst hinters Licht, nur um sie dann mit der nächsten Wendung zu überraschen. Manchmal macht er das sehr geschickt, dann wieder sehr bemüht, manches ist entweder ein schlauer Kniff oder eine bittere Enttäuschung. Das Buch ist außerdem Liebesroman, Science Fiction, Krimi, Historischer Roman und Drama in einem. Der ein oder andere wird jetzt vielleicht schon ahnen, dass Die Landkarte der Zeit die ausgeprägte Fähigkeit besitzt, Meinungen zu spalten.

Der Roman besteht aus drei Teilen. Jeder davon hat andere Hauptfiguren und erzählt eine eigene Geschichte, die in sich abgeschlossen ist. Es gibt dabei aber Charaktere, die in allen Teilen auftauchen und eine interessante Verstrickung der Geschichten offenbaren. Nebenfiguren werden zu Hauptfiguren und umgekehrt, je nachdem, wessen Geschichte man gerade folgt. Dabei ist dieser Roman recht intelligent aufgebaut und ab und an blitzt auch der köstliche Humor des allwissenden Erzählers durch, der an den (Film-)Erzähler von Per Anhalter durch die Galaxis erinnert.

Weltenbau und Charaktere sind ebenfalls allesamt sehr lebendig gezeichnet mit einer deutlichen Liebe fürs Detail. Es ist ein Leichtes, sich das viktorianische Setting der Erzählungen vorzustellen – die schmutzigen Gassen Whitechapels, die prachtvollen Herrenhäuser Londons, die feinen Teesalons, die massiven Heldenstatuen, die Zeitmaschine von H.G. Wells … Gerüche und Figuren werden lebendig, hier erweist sich auch der spielerische Umgang mit der Sprache als großer Vorteil.

Auf der anderen Seite gibt es oft Längen und Monologe, in denen man das Gefühl hat, der Autor hört sich einfach gerne selbst reden. Jene Monologe sind besonders deswegen so störend, weil sie in der Regel nur 1:1 nacherzählen, was kurz vorher erst geschehen ist oder geschichtliche Ereignisse werden unnötig genau zusammengefasst – als rechnete man mit plötzlicher Amnesie oder eklatanten Bildungslücken beim Leser. Manches ist dabei auch zu leicht vorhersehbar, was die Stärken des Romans leider ab und an in den Schatten stellt. Durch diese starken Gegensätze von intelligenter Unterhaltung und langweiligen Seitenfüllern schwankt der Lesegenuss öfter mal vom einen ins andere Extrem und am Ende weiß man nicht, ob man dieses Buch mag oder nicht.

Die Landkarte der Zeit ist auch ohne die erwähnten Längen kein spannungsgeladenes Buch. Es ist eine ruhige Geschichte mit kniffligen Verknüpfungen und teils abenteuerlichen Entwicklungen. Wer Zeitreisen sucht, muss sich vor allem ihren theoretischen Möglichkeiten stellen und sich darüber im klaren sein, dass es kein Zukunftsroman ist und die Haupthandlung 1896 stattfindet. Vielmehr ist Die Landkarte der Zeit daher ein Buch für Nostalgiker, die gerne durch die Vergangenheit schlendern und hier und da ein paar Schlenker durch die Zeit schlagen wollen.

Wer gefallen an der Erzählung findet, kann sich mit Die Landkarte des Himmels außerdem über eine Fortsetzung freuen. Dieser erste Band ist aber in sich abgeschlossen und besteht auch problemlos als Einzelband.

Durch einen atomaren Angriff wurde die Menschheit beinahe vollständig vernichtet. Die Überlebenden rotten sich zusammen und veranstalten eine blutige Hetzjagd auf die verbleibenden Wissenschaftler, in denen sie die Schuldigen für die atomare Katastrophe sehen.
Viele Jahrhunderte später findet ein junger Novize des Leibowitz-Ordens – benannt nach Isaac Leibowitz, einem längst verstorbenen Elektroingenieur – in einem ehemaligen Schutzbunker Aufzeichnungen und Blaupausen des verehrten Mannes. Die Entschlüsselung der wissenschaftlichen Schriften beginnt, doch nicht nur die Kirche hat an dem mühselig und langsam wiedererlangten Wissen Interesse.

Wir haben eure verdammten blutigen Beile und eure Hiroshimas.
– Wir marschieren gegen die Hölle, wir –
Atrophie, Entropie und Proteus vulgaris,
erzählen Zoten über ein Bauernmädchen namens Eva
und einen Handlungsreisenden namens Luzifer.
Wir begraben eure Toten und ihre Reputation.
Wir begraben euch. Wir sind die Jahrhunderte. –
Fiat voluntas tua, S. 312

Wir schreiben das 26. Jahrhundert, und der Novize Bruder Francis erkundet mit kindlich-naivem Staunen eine nach dem Atomschlag wüste Welt. Der Akt der Zerstörung selbst liegt im Dunklen und gleicht eher einem vagen Mystizismus mit seinen Teufels- und Spukgestalten. Erlebbar sind nur die Folgen: die Verwüstung der Welt und die systematische Ausradierung des Intellekts. Was übrig blieb – Blaupausen, Schaltpläne, Einkaufszettel –, bewahren die Mönche des Leibowitz-Ordens in stiller Ehrfurcht auf, und der Leser verfolgt mit einem Lächeln die Anbetung dessen, was im 21. Jahrhundert Gegenstand profaner Normalität ist. Doch das 26. Jahrhundert ist ein Zeitalter der Leere, die auch in der Semantik um sich greift: der Niederschlag wird als Gestalt des Teufels gefürchtet, die in Gruben und dunklen Winkeln lauert, und ein Schaltkreis als geheimnisvoller Schöpfungsplan bewahrt.

Das Staunen Bruder Francis’ wird zum Inbegriff der Unschuld, und löblich-unschuldig scheint auch die Sammlung und Bewahrung der Wissensfragmente. Doch was als Abenteuer, als Renaissance beginnt, was einem Neuanfang gleicht, entpuppt sich bald als zwingende Fortführung des menschlich-zivilisatorischen Kreislaufes, denn das Licht der Aufklärung und der Vernunft scheint nie alle Winkel des menschlichen Hirn- und Seelenkastens zu erhellen – und so muss sich die Heiligkeit des Wissens einmal mehr messen mit der Zerstörungskraft des Menschen.

Wir schreiben das Jahr 3174, die Jahre der Unschuld hat es nie gegeben. In den Mauern des Klosters des Heiligen Leibowitz widmet man sich weiterhin dem Studium des Halbwissens, und Miller jr. feilt weiterhin an seinen Geschichten-in-den-Geschichten, an den Figuren, die wie Wunder erscheinen und deren Entschlüsslung die hohe Kunstfertigkeit des Autors im Andeutungen und Ahnungen Säen betont. Grundwissen in der Bibelkunde und aufgefrischtes Kirchenlatein sind dabei von hohem Nutzen; denn erst mit der Erkenntnis um die dichte Intertextualität des Romans und die mannigfaltigen Deutungsebenen verkehrt sich das Gefühl der Ratlosigkeit in die Erkenntnis, einen Roman von inhaltlichem wie handwerklichem Genie zu lesen.

Die wichtigste Kraft des Romans ist jedoch sein Witz. Situationskomik, altlateinische Kalauer und zutiefst bissige Dialoge: sie treffen zusammen im anzüglich-satirischen Lächeln der St.-Leibowitz-Statue, welche die Zeiten und Äbte im Klosterkeller überdauert und erst von Abt Zerchi, dem letzten in einer langen Reihe, in den Zeiten allgegenwärtiger Angst vor der erneuten Zerstörung wieder an ihrem angestammten Platz als Heiligenstatue aufgestellt wird. Das hölzerne Antlitz lächelt im tiefen Wissen um einen Witz, den nur die Statue selbst zu verstehen scheint. Doch es schadet nie, sich von einem Lachen anstecken zu lassen.

Tatsächlich ist es nur Millers Humor, der die Hoffnung erweckt, dass der durch den Menschen in einen Kreislauf der Zerstörung transformierte Kreislauf des Lebens einer aufwärts gerichteten Spirale gleicht. Seine anderen zentralen Themen lassen wenig Mut zur Hoffnung zu. Im zweiten Teil des Buches – Fiat Lux, „Es werde Licht“ – treibt ein im Kellergewölbe von fünf Novizen angetriebener Dynamo einen tiefen Keil zwischen die weltliche und geistliche Wissenskultur. Das Gerät ist eine außerordentliche technische Errungenschaft, erbaut von einem ahnungslosen, aber experimentierfreudigen Klosterbruder und bringt sprichwörtliches und messbares Licht ins Dunkle. In diesem Licht jedoch nehmen Parteien Gestalt an, die vorher nur als grobe Schemen erahnbar waren: Kirche gegen Staat, Wissenschaft gegen Glaube, … – die Liste der Zerwürfnisse ist, bei Lichte betrachtet, endlos. Mit dieser biblischen Erhellung des klösterlichen Kellergewölbes durch einen Dynamo ahnt der Leser, dass die zivilisatorische Dunkelheit nur kurz erhellt wurde, um sich dann wieder in Grabesschwärze zu wandeln.

Miller jr. portraitiert mit sprachlicher und gedanklicher Präzision das wohl größte Verbrechen der Menschheit: die Erhebung der Amoral zur zivilisatorischen Unabwendbarkeit. In seinem Roman sind es nicht nur die Tyrannen und Diktatoren, die sich der Bürde der Verantwortung entledigen, sondern es sind Menschen, die sich als ‘Simpel’ bezeichnen, bevor sie diejenigen steinigen, die der Menschheit das brachten, was wir Zivilisation nennen. Die Negierung der Verantwortung ist ein zentrales Thema in Lobgesang auf Leibowitz (A Canticle for Leibowitz ): wer keine Fehler sieht, sondern an derer statt das Konzept des Unvermeidbaren erfindet, kann nichts lernen, kann dem endlosen Kreislauf nicht entfliehen.
Doch wird nicht das vermeintlich Unausweichliche, wenn vom Menschen begriffen, zum Abwendbaren? Denn, und auch dies wird in Millers Roman deutlich: es existiert kein naturgegebener Kreislauf der Zerstörung, der eine Wiedergeburt ad absurdum führt, sondern ausschließlich ein vom Menschen erdachter. An des Kreislaufs Anfang steht eine Idee, am Ende die Bombe, und alles, was danach kommt, ist nur ein müdes Spiegelbild dieser einfachen Gleichung: homo homini lupus.

Wir schreiben das Jahr 3781. Noch immer sind es die Mitglieder der Abtei des heiligen Leibowitz’, die sich der Empfindung widmen, die nicht nur im Roman mitleidig belächelt wird: der Hoffnung. Und Zuversicht benötigen sie, denn sie sind es, die mit ihrer Sammlung und Bewahrung des noch verfügbaren Wissens den Weg für den Fortschritt ebnen. Es scheint ihnen unmöglich, dass der Mensch das wiederholt, was ihn einst beinah vom Antlitz seines Planeten tilgte. Doch Miller jr. ist kein Moralapostel; welche Moral sollte es auch geben, nachdem der Mensch sich einmal selbst vernichtete und, kaum, dass die Zivilisation ihr Krankenbett verlässt, zum zweiten Schlag ausholt? Der Autor entwirft vielmehr das Bild einer Zeit, in der „Gerechtigkeit“ eine zutiefst subjektive Größe ist, und stellt eine verstörende und wichtige Frage: was ist wichtiger – Menschheit oder Menschlichkeit?

Lobgesang auf Leibowitz ist ein Rätsel- und Meisterwerk, eine Vertextlichung des ewig Menschlichen, Ausdruck von Angst und Resignation. Der Leser wird keine erbaulichen, hoffnungsvollen Botschaften, eingebettet in tröstlich-antikes Kirchenlatein finden, sondern einen schonungslosen Blick in eine Zukunft, die sich als denk-, und somit zerstörbar erweist. Mit seiner Hellsichtigkeit und seinem scharfsinnigen Humor wäre dieser Roman die schärfste Waffe in einem Kampf, der hoffentlich immer literarische Fiktion bleiben wird. Fiat Voluntas Tua.

Long Walks, Last Flights von Ken ScholesIn 17 Kurzgeschichten nimmt Ken Scholes seine Leser mit auf Reisen durch die Zeit, in qualmende Ruinen, auf abgelegene Planeten, nach Paris, in eine amerikanische Kleinstadt, in die japanische Mythologie, kreuz und quer durch Fantasy-Welten und sogar in die Hölle …

-Meriwether Lewis stared down at the time-worn scrap of paper, holding it in his hands as if it were a rare butterfly too easily crushed.-
The Man With The Great Despair Behind His Eyes

Ken Scholes, inzwischen mit dem Roman Lamentation als Autor von epischer, post-apokalyptischer Fantasy zu Ehren gekommen, hat seine Karriere mit dem Schreiben von Kurzgeschichten begonnen. Diese erste Sammlung bietet einen guten Überblick über die thematische Bandbreite und das weite Feld von Stilrichtungen dieses ausgesprochen ideenreichen Schriftstellers.
Dabei ziehen sich die Themen Religiosität, Schuld und Mythos quer durch alle Geschichten und werden mehrfach beleuchtet, und Leser, die gerne tüfteln, finden reichlich Anspielungen auf historische Persönlichkeiten, im kulturellen Gedächtnis verankerte Ereignisse und Musik, Literatur und Film.
Psychologisch fein herausgearbeitete Figuren verankern die Geschichten, die verschiedenste Spielarten der Phantastik abdecken, in der Realität. Da lernt man zum Beispiel den Obdachlosen Fearsome Jones kennen, der mit seiner obsessiven Sammelleidenschaft versucht, über sein eigenes Versagen hinwegzukommen und dabei etwas aus dem Müll fischt, das ihn und seine Kumpels in höchste Schwierigkeiten bringt (Fearsome Jones’ Discarded Love Collection).
Oder den einfach gestrickten Trucker Jeb, der mit Hilfe eines geheimnisvollen Mädchens in der Hölle Erlösung findet, als er erkennt, daß ein Großteil der Hölle im eigenen Kopf entsteht (So Sang the Girl Who Had No Name).
Und einen Hibakusha – einen traumatisierten Überlebenden der Atombombenabwürfe auf Japan – dessen Weg zurück zu sich selbst mit Gruppensitzungen in psychologischer Betreuung einerseits in die Realität Japans nach dem Zweiten Weltkrieg eintaucht, andererseits in die Welt der japanischen Mythologie und sogar der modernen Mythen über Japan in der westlichen Welt führt (Hibakusha Dreaming in the Shadowy Land of Death).

Ein zweiter Besuch in der Hölle aus So Sang the Girl Who Had No Name präsentiert mit Houdini und William Hope Hodgson zwei prominente Protagonisten, die eine Queste durch das symbolisch stark aufgeladene Leben nach dem Tod führt – mit den Mitteln und dem Selbstverständnis zweier Abenteurer des frühen 20. Jahrhunderts (Into the Blank Where Life is Hurled). Scholes’ Hölle mit ihren Monstern, surrealen Landschaften und einem dennoch routinehaften Alltag kann beispielhaft dafür stehen, wie geschickt der Autor mit seinen Settings und Ideen die Aufmerksamkeit des Lesers bindet und seine Neugier immer weiter füttert.
Der Zauberer und der Schriftsteller sind längst nicht die einzigen historischen Persönlichkeiten, die in den Kurzgeschichten auftreten: In The Man With The Great Despair Behind His Eyes begegnet man nicht nur der Expedition zur Pazifik-Küste von Lewis und Clark – die Erzählung ist gespickt mit Anspielungen quer durch die US-Geschichte, so daß man als Europäer mitunter Wikipedia bemühen muß.
Wiederum mit Gestalten des 20. Jahrhunderts spielt Summer in Paris, Light from the Sky, die problematischste Geschichte der Sammlung, in der man das Schicksal von Hemingway, Chaplin und Hitler in einer alternativen Realität verfolgt, in der alle drei aufgrund veränderter äußerer Umstände teils völlig anders verlaufende Lebenswege einschlagen. Scholes arbeitet hier mit dem stärksten vorstellbaren Kontrast zur Realität, um zu vermitteln, daß Monster und Heilige durch Einwirkungen von Außen geschaffen werden – das garantiert der Geschichte eine große Wirkung, verstärkt durch eine Rahmenhandlung, die aus fiktiven Zitaten besteht, wird aber nicht jedermanns Geschmack treffen.

Ein, wenn nicht sogar der Höhepunkt der Sammlung ist Edward Bear and the Very Long Walk, eine Art inverses Winnie-Pu-Abenteuer, in dem es den Spielzeugbären auf einen fremden Planeten verschlägt und der Leser Heldentum durch Stoffbären-Augen erfährt. Eine behutsame Überführung des Kinderbuch-Helden in die Science Fiction, die klassische Themen des Genres aufgreift und eine anrührende, epische Queste erzählt, dabei aber dem Stil der originalen Pu-Geschichten sehr treu bleibt und sie gleichzeitig auf den Kopf stellt. Eine Pflichtlektüre für alle, die noch ein Kuscheltier besitzen – aber Vorsicht: die Geschichte geht ans Herz.
Ebenfalls in ganz klassischen SF-Gefilden bewegt sich A Good Hair Day in Anarchy, das Western und Science Fiction auf eine Weise verbindet, die auch Fans der Serie Firefly zu schätzen wissen dürften. Lässiger Humor, ein schräges Setting in den gesetzlosen Außenbezirken des bewohnten Universums und eine clevere Geschichte machen das Ganovenstückchen um einen Frisör mit Vergangenheit zu einer runden und sehr vergnüglichen Lektüre.

Schon in Edward Bear and the Very Long Walk hat Scholes angedeutet, wie Mythen geboren werden, in The Santaman Cycle treibt er das Konzept auf die Spitze und beschreibt mit eleganter Hand eine nur lose im Bestehenden verankerte Schöpfungsgeschichte einer Welt nach der Apokalypse. Der epische Ton und die verwendeten Bilder funktionieren erstaunlich gut – nach den lediglich drei Seiten ist man fasziniert von den angerissenen Geschichten und der Welt, deren verschwommenes Bild sich vor dem inneren Auge zeigt.
In The Doom of Love in Small Spaces greift Scholes die Mythen aus dem Santaman Cycle noch einmal auf, erzählt aber eine relativ hermetische Geschichte, die kaum Episches anklingen läßt, sondern aufzeigt, daß die Bürokratie mit ziemlicher Sicherheit auch nach der Apokalypse erhalten bleibt.
In ähnlicher Weise funktioniert Of Metal Men and Scarlet Thread and Dancing with the Sunrise. Die Geschichte skizziert auf wenig Raum und mit großartigen Bildern eine Welt, die Scholes inzwischen mit dem auf diesem Ausschnitt basierenden Zyklus The Psalms of Isaak weiter erkundet hat. Das Potential der Figuren und der Welt ist auch in diesem kurzen Streiflicht nicht zu übersehen.

Einen nur leichten bzw. erst im Laufe der Geschichte anwachsenden phantastischen Einschlag hat sowohl das kurze, eindringliche Soon We Shall All Be Saunders, eine Parabel über die Entfremdung vom eigenen Selbst unter den Anforderungen der (Arbeits-)Welt, und That Old-Time Religion, das konsequent das Bild des zürnenden Gottes aus dem Alten Testament in eine amerikanische Kleinstadt transportiert.
Richtige Enttäuschungen wird man in Long Walks, Last Flights and Other Strange Journeys kaum finden, lediglich eine Handvoll Geschichten sind nicht ganz überzeugend durchkomponiert: So ist zwar Ken Scholes’ Ausflug ins Superhelden-Genre für einige Lacher gut und liefert zumindest eine überzeugende Grundidee, der Plot jedoch läßt zu wünschen übrig (Action Team-Ups Number Thirty-Seven), und auch One Small Step und East of Eden and Just a Bit South, beide mit Untertönen aus der Schöpfungsgeschichte, wirken nicht ganz überzeugend.
Abgeschlossen wird die Sammlung mit der Erzählung Last Flight of the Goddess, die vorab auch schon als Kurzroman erschienen war – einer Hommage an das Rollenspiel Dungeons & Dragons und die unsterbliche Liebe. In Rückblenden verfolgt man den Werdegang eines Abenteurer-Pärchens und gleichzeitig den Umgang mit dem Verlust eines Partners. Rollenspieler finden darin einiges zum Schmunzeln, und auch Fans klassischer Abenteuer-Fantasy dürften durch den warmen Erzählton, den augenzwinkernden Humor und die schrägen Ideen auf ihre Kosten kommen, allerdings kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, daß der Plot nicht über die ganze Länge trägt und eine Straffung hier und da nicht geschadet hätte.

Die Vielfalt der Geschichten, die Long Walks, Last Flights zu bieten hat, läßt letzten Endes keine Wünsche offen und zeigt eindrucksvoll, wie versiert Scholes in seinen Themen ist – sowohl als Chronist epischer, gewaltiger Ereignisse als auch als Beobachter des Zwischenmenschlichen und der seelischen Vorgänge. Besonders empfehlenswert ist darüber hinaus das Nachwort zur Entstehungsgeschichte der einzelnen Werke, das die Geschichten gut ergänzt und eine sprühende Kreativität durchblicken läßt, die ansteckend wirkt. Idee und Umsetzung sind fast durchgängig gleichermaßen gelungen, so daß man sich auf weitere Geschichten aus Scholes’ Feder nur freuen kann – er ist ein Meister dieses Fachs.

The Long War von Terry Prachtett und Stephen BaxterDas Amerika der Heimaterde will seine Macht über die Reihe der unendlichen Parallelwelten ausdehnen, und gleichzeitig verpassen Siedler, Forscher und Reisende den Erden ihren menschlichen Fussabdruck. Dann sorgt eine Meldung im Outernet für Schlagzeilen: Forscher misshandeln vor laufender Kamera einen Troll – und dies ist nur ein Beispiel für die sich ausbreitende Gewalt gegen die humanoiden Long-Earth-Bewohner. Zeit für Joshua und Sally, etwas zu unternehmen …

Sally Linsay arrived at Hell-Knows-Where fast and furious. But when had that ever been unusual?
– Kapitel 2

Der erste Teil der The Long Earth-Reihe von Terry Pratchett und Stephen Baxter weckte große Erwartungen: Unendliche Welten, neue Gesellschaftsformen, Entdeckungen unvorstellbarer Evolutionsscherze – es hätte alles so schön sein können. Mit The Long War jedoch beweisen die Autoren, dass auch The Long Ideas nicht ausreichen, um eine gute Geschichte zu erzählen.

Die Handlung setzt Jahre nach Joshuas und Lobsangs erster Reisen durch die Paralleluniversen ein. Joshua ist nun Familienvater, der sich häuslich in Reboot niedergelassen hat, während die amerikanische Regierung alles daran setzt, um die unendlichen, parallel-amerikanischen Weiten der Universen zu beherrschen – um sie zu besteuern. Was als Parodie brauchbar klingt, taugt wenig als Grundgedanke, aus dem sich ein bedrohlicher, interterrestrischer Krieg entwickeln soll. Voller Spannung erwartet der Leser die Wunderwaffe der Regierung, doch Raumpatrouillen in (immerhin verkabelten) Zeppelinen, die auf einer unendlichen Reihe von Welten unter Steuersündern für Ordnung sorgen sollen – dieser War, so ahnt man schon, wird nicht sehr Long. Zur Spannung kann auch die weltenumfassende Black Cooperation nichts beitragen, die mit ihrer Monopolstellung im Bereich der Technikentwicklung so normal-megalomanisch-bedrohlich wirkt wie jede Monopolfirma unserer Heimaterde.

Die Figuren haben der fehlenden Spannung nur wenig entgegenzusetzen. Helen, das Hausmütterchen, und Sally, die männerhassende Furie, sind ebenso innovativ wie der verbissene Cop in Rente oder der unsozialisierte Weltraumnerd. Doch während diese zumindest Altbewährtes bieten, streiten sich bei Joshua Blässe und Widersprüchlichkeit um die Oberhand bei der Charakterskizzierung, und selbst eindeutig Pratchetteske Figuren wie die fluchende Biker-Ordensschwester Agnes haben eher den Charakter eines müden Scherzes. Interessant bliebe höchstens Lobsang, der mit seiner Entwicklung zum Deus Ex Machina jedoch auch sein Potential an sich vorüberziehen sieht.

Bleibt der Konflikt zwischen Mensch und Troll, der zweifelsohne Stoff für ethisch höchst interessante Geschichten liefern könnte. Doch bei der Lösung des Konfliktes verhält es sich ähnlich wie mit der literarischen Bevölkerung der Langen Erden: die Ideen pendeln zwischen „absurd-bizarr“ und schlicht „unlogisch“, und was gibt es ermüdenderes als uninspirierte Skurrilität? Das Sujet der Erforschung, Erkundung und Eroberung neuer Welten wurde selten so longwierig (Verzeihung) beschrieben.

Zuletzt liest sich der Roman auch noch wie das wütende Atheismus-Plädoyer eines Sechsjährigen, dessen Pausenbrot von Franziskus-Josef geklaut wurde. Umweltverschmutzung, Gewalt, Entfremdung und das scheußliche Wetter auf Erde 25623: die (westlichen) Religionen sind Schuld. Gott sei Dank (Verzeihung die 2.) wartet der Roman mit der konturlosen Figur des ehemaligen Priester Nelsons auf, der mit Lobsang kurzzeitig auf dem Pfad der wissenschaftlichen Erleuchtung wandelt, um sich dann auf dem Rücken eines gigantischen Wirtstieres, das im Ozean einer weit entfernten Erde schwimmt und auch parasitär lebenden, aber hübschen, blumenbehangenen Inselschönheiten Platz bietet, befreiendem Sex hinzugeben, mit dem er die Fesseln seiner religiösen Indoktrinierung endlich zu sprengen vermag.

Hey, ich habe mir das nicht ausgedacht.

Es ist bedauerlich, dass sich die Autoren der spannenden Frage – wie entwickelt sich Religion in Zeiten der unbegrenzten „Schöpfung“ – über Plattitüden und Schuldzuweisungen nähern, die aus dem Nichts kommen und ebenso schnell wieder vergessen sind. Mit ihrem Roman lassen Baxter und Pratchett Gläubige in einem schlechten Licht dastehen – und Nichtgläubige im Licht eines kaputten Nebelscheinwerfers.

Schließlich macht das gleiche, was die Eroberer der unendlichen neuen Welten plagt, auch dem Roman zu schaffen: Ziellosigkeit, gepaart mit der subtilen Langeweile des „Ich fahre in die weite Ferne, aber irgendwie sieht es überall gleich aus“-Effekts, der einen auch leicht auf der Zugfahrt von Dresden nach Berlin befällt. The Long War gleicht somit eher einer Reise durch Brandenburg – wobei, dort gibt es immerhin Wölfe.

Die sogenannte „Erste Welt“ ist zugrunde gegangen und es folgte eine Art Dunkles Zeitalter. Die Kriege und das Chaos haben ihre verhängnisvollen Spuren nicht nur auf der Welt hinterlassen, sondern auch in und an den Menschen, die sie bevölkerten. Etwas ging verloren; der Unwirtlichkeit der „Welt“ – wie sie nun im Gegensatz zur „Ersten Welt“ genannt wird – begegnen die meisten nur noch mit fatalistischer Resignation, weshalb sich die verschiedenen Staatsgebilde im Niedergang befinden. Um dem entgegenzuwirken, schmiedet General Toriman aus der Karolinischen Republik einen Plan: Zur Neu-Entfachung des Unternehmungsgeists der Menschheit soll aus den Relikten der Ersten Welt ein Raumschiff gebaut werden, mit dem man zu einem neuen Planeten fliegen könnte …

-»All right, we don’t have to go traipsing off into the Barrens or some other objectionable place looking for enchanted vials with this thing in them. All we have to do is awaken it in the citizenry.«-
Seite 32

Lords of the Starship (Das Sternenschiff) war der Debutroman des damals (1967) 21-jährigen Mark Geston und ist zugleich der erste Band der nur lose miteinander verknüpften Trilogie The Books of the Wars. Diese ist derzeit in einem gleichnamigen Sammelband von Baen (ISBN: 978-1416591528) in englischer Sprache verfügbar, auf Deutsch wurde 1988 der Sammelband Das Schiff veröffentlicht, der allerdings anstelle des dritten Bandes The Siege of Wonder den nicht zur Reihe gehörenden Roman The Day Star enthält.

Die angenehme Überraschung an diesem Roman ist, dass hier eine im Niedergang befindliche Welt nicht durch irgendein verschollenes Objekt gerettet werden kann, sondern es an den Menschen selbst liegt, was sie aus ihrem Schicksal machen. Anstatt einer Queste werden in diesem Band die wahren Hintergründe und die Entwicklung des Plans über 150 Jahre hinweg erzählt. Damit wird aber auch dargelegt, wie die Gesellschaft und die politische Landschaft der Welt mit der Verwirklichung dieses Plans in Wechselwirkung stehen. Gerade diese Aspekte werden dem Leser/der Leserin aber teilweise nur schematisch präsentiert. Es wird trotzdem deutlich, wie die Fokussierung einer Gesellschaft auf ein Ziel diese verändert und dass sich diese Veränderung wiederum auf das Erreichen des Ziels auswirken kann.

Der Reiz des Romans liegt in seinem Setting, in dem sich verschiedene Elemente vermischen. Einerseits gibt es neuzeitlich anmutende bürokratische Strukturen, Wissenschaften und Staatsgebilde, daneben aber ebenso mittelalterliche wie moderne Waffen und die zahlreichen Relikte aus der Ersten Welt, die modern bis zukünftig sind. Die Versuche, diese Errungenschaften nachzubauen, enden in kruden und zumeist dysfunktionalen Konstruktionen, die einen Hauch von Mad Max in die Welt bringen.

Geston gelingt es, dieses Setting in einer ebenso lebendigen wie anschaulichen – teilweise etwas ausufernden – Sprache einzufangen und atmosphärische Szenen zu schaffen, dabei reicht die Bandbreite von der Faszination und Ehrfurcht angesichts der Anlagen der Ersten Welt über brutale (und bizarre) Kämpfe mit Mutanten bis hin zum majestätischen Raumschiff. Geston schafft Szenen, die einem im Gedächtnis bleiben.

Dieses Talent ist auch wichtig, denn es gibt kein festes Set von Protagonisten, zu denen man eine Beziehung aufbauen könnte, vielmehr dienen unterschiedlichste Personen nur dazu, um dem Leser/der Leserin das Verfolgen wichtiger Entscheidungen, Ereignisse oder Veränderungen in der Ausführung des Plans und schließlich in der Welt zu ermöglichen. Schlaglichtartig blitzen diese Personen also auf und verschwinden nach ein bis zwei Kapiteln wieder. Ausgefeilte Figuren kann man daher nicht erwarten, trotzdem gelingt es Geston gut, auch hier Figuren greifbar zu skizzieren, schließlich wird der Anfang der Kapitel auf die Charakterzeichnung verwandt. Hierin liegt aber auch eine Schwäche des Romans – die man auf die historischen Umstände und/oder das Alter des Autors zurückführen kann – denn die einzelnen Point-of-Views stammen allesamt von Männern, Frauen kommen quasi gar nicht vor und wenn, dann in der Rolle der Ehefrau oder Geliebten. Ebenso könnte man dem Roman eine gewisse Eliteaffinität unterstellen – dort finden sich zumeist die lobenswerten Ausnahmen von der allgemeinen Resignation und Antriebslosigkeit. Dieser Eindruck wird allerdings in manchen Szenen gebrochen, so wie Geston überhaupt einige einander widersprechende Weltbilder auftreten lässt, von Technokratie über pathetischen Essentialismus bis hin zu kultischem Erlösungsglauben.

Gegen Ende werden die Fantasyelemente dezent stärker betont, die bis dahin eher im Hintergrund standen, trotzdem bleibt Lords of the Starship ein SF-Roman.

Picknick am WegesrandUngesehen und unerkannt haben außerirdische Wesen die Erde besucht; Zeugnis dafür sind sechs Gebiete auf der Erde, die durch ihren Besuch gezeichnet sind: fremdartige Gegenstände ohne erfassbaren Sinn liegen wie vergessene Abfälle über den Zonen verstreut. Während die Wissenschaft die Zonen und ihre Artefakte systematisch untersucht, versuchen illegale Schatzgräber, dem Gebiet seine geheimnisvollen Gebilde zu entreißen und auf dem Schwarzmarkt zu verkaufen. Eine Zone liegt in der Stadt Harmont, und der Schatzgräber Roderic Schuchart scheut weder Gefängnisstrafen, noch die bewaffneten Patrouillen, noch die Gefahren einer Schatzjagd, wenn es darum geht, sich seine (finanzielle) Unabhängigkeit zu bewahren. Erst als seine Tochter, gezeichnet von genetischer Mutation, zur Welt kommt, ist Schuchart gezwungen, sein Handeln in Frage zu stellen.

Der Mensch ist zum Denken geboren.
– Letztes Kapitel

Fernab von maschinenzentrierten Fortschrittsutopien konzentriert sich der Roman Picknick am Wegesrand (Piknik na obotschinje) der Strugatzki-Brüder auf den Kern einer jeden Entwicklung: den Wunsch des Menschen, Unbekanntes zu verstehen und die Fähigkeit, die Realität an die eigenen Vorstellungen anzupassen, wenn nichts verstanden werden kann.
Die Bewohner der Stadt Harmont stehen schon bald völlig unter dem Bann dessen, was sie nicht verstehen. Roderic Schuchart ist einer von ihnen: er kennt die Regeln der Zone besser als jeder andere Schatzgräber, auch wenn er sie ebenso wenig wie alle anderen erklären kann. Die Artefakte der Zone sind primär eine Geld-, keine Erkenntnisquelle. Der Versuch, durch die Benennung der Artefakte dem Nichtweltlichen den Stempel der Menschheit aufzudrücken, kann als hilfloser Ersatz für Verständnis gedeutet werden. Fliegenklatsche, Hexensülze, Nullen – naive Übersetzungen des Unbegreiflichen in ein irdisches Vokabular. Der Benennungswahn findet seinen unheilvollen Höhepunkt im Kosenamen der Tochter Schucharts, der genau wie die zuvor genannten Begriffe nur das beschreibt, was der Mensch sehen kann – und in seiner grausamen Hilflosigkeit zeigt, dass der Mensch durch seine Unwissenheit zum blinden Weitermachen verdammt zu sein scheint.

Die Sucht nach Erkenntnis ist allen zu eigen, die sich mit den Geschehnissen in der Zone befassen – doch auf die dringlichste Frage für viele, was der Grund für den Besuch war, liefert ein alternder Physiker eine für seine Zuhörer nur unbefriedigende Antwort: vielleicht war es nur Unachtsamkeit, gepaart mit völliger Gleichgültigkeit für die Erde und ihre Bewohner. Keine versuchte Kontaktaufnahme, keine Begegnung, keine Wiederkehr der außerirdischen Besucher: es ist, als ob die Menschheit einfach nicht interessant genug war.

Doch während sich die Menschen im Kreis drehen in ihrer Suche nach Wissen, finden einige Gegenstände ihren Nutzen im Alltag. Attacks werden als Autoanlasser genutzt, Schwarze Splitter als exklusiver Schmuck um den Hals getragen. Auch von einem Nutzen der Artefakte für das Militär oder für die Wissenschaft ist die Rede; dieser Wunsch jedoch erscheint utopisch. Greifbarer sind ganz andere Erscheinungen, die in Erzählungen durch die Stadt spuken: Tote, die wieder auferstehen, der Vagabund Dick, die lustigen Gespenster; und nicht zuletzt die Goldene Kugel, jenes Artefakt, welches dem Finder alle Wünsche erfüllen soll. Hoffnung und Schrecken liegen nah beieinander, wenn es um die Zone geht, und das Grauen überkommt den Leser auf leisen Sohlen.
Krankheiten, genetische Mutationen und unheilbare Verletzungen sind die greifbaren Folgen des Besuchs. Deutlich subtiler ist die Veränderung des Geistes: der Alltag der Bewohner Harmonts ist geprägt von Rücksichtslosigkeit und beiläufiger Gewaltbereitschaft, von der Angst, verraten zu werden und von der Versuchung, andere zu verraten. Roderic Schuchart strebt nach Reichtum, nach Sicherheit, nach Frieden, doch sein Streben artet in eine umfassende Selbstentfremdung aus. Es ist die große Stärke dieses beklemmenden, außerordentlichen Romans, dass er den Menschen versteht, der seinerseits nicht einmal mehr sich selbst zu begreifen vermag. Schucharts Suche nach der Goldenen Kugel gibt seiner Hoffnung Ausdruck, mehr zu sein als ein bloßes Tier, auch wenn er nichts menschliches mehr in sich entdecken kann. Der Leser erfährt nur bruchstückhaft die Fährnisse des Lebens nach dem Besuch, doch mit jeder weiteren Seite wird deutlich: die wahre Unmenschlichkeit versteckt sich nicht in der Zone, sondern in dem Wesen des Menschen selbst.

Planet der Habenichtse von Ursula K. Le GuinVor über 100 Jahren wurde Anarres, der karge Mond des fruchtbaren Planeten Urras, besiedelt. Die Kolonisten waren Ausgestoßene, Anhänger einer marxistisch-anarchischen Bewegung (Odonianismus), die auf den Mond verfrachtet wurden, um Ruhe und Frieden auf Urras wiederherzustellen – aus Sicht urrastischer Regierungen – bzw. um dort eine ideale, neue Gesellschaft zu errichten – aus Sicht der Siedler. In dieser egalitären, regierungslosen Gesellschaft ist Shevek aufgewachsen, zutiefst geprägt von Odos Idealen, doch nun möchte der berühmte Zeitphysiker als erster Anarresti wieder zurück nach Urras.

– Ihr müßt allein kommen, und nackt, wie das Kind in die Welt, in seine Zukunft kommt, ohne Vergangenheit, ohne Besitz, ganz und gar von anderen Leuten abhängig, um zu leben. Ihr könnt nicht nehmen, was ihr nicht gegeben habt, und ihr müßt euch selbst geben. Ihr könnt die Revolution nicht kaufen. Ihr könnt die Revolution nicht machen. Ihr könnt nur die Revolution sein. Sie ist in euch, oder sie ist nirgends. –

Zu Planet der Habenichtse liegt eine Rezension der Originalausgabe bei Bibliotheka Phantastika vor, dazu bitte hier entlang.

Cover von Quantum von Hannu RajaniemiMeisterdieb Jean le Flambeur sitzt in einer Erziehungsanstalt, deren Methoden sich auf (zum Teil) virtuell tödliche Spiele beschränken. Dies soll die Insassen zu besseren Menschen machen. Bevor dies bei le Flambeur tatsächlich eintritt, wird er jedoch glücklicherweise von der Kriegerin Mieli aus dem Cyber-Gefängnis gerettet, damit er etwas für sie von der Oubliette, der Metropole auf dem Mars, stiehlt. Der Auftrag erweist sich jedoch nicht nur als wahre Herausforderung für den Meisterdieb, sondern auch als Reise in seine Vergangenheit. In der Oubliette verdient sich parallel dazu ein junger Detektiv seine Sporen im Dienste des geheimnisvollen „Gentleman“.

-Bevor das Kriegerhirn und ich aufeinander schießen, versuche ich, wie jedes Mal, Konversation zu machen.- S. 6

Mit seinem Debutroman Quantum stürzt der studierte Mathematiker und Physiker Hannu Rajaniemi den Leser/die Leserin unvermittelt in ein facettenreiches Science-Fiction-Universum. Mit Erklärungen hält er sich dabei jedoch nicht lange auf, stattdessen werden einem Fraktionen, neue Gesellschaftssysteme und eine Unzahl von Technologien an den Kopf geworfen; erst ungefähr zur Hälfte des Buches beginnt sich ein Bild abzuzeichnen, vieles bleibt jedoch bis zum Ende des Romans rätselhaft – vielleicht schaffen hier die folgenden Bände Abhilfe.

Rajaniemi schafft es so aber auch ein Gefühl zu wecken, das die Science Fiction für mich schon beinahe verloren hatte: Faszination ob der Technologien und Anwendungsbereiche, die der Autor mithilfe der Quanten aus dem Hut zaubert. Diese, gepaart mit großem Entdeckerdrang, ist es auch, die einen durch die erste Hälfte des Buches trägt, wenn man jedes Informationsschnipselchen in sich aufsaugt, um das Setting besser zu verstehen. Der Roman erweckt stellenweise den Eindruck einer tour de force durch einen Jahrmarkt der Zukunftstechnologie. Die Attraktionen sind teilweise beeindruckend, teilweise erschreckend, immer jedoch faszinierend – man kommt jedoch nicht dazu, sie sich genauer anzuschauen, denn kaum hat man die eine betrachtet, folgt schon die nächste. Mit den Milieus der marsianischen Oubliette erfahren diese Technologien eine faszinierende soziale Einbettung. Bei manchen der auftretenden Gruppierungen werden sogar ihre Ursprünge in heutigen Subkulturen angedeutet und auch sonst verbergen sich in den Namen und Bezeichnungen zahlreiche Anspielungen und Hinweise.

Leider zeigt Rajaniemi bei seinen Figuren nicht dieselbe Kreativität, diese bleiben Stereotype (der sympathische Gentleman-Gauner, die spröde Amazone, etc.), obwohl sie in der zweiten Hälfte des Romans etwas mehr Substanz gewinnen, und auch die Auflösung einiger Beziehungen ist erschreckend vorhersehbar. Sie erfüllen jedoch durchaus ihren Zweck, vermögen Sympathie zu wecken und die Handlung mit Leben zu füllen. Leider nimmt genau dann, als man mehr über die Vergangenheit Jean le Flambeurs erfährt, die Geschichte deutlich mehr an Fahrt auf und läuft dem (etwas überhasteten) Ende entgegen.
Trotzdem ist der Roman eine Empfehlung für all jene, die nicht genug von sympathischen Gentleman-Gaunern kriegen können und Freude am Entdecken haben!

Seaserpents! von Jack Dann und Gardner DozoisSeaserpents! gehört zu einer von Jack Dann und Gardner Dozois herausgegebenen Reihe von Anthologien, die jeweils ein bestimmtes phantastisches Thema oder Motiv behandeln. Sie enthält zehn Geschichten über Seeungeheuer. Alle Geschichten sind vorab schon an anderer Stelle erschienen und werden von einem kurzen Text über den Autor bzw. die Autorin eingeleitet. Eine Liste mit weiterführender Literatur zum Thema schließt die Anthologie ab.

-The moonlight was muted and scattered by the mist above the loch. A chill breeze stirred the white tendrils to a sliding, skating motion upon the water’s surface.-
The Horses of Lir

Wäre ich ein Seeungeheuer, ich würde mich beschweren, dass Nessie mir so schamlos die Show stiehlt. In Seaserpents! ist Loch Ness viel präsenter als das Meer und liefert – direkt oder indirekt – u.a. das Material für die ersten beiden Geschichten, die unterschiedlicher kaum sein könnten: Auf den plumpen Machismo von L. Sprague de Camp in Algy, der Geschichte über ein mutmaßliches Ungeheuer im Lake Algonquin, dem eine (natürlich) schottische Gruppe von Abenteurer nachspürt, die sich dabei überaus männlich gibt und der ortsansässigen Damenwelt nachstellt, folgt mit Lillian Stewart Carls Out of the Darkness eine gefühlsbetonte Geschichte, bei der die Monsterjagd (diesmal direkt am Loch Ness) nur eine Nebenhandlung zu einer Beziehungskrise ist, in der wissenschaftliche und künstlerische Weltsicht aufeinanderprallen. Bei beiden Geschichten ist das Unvermögen zentral, die Existenz des Monsters zu beweisen, aber richtig in Fahrt kommt Seaserpents! mit keiner davon. Das gelingt erst ganz zaghaft mit Leviathan von Larry Niven, der seinen (auch in anderen Geschichten von ähnlichen Aufträgen geplagten) Helden Svetz aus einer fernen Zukunft in die Vergangenheit schickt, um dort Exemplare inzwischen ausgestorbener Spezies einzufangen, in diesem Fall einen Wal. Leider hat die zuständige Behörde eine fatale Tendenz zur Fehlinterpretation der überlieferten Daten – oder läuft etwas ganz anderes schief?

Ein erstes Highlight ist The Horses of Lir von Roger Zelazny, das zeigt, wie Wunderbares (und Schreckliches) im Verborgenen bis in die Gegenwart überdauert haben könnte und was es bedeutet, damit in Berührung zu kommen. Der Schauplatz der Geschichte ist abermals ein schottischer Loch, doch diesmal ist die Atmosphäre einmalig und Zelaznys eleganter Stil macht The Horses of Lir sehr lesenswert.
Mit Gordon R. Dicksons The Mortal and the Monster geht es grandios weiter, auch wenn der Titel, unter dem der Kurzroman ursprünglich veröffentlicht wurde, nämlich The Monster and the Maiden, treffender gewesen wäre – wozu man wissen muss, dass besagte Maid gerne Lachs frisst und ziemlich groß ist. Wir befinden uns wieder einmal am Loch Ness, immerhin sorgt in dieser Geschichte ganz Dickson-typisch ein Perspektivwechsel für Spannung: Man erfährt die Geschichte aus der Sicht des Seeungeheuers. Es ist ein trauriges, aus der Zeit gefallenes Monster, das gleichzeitig jugendlich sprühend wirkt, während sich beim Leser oder der Leserin Melancholie breitmacht, da man die Welt zu gut kennt, durch die die Protagonistin schwimmt. Die Geschichte enthält auch eine bezaubernde Darstellung eines Kommunikationsversuchs zwischen zwei intelligenten Spezies, die in völlig unterschiedlichen Bedingungen leben, und ist rundum gelungen.

In John Colliers Club Story Man Overboard darf man dann endlich Seeluft schnuppern und den gewitzten Ich-Erzähler auf eine Luxus-Yacht begleiten, die nur einem Zweck dient – dem Aufspüren eines Seeungeheuers. Die Geschichte ist klassisches Kurzgeschichten-Material, was man auch von Manly Wade Wellmans The Dakwa behaupten könnte, das allerdings wegen der Nutzung von amerikanischem Sagenstoff und einem schönen Ambiente die Nase weit vorn hat. Hier gelingt auch mühelos, was in der Eröffnungsgeschichte von de Camp gescheitert ist: Männliche Helden tun männliche Dinge … wenn sie nicht gerade im Bademantel herumlaufen, weil sie ein unfreiwilliges Bad mit dem Dakwa, einem ziemlich unheimlichen und bizarren Wassermonster, genommen haben. Wellman beschwört dabei ein phantastisches Nordamerika herauf, in dem man abends in einer einsamen Hütte das Banjo auspackt und hofft, dass die Wesen der Nacht draußen bleiben.
Eine weitere solide Club Story ist The Kings of the Sea von Sterling E. Lanier, in der Brigadier Ffellowes von einem Abenteuer während eines Urlaubs in Skandinavien berichtet. Sie kann mit einem starken Ende und einer bedrohlichen Atmosphäre punkten, während an der Oberfläche eigentlich nur sehr wenig passiert.

Grumblefritz von Marvin Kaye bringt mit nur vier Seiten in Form einer Zeitungsannonce das Format der Kurzgeschichte an seine Grenzen. Das Plädoyer für ein bedrängtes Seeungeheuer von New York ist eine spielerische Satire mit einem wunderbaren Konzept.
Die abschließende Geschichte, The Devil of Malkirk, ist die beste von Charles Sheffields Doctor-Darwin-Geschichten und wirft einige schottische Mythen in den Topf. Die Verortung am Loch Ness und in der Zeit von Erasmus Darwin wirkt aufgrund der sorgfältigen Recherche sehr lebendig. Außerdem gebührt der Geschichte, die zu den besseren dieser etwas durchwachsenen, aber mit sehr starken Höhepunkten ausgestatteten Anthologie gehört, immerhin der Ruhm, den Schlachtruf aller Kryptozoologen einzuführen: »What in the name of Linnaeus is this?«

Cover des Buches "Das Skorpionenhaus" von Nancy FarmerDer fünfjährige Matt lebt bei seiner Ziehmutter Celia in einer Hütte inmitten von Mohnfeldern. Er darf das Haus nicht verlassen, Türen und Fenster sind fest verschlossen. Abwechslung bieten ihm nur ein wenig Spielzeug, ein paar Bücher und das Fernsehen. Eines Tages, als Celia zur Arbeit gegangen ist, machen sich Kinder an der verschlossenen Hütte zu schaffen und als sie am nächsten Tag wiederkommen, schlägt Matt das Fenster ein und springt ins Freie. Dabei verletzt er sich an den herumliegenden Glassplittern. Die Kinder bringen den blutenden Matt zum nahegelegenen Herrenhaus. Dort versorgt zwar ein Arzt seine Wunden, doch die Erwachsenen behandeln ihn mit unverhohlener Abscheu, denn sie wissen, was Matt bisher nicht wusste: er ist ein Klon.

– Am Anfang waren es 36 Tröpfchen Leben – so winzig, dass Eduardo sie nur unter einem Mikroskop erkennen konnte. Er betrachtete sie besorgt in dem verdunkelten Raum. –
Am Anfang

Zwar weiß man von Anfang an, dass Matt ein Klon ist, doch löst dieses Wissen beim Leser keine Abneigung gegenüber dem Kind aus.
Nancy Farmer gelingt es, die Einsamkeit und Sehnsucht des Kleinen spürbar zu machen, ohne in Rührseligkeit zu verfallen. Sie vermittelt dem Leser das Gefühl, dass irgend etwas nicht stimmt, dass etwas Bedrohliches in der Luft liegt, doch gleichzeitig schildert sie Matt als so kindlich und menschlich, dass man sich fragt, was an ihm denn so anders sein soll und warum die Erwachsenen und die anderen Kinder sich ihm gegenüber so abscheulich benehmen. Sie bezeichnen ihn als Biest, man trennt ihn von Celia und eine Zeit lang wird er unter entwürdigenden Umständen wie ein Tier gehalten, wodurch seine Psyche fast zerbricht. Erst nach und nach enthüllt sich dem Leser, was diese Welt so bedrohlich erscheinen lässt.

Die Wahrheit ist, dass Matt, der Klon, gar nicht so anders ist, im Gegenteil, er benimmt sich oft humaner als die, die ihn verachten. Zu den Problemen, die Nancy Farmer in diesem Roman thematisiert gehören auch Diskriminierung und Vorurteile, hauptsächlich geht es aber um die Frage, was den Menschen zum Menschen macht und um Machtmissbrauch. El Patrón, das Oberhaupt des Familienclans, ist so reich und mächtig, dass er Gesetze brechen kann, ohne zur Rechenschaft gezogen zu werden, seine Familie muss nach seiner Pfeife tanzen, was Matt wenigstens einen gewissen Schutz gibt und er beutet gnadenlos Menschen aus, die er als willenlose Arbeiter auf seinen Feldern bis zum Umfallen schuften lässt. Und auch die Klone haben seinen Zwecken zu dienen, denn Matt ist nicht der einzige, doch er ist dennoch etwas Besonderes.

Obwohl Das Skorpionenhaus (The house of the scorpion) in der Zukunft spielt, in einem fiktiven Land mit futuristischen Fortbewegungsmitteln, ist die Gesellschaft der unseren so ähnlich, dass man sich fragt, wie weit wir im Zeitalter von Klonschaf Dolly davon noch entfernt sind. El Patrón macht Menschen zu willenlosen Sklaven, indem er ihren Körper manipuliert, in einem anderen Land, sollen Menschen zu willenlosen Sklaven gemacht werden, indem man ihre Psyche manipuliert und diese Methode, Individuen gleichzuschalten und zu Erfüllungsgehilfen der Obrigkeit zu erziehen ist beängstigend nah an unserer Realität und unserer Geschichte.
Zum Glück gibt es in Matts Welt auch Freundschaft und Mut und deshalb gibt es auch die Chance, Diktaturen zu stürzen. Matts Leibwächter Tam-Lin weiß das, er schreibt Matt eine Nachricht auf einen Zettel: Du kanst es schaffen.

The Soul Consortium von Simon West-BulfordSalem Ben, der letzte Mensch im Universum, lebt alleine auf einem künstlichen Mond, wo jedes gelebte Leben als digitale Kopie archiviert liegt. Der Rest der Menschheit hat nach Millionen von Jahren eines sinnlos gewordenen Lebens den Freitod gewählt – der natürliche Tod wurde durch enorm fortschrittliche Technologien im Bereich des Klonens und synaptischer Übertragung besiegt -, nur Salem Ben fürchtet auch nach all der Langen Zeit das Ende und sucht eine Antwort auf die letzte aller Fragen, bevor er sich dem Tod stellen kann: gibt es ein Leben danach?
Um die Antwort zu finden, schlüpft er in verschiedene archivierte Leben. Doch was er statt der Antwort findet, ist eine bösartige Entität, die die Entstehung des Lebens zu redigieren gedenkt – Salem Ben ist das Einzige, was ihr dabei im Weg steht.

When I was a boy my smiling schoolteacher asked my class a very simple question:
»What is the one thing in this world that we can all know as an undeniable certainty?«
The students looked at each other, smirking as they whispered their sarcastic remarks, but the grins soon fell when she spoke again. Not because she had brought her palm down hard on her desk when she revealed the answer. It was tears in her eyes.
»One day every last one of you will die.«

Simon West-Bulfords Debütroman The Soul Consortium ist ein Roman, der unscheinbar beginnt und sich zu einem unerwartet spannenden Werk aufbaut, das einen, noch lange nachdem man das Buch beiseite gelegt hat, verfolgt. Nicht nur, dass es die am besten versteckten Knöpfe in einem drückt, es ist auch die Art von Science Fiction, die man oft hofft zu finden und doch selten bekommt.

The Soul Consortium erzählt vom Beginn der Zeit, vom Ende der Zeit, von Menschlichkeit, Liebe, Zerstörung, Wissenschaft und Philosophie, von der Entstehung des Lebens bis zum Ende des Universums … So vieles wird in diesem Roman thematisiert, dass man glauben könnte, es müsse erzählerisch etwas auf der Strecke bleiben. Doch der Autor hat ein perfektes Netz erschaffen, in dem jeder Faden sitzt, wo er hingehört. Um das Fazit also gleich vorweg zu nehmen: The Soul Consortium gehört dringend auf den Leseplan.

Schon zu Anfang werden Zukunft, Gegenwart und Vergangenheit miteinander verknüpft. Der Leser bewegt sich in diesem Roman durch verschiedene Epochen der Menschheitsgeschichte. Von einer jungen Frau im Frankreich des 16.-17. Jahrhunderts über einen Serienkiller des 20. Jahrhunderts hin zur Herrscherin über das bekannte Universum in einer Zukunft soweit voraus, dass man es gar nicht mehr in Zahlen fassen kann. Alles wird durch die Augen von Salem Ben erlebt, der wiederum durch die Augen verstorbender Menschen sieht, in deren archivierte Dateien er auf seiner Suche immer wieder schlüpft. Das ganze Konzept des Soul Consortiums ist schon beinahe eine Liebeserklärung an die Metaebene und unheimlich schwer in Worte zu fassen, will man nicht die besten Entwicklungen vorab verraten.
Die Technologie ist entsprechend enorm weit fortgeschritten und gibt ihre Funktionsweise erst nach und nach Preis – so bleibt die Neugier bis zum Schluss erhalten, ohne ins Unerträgliche abzugleiten. Sie wird bereichert durch Dinge, die den Menschen von jeher antreiben. Vieles von dem, was in diesem Roman geschieht, krallt sich direkt in die eigene Seele, erschüttert einen, berührt einen, macht einen abwechselnd glücklich und traurig, wirft Fragen auf und spendet Hoffnung in der Ungewissheit. Gute Absichten erschaffen manchmal böse Dinge und umgekehrt muss man sich fragen, ist das Böse tatsächlich böse?

Die Charaktere in diesem Roman sind allesamt erfrischend glaubhaft und abwechslungsreich. Selbst die stoische KI vermag es noch, den Leser zu überraschen. Man fühlt mit den Figuren mit und lässt sich federleicht von ihnen durch die Episoden dieser Reise tragen. Neben Salem Ben, der ein besonnener Suchender ist, spielt die Entität Keitus Vita die zweite wichtige Rolle in The Soul Consortium. Sie bringt einen Hauch Fantasy in den Roman und jagt einem ab einem gewissen Punkt eine Form von Furcht ein, wie es nur diese ganz alten Horrorfilme beherrschen, die mit dem arbeiteten, was sich im Schatten abspielt. Man weiß, da schleicht etwas hinter einem her, doch jedes Mal, wenn man sich umdreht, entschlüpft es der Wahrnehmung. So ungefähr fühlt es sich an, Keitus Vita zu begegnen. Er kriecht zwischen den Zeilen herum und beobachtet dich. Das Lesen im Bett, kurz bevor man das Licht löschen wollte, wird plötzlich sehr unangenehm …

Bei all den tiefgreifenden und spannenden Ideen oder den physikalischen bis mathematischen Zusammenhängen schafft es der Autor außerdem, seine Worte so klar und mit bedacht zu wählen, dass jeder die Vorgänge problemlos versteht und doch nie die Intelligenz erwachsener Leser beleidigt wird. Chronologie und Setting sind ebenfalls sehr gut ausgearbeitet und enthalten pfiffige Kniffe. Man erlebt die Weite und Stille des Universums, die Größe all dessen, was uns umgibt, und wird sich der eigenen Winzigkeit in diesem kolossalen Getriebe bewusst.
Es ist schlicht beeindruckend, was der Autor hier in einem kleinen Verlag als Erstlingswerk abgeliefert hat und es bleibt an dieser Stelle nur zu sagen: jeder der dieses Buch verschmäht verpasst ein großartiges Leseerlebnis und einen frischen Blick auf das, wozu Science Fiction fernab von Laserschwertern, Warpantrieb und Co. fähig ist.

Stadt der Fremden von China MiévilleAvice Brenner Cho ist in Botschaftsstadt auf dem Planeten Arieka aufgewachsen. Umgeben von einer Luftblase, um die Menschen vor der für sie giftigen natürlichen Atmosphäre des Planeten zu schützen, bildet Botschaftsstadt eine kleine Kolonie, die vor allem in linguistischer Hinsicht einzigartig ist. Denn die insektioden Ariekei sprechen mit zwei Stimmen gleichzeitig, können nicht lügen und nur mit Lebewesen kommunizieren, die selbst mit zwei Stimmen sprechen. So hat sich in Botschaftsstadt eine eigene Hierarchie rund um die “Botschafter” gebildet, Beinahe-Klone, geschaffen, um wie ein Wesen mit zwei Stimmen zu wirken. Als jedoch das imperiale Zentrum Bremen einen neuen Botschafter entsendet, gerät Avice’ Welt plötzlich aus den Fugen …

– Ich kann die folgenden Ereignisse exakt datieren, da sie am Tag nach meinem Geburtstag geschahen. –

Zu Stadt der Fremden liegt eine Rezension der Originalausgabe bei Bibliotheka Phantastika vor, dazu bitte hier entlang.

Cover von Stadt der goldenen Schatten von Tad WilliamsIn den verschlammten Gräben der Westfront überkommen den britischen Soldaten Paul Jonas plötzlich seltsame Visionen von einer Frau in Gefangenschaft, die ihn in fremde Welten locken. Im Südafrika einer ferneren Zukunft kämpft die Universitätsdozentin Irene („Renie“) Sulaweyo nicht nur mit ihren prekären Familienverhältnissen, sondern auch um ihre Identität und vor allem um ihren jüngeren Bruder, dessen Geist nicht mehr aus der Cyberwelt zurückgekehrt ist. In den USA derselben Zukunft fühlt sich Orlando Gardiner um seinen wertvollen Onlinecharakter Thargor betrogen, der sein liebevoll entwickeltes Alter Ego darstellte. Um wiederzufinden, was sie verloren haben, begeben sich Renie und Orlando individuell tief in die virtuelle Realität.

-Paul Jonas seufzte. Er war fünfmal um den Baum herumgegangen, und das Ding machte keinerlei Anstalten, weniger unmöglich zu werden.- S. 18

Vielen wird Tad Williams vor allem aufgrund seines High-Fantasy-Zyklus Osten Ard bekannt sein – ob ihm mit Stadt der goldenen Schatten (City of Golden Shadow ) ein Cyberpunk-Roman gelingt?

Die Handlung dieses Auftaktbandes zum Otherland-Zyklus wird in drei parallel verlaufenden Handlungssträngen erzählt, die sich im Verlauf der Geschichte teilweise überkreuzen. Die Verschiedenheit der drei Protagonisten, was ihre jeweilige Zeitebene, aber auch ihren sozialen Kontext betrifft, bietet einen Vorgeschmack auf die Ideenvielfalt, die den Leser oder die Leserin in Stadt der goldenen Schatten erwartet. Mit der Südafrikanerin Renie Sulaweyo ist Tad Williams dabei eine tolle Figur gelungen, auch, weil die Kombination “farbig” und “weiblich” unter den Hauptfiguren in der Fantasy leider immer noch Seltenheitswert besitzt. Darüberhinaus bieten ihre zerrütteten Familienverhältnisse sowie das Zusammentreffen mit dem nicht weniger interessanten Sidekick !Xabbu, einem Buschmann, der es geschafft hat, akademische Ausbildung und die Traditionen seines Volkes zu vereinen, viele Möglichkeiten für das Thematisieren von Identität, Selbstfindung und damit Charakterentwicklung. Ähnlich verhält es sich mit dem spät hinzukommenden Strang um Orlando Gardiner, der aus ganz anderen Gründen eine tiefgreifende Persönlichkeitsentwicklung durchläuft.

Paul Jonas wirkt dagegen etwas blass, dafür punktet seine Geschichte mit dem, was diesen Roman so aufregend macht: der Weltenbau. Renies und Orlandos global vernetzte Welt mit ihren Science-Fiction- und Cyberpunk-Elementen ist schon spannend genug, zumal es Tad Williams versteht, mit kleinen Informationstupfern ein schönes Panorama zu liefern, in den Episoden der Virtual Reality und besonders in Pauls Handlungsstrang entfaltet der Autor jedoch eine beeindruckende Ideenvielfalt. Zwar werden die einzelnen Schauplätze teilweise nur episodisch und schlaglichtartig abgehandelt, trotzdem wirken sie sehr bunt und plastisch, was vor allem daran liegt, dass jede ihre eigenen Regeln und Normen hat. Dabei reicht die Bandbreite von fantasytypischen Mittelalterwelten bis hin zum steampunkigen Abenteuerromansetting, bei dem es Williams sogar gelingt, den kolonialen Gestus klassischer Abenteuerromane zu treffen.

Mit Stadt der goldenen Schatten ist Tad Williams ein wilder Genre-Mix gelungen, der zugleich ein beeindruckendes Beispiel für seinen Ideenreichtum darstellt. Durch die drei Handlungsstränge werden Längen, trotz der hohen Seitenzahl des Buches, großteils vermieden und wen das Buch fesselt, dem oder der rate ich den zweiten Band am Ende griffbereit zu haben. 😉

Steal Across the Sky von Nancy KressAliens tauchen auf, bauen eine Basis auf dem Mond und schalten eine Anzeige im Internet. Sie nennen sich „die Büßer“ und suchen Freiwillige, die sich ihnen als “Zeugen” zur Verfügung stellen. Sie behaupten, der Menschheit vor 10.000 Jahren etwas angetan zu haben, das sie nun offenbaren und für das sie damit Buße tun wollen.
Scheinbar wahllos werden über zwanzig Menschen ohne eindeutige Qualifikationen ausgewählt, um von den Büßern an die Schauplätze gebracht zu werden, wo sie das Verbrechen bezeugen können.

-At first, of cause, they thought it was a joke, those few Internet roamers who visited the new website.-
5: From Rewired and Hacked In, Editorial Column

Als notorisch neugieriger Fan phantastischer Literatur muss man sich fragen, ob es überhaupt LeserInnen gibt, die der Ausgangslage, die Nancy Kress in ihrem SF-Roman Steal Across the Sky präsentiert, widerstehen können. Wer will nicht wissen, was die Büßer vor 10.000 Jahren angestellt haben, was die auserkorenen Zeugen herausfinden werden? Diese Prämisse übt einen regelrechten Lesezwang aus und ist auch das treibende Spannungsmoment im ersten Drittel des Romans. Dort lässt Kress uns mit den Zeugen rätseln, denen sich die Lage auf den fernen Planeten, die sie untersuchen, und auch ihre konkrete Aufgabe, für die keine besonderen Kenntnisse oder Talente erforderlich sind, nicht sonderlich eindeutig darstellt. Der Fokus der Geschichte liegt trotz der Reise durch das halbe Universum nicht auf den fremden Kulturen oder den Welten, die die Zeugen besuchen, nicht auf der Adaption in der Fremde, dem Kulturschock oder dem Exotismus. Die Welten, die die beiden im Mittelpunkt der LeserInnenaufmerksamkeit stehenden Zeugen besuchen, sind nicht einmal besonders detailliert ausgearbeitet. Kress konzentriert sich voll und ganz auf die Figuren, die sich in dieser unerklärlichen Situation befinden, die etwas bezeugen sollen, von dem sie nicht wissen, was es ist, und auf die psychische Belastung, die mit all den Unsicherheiten einhergeht und die sie höchst unterschiedlich, aber beide auf ihre Weise schlecht verarbeiten.

Nach und nach kristallisiert sich aber die Antwort heraus, und Kress verbringt die größere Hälfte von Steal Across the Sky damit, den Umgang mit dem neuen Wissen zu erörtern: Vordergründig geht es dabei um die gesellschaftlichen Implikationen – wie reagieren die Menschen auf die Erkenntnisse der Zeugen? Anklänge an Kress’ Hauptwerk Beggars in Spain sind nicht zu leugnen, denn hier wie da untersucht sie, wie Menschen die Tatsache verarbeiten, dass etwas existieren könnte, das die bisherige Definition von „menschlich“ sprengt. Die Bilder gleichen sich: was im Bettler-Zyklus die Schlaflosen waren, sind hier die Zeugen, da in Ermangelung der wahren Adressaten des Unbehagens die Überbringer des neuen Wissens den Hass zu spüren bekommen. Der Diskurs, der nötig wäre, wird von grellen Schlagzeilen bestimmt, was der Roman durch etliche Einsprengsel zwischen den Kapiteln perfekt einfängt: Hier ein Kreuzworträtsel oder ein Kinderbild, dort ein Verhörprotokoll oder eine Buchbesprechung zeichnen ein umfassendes Bild vom problematischen Umgang der Menschheit mit dem Besonderen, der Abweichung, wie es auch in Kress’ Kurzgeschichten immer wieder auftaucht.
Doch die gesellschaftlichen Auswüchse sind lediglich die Kulisse, die wahren Konflikte spielen sich zwischen den Zeugen ab, von denen nun einige mehr als nur die hitzige Unterschicht-Kellnerin Cam und der in seiner Trauer um die verstorbene Frau innerlich abgestorbene Lebemann Luca aus dem ersten Teil in den Mittelpunkt rücken. Die Figuren sind zugleich Stärke und Schwäche von Steal Across the Sky: Es sind kleine Jedermanns, sie zeigen keine heldenhaften Ambitionen (und wenn doch, wird ihre Zwecklosigkeit schnell offenbar), sie sind voller Fehler und Unsicherheit, und Kress bietet den LeserInnen keine Sympathieträger an.

Dies nimmt neben dem gelüfteten Geheimnis dem zweiten Teil des Romans ein wenig den Wind aus den Segeln: Figuren, die sich nur falsch entscheiden, sich nie aus ihrer Kleinlichkeit lösen können, sind keine guten Spannungsträger. Ihr Handeln ist so häufig irrational und letztlich irrelevant, dass sie zwar mit Antiheldentum punkten können und es durchaus erfrischend ist, im Genre von so alltäglichen, von nichtigen Konflikten bestimmten Figuren zu lesen, als Träger der Geschichte, die Steal Across the Sky zumindest im Hintergrund erzählt, scheinen sie ihrer Aufgabe aber schlicht nicht gewachsen zu sein – was möglicherweise trotzdem einer der besten Zugänge ist, die man zu dem schwierigen Thema, das Kress sich ausgesucht hat, finden kann.
Eine Grundspannung bleibt wegen der undurchsichtigen Agenda der Aliens, die die Menschen mit ihrer Erkenntnis weitgehend allein lassen, allerdings durchgehend erhalten. Enttäuschend ist dann vor allem das Ende, das die Sache mit einer Eindeutigkeit auflöst, die dem Thema nicht gerecht werden kann. Kress selbst nennt in einem Interview biographische Gründe für ihre Themenwahl, die diese letzte Entscheidung evtl. nachvollziehbar machen.

Damit bleibt Steal Across the Sky ein interessanter, in weiten Teilen auch mitreißender Roman, der jedoch zu viel will: Gesellschaftskritisch sein und den Menschen ungeschönt auf den Zahn fühlen, metaphysische Interpretationen liefern, letztlich unwichtige Schauplätze auf fremden Welten zeigen, einen Erstkontakt mit Aliens beschreiben und mit einer ohne Zweifel sehr faszinierenden Idee punkten. Dabei kommt vor allem eines viel zu kurz: Die Auswirkungen des fundamentalen Eingriffs der Büßer vor 10.000 Jahren. Kress hat Strukturen geschaffen, die die Folgen dieser Tat und die alternative Entwicklung greifbar machen könnten, doch es bleibt bei einer wenig überzeugenden und unscheinbaren Ausarbeitung, obwohl bei vielen „was wäre wenn“-Spielchen in der SF schon kleinere Veränderungen weitaus größere Folgen hatten. Eine verschenkte Chance, aus diesem streckenweise sehr fesselnden Roman einen richtig großen Wurf zu machen.

Das Sternenschiff von Mark GestonDie sogenannte „Erste Welt“ ist zugrunde gegangen und es folgte eine Art Dunkles Zeitalter. Die Kriege und das Chaos haben ihre verhängnisvollen Spuren nicht nur auf der Welt hinterlassen, sondern auch in und an den Menschen, die sie bevölkerten. Etwas ging verloren; der Unwirtlichkeit der „Welt“ – wie sie nun im Gegensatz zur „Ersten Welt“ genannt wird – begegnen die meisten nur noch mit fatalistischer Resignation, weshalb sich die verschiedenen Staatsgebilde im Niedergang befinden. Um dem entgegenzuwirken, schmiedet General Toriman aus der Karolinischen Republik einen Plan: Zur Neu-Entfachung des Unternehmungsgeists der Menschheit soll aus den Relikten der Ersten Welt ein Raumschiff gebaut werden, mit dem man zu einem neuen Planeten fliegen könnte …

Zu Das Sternenschiff liegt eine Rezension der Originalausgabe bei Bibliotheka Phantastika vor, dazu bitte hier entlang.

Cover des Buches "Sturm über Windhaven" von Georg R.R. Martin und Lisa Tuttle Auf dem fremden Planeten “Windhaven”, dessen Oberfläche zum größten Teil aus Wasser, durchsetzt nur von einigen Inseln, besteht, existiert eine Klasse von Fliegern, die mittels der Reste eines uralten Sternensegels, das einst von einem havarierten Raumschiff zurückgelassen wurde, als Botschafter zwischen den Inseln fungieren. Die Flieger gelten als privilegiert; die kostbaren Flügel werden innerhalb der Familie vererbt, und niemand, der nicht ein “geborener Flieger” ist, also einer solchen Familie angehört, hat jemals die Möglichkeit sich den Traum vom Fliegen zu erfüllen. Maris von Amberly, eine so genannte “Landgebundene” begehrt gegen diese Tradition auf, um ihre unstillbare Sehnsucht nach dem Fliegen zu erfüllen.

-Maris ließ sich von den Sturmböen über das Meer dahintreiben. Sie zähmte die Winde mit breiten Flügeln aus Metallfolie. Waghalsig flog sie über die Wellen, die Gefahr und die Gischtspritzer bereiteten ihr Vergnügen, die Kälte störte sie nicht im Geringsten. Der Himmel hatte eine ominöse kobaltblaue Färbung angenommen, der Wind frischte auf, und sie hatte Flügel, das reichte ihr. Sie hätte jetzt sterben können und wäre glücklich gestorben, im Flug.-
Teil 1: Stürme

Vorsicht: Wer George R.R. Martins glänzende Meisterwerke wie The Ice Dragon oder A Song of Ice and Fire kennt und liebt, wird von diesem Roman vielleicht enttäuscht sein. In Sturm über Windhaven (Windhaven) steht nicht wie in den obengenannten Werken die Erschaffung einer epischen Sekundärwelt mit ausgereifter Mythologie im Mittelpunkt. Stattdessen hat das kleine, aber feine Büchlein ganz andere Qualitäten. Je weiter man liest, desto bestimmter wird jedenfalls die Überzeugung, dass man eine echte Perle vor sich hat.

In dieser Zusammenarbeit mit Lisa Tuttle treten – anstelle von haarsträubenden Horroreffekten, düster-realistischen Kriegsbeschreibungen und eingängig beschriebenen, originellen Charakteren – eher die inneren Beweggründe der Charaktere und ihre Konflikte mit den gesellschaftlichen Normen in den Vordergrund.
Vergangene Ereignisse wie Kriege zwischen einzelnen Inseln, frühere Konflikte innerhalb der Fliegerkaste und die Besiedelung der Meeres- und Felsenwelt von Windhaven werden eher beiläufig erwähnt. Auch typische Elemente wie Seeungeheuer oder Priesterkasten und Fliegerfürsten, die man in einem solchen Roman geradezu erwarten würde, spielen eher nebensächliche Rollen.
So kann man sich ganz auf den der Handlung zugrundeliegenden Konflikt, die sich anbahnenden gesellschaftlichen Veränderungen auf den nahezu isolierten Inseln und die Rollen und Beweggründe der einzelnen Protagonisten darin konzentrieren.

Dreh- und Angelpunkt des gesamten Plots ist die Hauptfigur Maris von Klein Amberly, welche die elitäre Kaste der Flieger herausfordert und damit eine Dynamik auslöst, die wiederum Maris’ anfänglich feste Überzeugung erschüttert, auf jeden Fall richtig zu handeln. Insbesondere muss sie sich die Frage stellen, ob sie wirklich im Namen des Allgemeinwohls überkommene Strukturen aufbrechen wollte oder den Stein nur ins Rollen gebracht hat, um ihren persönlichen Traum wahr werden zu lassen.
Wer jetzt glaubt, es handele sich hier um eine kitschige, typisch amerikanische Du-kannst-es-schaffen-wenn-du-nur-an-dich-selbst-glaubst-Geschichte – weit gefehlt. Stattdessen wird deutlich gemacht, dass auch immer dann größere Umwälzungsprozesse im Hintergrund stehen, wenn scheinbar eine einzelne Person die Welt auf den Kopf stellt, und dass man nie ganz Herr seiner Taten ist, da man als soziales Wesen stets in Interaktion mit seiner Umwelt steht. Sicherlich ein ungewöhnliches Thema für einen Fantasyroman, jedoch eigentümlich berührend und in der Größe der Darstellung einer klassischen Tragödie angemessen.

The Long Earth von Terry PratchettEs passiert in einer Zeit, in der sich „Raum“ zu den rasant schwindenden Ressourcen gesellt: ein simpler Schaltkreis mit Kippschalter und Kartoffelbatterie eröffnet der Menschheit unerforschte, unendliche Weiten. Nach Westen und nach Osten hin erstrecken sich Paralleluniversen, die Dank des „Steppers“ jetzt nur einen Schritt entfernt sind, und die Menschheit macht sich auf, die unberührten Erden zu erforschen, zu bereisen, in Besitz zu nehmen. Doch nach dem ersten Raumtaumel formieren sich nicht nur Siedlertrecks, sondern auch Gruppen mit wirtschaftlichen, kriminellen, oder gänzlich undurchsichtigen Absichten …

 “This wasn’t Joshua’s world. None of it was his world. In fact, when you got right down to it, he didn’t have a world; he had all of them.
All of the Long Earth.”
– Chapter 2

Es ist ein Menschheitstraum, so alt wie die Reihenhaussiedlung und die Tokioer U-Bahn selbst: der Traum von Weite, von Einsamkeit, von einem Vorgarten bis zum Horizont. Die Fantasy- bzw. SF-Giganten Terry Pratchett und Stephen Baxter haben mit ihrem gemeinsamen Roman The Long Earth eine beeindruckende Version dieses Traumes vorgelegt.

Allen Parallelerden gemeinsam ist die Unberührtheit durch den Evolutionsjux Mensch, der sich nur auf der Heimaterde zu tummeln scheint. Alle anderen Erden sind ihre eigenen evolutionären Wege gegangen, und so trifft man zwar mitunter auf Lavakontinente, Diamantberge oder Ozeanwelten, aber nie auf einen Homo Sapiens, der seinerseits seinen Heimatplaneten an die Grenze des „Schutt und Asche“ brachte. Nahe liegt der Paradiesvergleich, folgt man Baxter und Pratchett in diese vor Leben vibrierenden Universen – Flora und Fauna gleichen einem Gabentisch, einer helfenden Hand, dem sinkenden Menschenschiff hingestreckt. Kein Wunder, dass sich auch bekuttete Gestalten auf die Suche nach dem Göttlichen begeben, oder bärtige Gesellen nach Klondike-2: in The Long Earth scheint jeder das zu finden, was er sucht.
Landflucht wird zur Raumflucht, und völlige Souveränität und Selbstbestimmtheit scheinen nur eine Kartoffelladung entfernt zu sein. Während also die Regierungen der Welt versuchen, Steuersysteme in Parallelwelten zu etablieren, während auf unserer Heimaterde die Wirtschaft zusammenbricht, tun sich Arzt und Schmied, Soziologieprofessor und Zimmermann zusammen, um auf der Erde 101.754 eine Kolonie zu gründen. Feuerfachen und Schlingen legen wird zur neuen-alten ars vivendi, und rotgolden versinkt die Sonne hinter den Weizenfeldern.

The Long Earth ist jedoch mehr als Eskapismuskitsch und Lagerfeuerromantik, denn auch wenn sich hundert neue Welten auftun: Verlierer gibt es überall. Vielleicht ist es ein evolutionärer Seitenhieb auf die zerstörerische Kraft des expandierenden Gehirns, doch nicht alle Erdbürger sind befähigt, den kleinen, interdimensionalen Schritt zu tun, der ewige Freiheit verheißt. 5 % der Bevölkerung, die sogenannten „Phobics“, können nicht aus eigener Kraft den Schritt in die anderen Welten tun; und ein Paradies, das einigen den Zugang verwehrt, wird sich vor Schlangen bald nicht mehr retten können.

Die zentrale Frage des Romans heißt also: wie weit würdest du gehen? Durch episodenhaft erzählte Einzelschicksale entzaubern Baxter und Pratchett behutsam die Paradiesgedanken, ohne sie dem Höllenschlund anheimfallen zu lassen. Eine Familie lebt glücklich in der 101754. Idylle – hat jedoch ihr Phobic-Kind auf Erde-1 zurückgelassen. Ein Entrepreneur versucht verzweifelt, die neuen Welten mit barer Münze zu erobern. Kann es Scheitern in einer Zeit der unendlichen Neuanfänge noch geben? Lassen sich Trauer, Krankheit und Verlust besser ertragen, wenn die Sicht unverbaut ist?

Für die Protagonisten des Romans ist die Frage – „Wie weit würdest du gehen“ – jedoch bedeutungslos: Joshua und Lobsang machen sich auf, um die Weite wissenschaftlich zu erkunden, um Grenzen (falls es diese gibt) immer weiter nach hinten zu verschieben. Die beiden Figuren geben ein äußerst pratchetteskes Paar ab: Joshua, ein junger Mann, der auch ohne Kartoffel ‘steppen’ kann, und Lobsang. Während die Paralleluniversen Baxters schöpferische Handschrift tragen, so atmet Lobsang Pratchett ein und aus. Lobsang: ehemaliger Fahrradreperateur aus Tibet, nun halb Geist, halb Maschine, der als erster Roboter das irdische Gericht davon überzeugt hat, menschlich zu sein. Lobsang ist nicht der heimliche Star des Romans: währen die Erden eine Bühne, er würde sie im Elvisanzug rocken. Sein Name ist Programm.
Während also die hyperintelligente, mit einem Humorchip versehene Mensch-Maschine den Leser freundlich bei der robotischen Hand nimmt, so ist die Charakterisierung Joshuas problematischer, und sein Problem kann als programmatisch für den Roman gesehen werden: die Figur scheint noch undefiniert, vage, nicht zu Ende gedacht. Und während Lobsang einen Geniestreich nach dem anderen aus dem Ärmel zaubert, um die Reise durch die unendlichen Welten zu bestehen, kommt man als Leser nicht umhin, zu bemerken, dass Pratchett und Baxter damit noch zurückhalten. Tatsächlich müssen ihre Ärmel zum Bersten gefüllt sein: Andeutungen, lose Enden, Vermutungen und Theorien tummeln sich wie Fische im unverseuchten, plastikfreien Wasser. Der Genius liegt hier im Setting, noch nicht im Detail. Umso klärender wird deshalb vermutlich die Lektüre des Folgebandes The Long War – dessen Titel nicht gerade subtil darauf hinweist, dass der Mensch auch noch dann einen Krieg beginnen kann, wenn er über Raum und Zeit verstreut ist. Eigentlich wollen wir doch alle nur schadstofffreie Gurken. Oder?

Die Kollaboration der beiden literarischen Giganten lädt also vor allem zum Träumen ein, zum Erkunden, zum Erforschen, Erschrecken und Ernüchtern. Wirklich erstaunlich ist jedoch, dass man für die Reise in unendliche Welten sogar auf die Kartoffelbatterie verzichten kann – hier reichen auch zwei Buchdeckel.

Die Triffids von John WyndhamNach einem weltweit kosmischen Ereignis, bei dem sich der Himmel vorübergehend grün färbte, ist die Zivilisation zusammengebrochen. Jeder, der das grüne Licht beobachtet hat, ist wenige Stunden später erblindet. Glück im Unglück für Bill Masen, der durch einen Arbeitsunfall zum fraglichen Zeitpunkt eine Augenbinde tragen musste und der Erblindung dadurch unfreiwillig entgehen konnte. Als er nach Tagen im Krankenhaus aufwacht und weder Schwestern noch Ärzte auf seine Rufe reagieren, entblättert sich vor ihm eine Welt im Chaos. Doch damit noch nicht genug, die Triffids – fleischfressende, intelligente und lauffähige Pflanzen, die in riesigen Farmen als Nutzvieh gehalten und gezüchtet wurden – sind ausgebrochen und machen Jagd auf die Menschen.

– »Da haben Sie’s. Da haben Sie den Beweis. Sie haben nicht zugeschaut: Sie sind nicht blind. Alle anderen haben zugeschaut« – er schwenkte vielsagend den Arm – »alle stockblind. Hat alles der verdammte Komet angerichtet, sag’ ich.«
»Alle blind?« wiederholte ich.
»Alle. Ohne Ausnahme. Wahrscheinlich auf der ganzen Welt.« Dann besann er sich. »Nur Sie nicht. Sonst alle.« –
Kapitel 1, Das Ende beginnt

Die Triffids (The Day of the Triffids) ist ein kleines Buch mit großem Inhalt. Auf nicht einmal 200 Seiten schafft es der Autor, ein hervorragendes Buch abzuliefern, ohne unnötige Längen oder störende Nebenhandlungen. John Wyndham serviert seinen Lesern hier ein Szenario zum Nachdenken. In flüssiger und betont sachlicher Herangehensweise beschreibt Die Triffids eine Invasion der etwas anderen Art. Nicht Aliens, Zombies oder Vampire fallen hier über die Welt her, sondern semi-intelligente Pflanzen. Dieser postapokalyptische Science-Fiction Klassiker, geschrieben im Jahre 1951, kommt anfangs etwas schwer in Fahrt und wirkt eher zäh und trocken. Hat man diese Hinführung jedoch gemeistert, baut die Handlung stetig Spannung auf und bedient sich dabei bewährter Elemente: eine Katastrophe, welche die Menschheit praktisch über Nacht unfähig macht, für sich selbst zu sorgen, eine Bedrohung, die der Mensch selbst herangezüchtet hat und nun nicht mehr kontrollieren kann, ein Kampf ums Überleben weniger verschont gebliebener Personen und der Einblick in die Charakterstärke und -schwäche des Menschen. Im Zentrum stehen dabei die Menschen selbst, ihre unterschiedlichen Reaktionen auf diese gravierende Umstellung: von Überlebenskampf, Tragik und Hoffnung bis hin zum religiösen Fanatismus. Soll man den Schwachen helfen und vielleicht mit ihnen zu Grunde gehen? Oder kümmert man sich nur um sich selbst, damit wenigstens die Starken eine Chance haben zu überleben? In diesem Szenario sind die Schutzbedürftigen auch einmal nicht per se gut und rechtschaffen dargestellt, sondern haben ebenso niedere Absichten wie unversehrte Menschen.
Der weitgehende Verzicht auf spezifische Angaben zu Architektur oder Technik lässt Die Triffids dabei auch 60 Jahre nach der Entstehung noch zeitlos wirken.

Erzählt wird dieser Roman aus der Sicht von Bill Masen. In seinen persönlichen Aufzeichnungen schildert er die Vorgeschichte der Triffids und seine Erlebnisse in einer plötzlich von Anarchie beherrschten Welt. So wie er selbst bleibt auch der Leser im Unklaren darüber, was wirklich zu der Katastrophe geführt hat, und so teilt man die Ungewissheit, Gedanken und Sorgen dieses lebendig gezeichneten Protagonisten. Die Triffids selbst spielen dabei gar keine so große Rolle, wie es der Titel vermuten lässt. Vielmehr vertiefen und beschleunigen sie nur die Konflikte und Ängste, in denen sich die Überlebenden befinden. Sie zeigen auch, wie schnell der Mensch durch eine solche Katastrophe als Anführer der Nahrungskette abgelöst werden und durch eine dominantere Spezies ersetzt werden kann. Im Roman tauchen die Pflanzen selbst jedoch nur sporadisch auf.

Sprachlich ist dieser Roman vielleicht ein wenig gewöhnungsbedürftig. Den insgesamt sehr sachlichen Ton verliert das Buch bis zum Schluss nicht, das ist der Geschichte jedoch eher zuträglich und macht die Ereignisse umso wirkungsvoller. Einstellen muss man sich dagegen auf die Sprachverhältnisse der 50er Jahre, in denen doch deutlich mehr (aus heutiger Sicht) Fremdworte ihren Platz im täglichen Sprachgebrauch hatten und auch Formulierungen so heute nicht mehr gebräuchlich sind und etwas geschwollen oder seltsam wirken. Dessen ungeachtet verdient Die Triffids aber eine uneingeschränkte Leseempfehlung für alle Endzeit-Interessierten.

Verfilmung:
Das Buch wurde bisher dreimal verfilmt. Erstmals 1962 unter dem Titel The Day of the Triffids (Blumen des Schreckens) mit Howard Keel in der Hauptrolle. Unter gleichem Titel erschien 1981 eine sechsteilige Mini-TV-Serie, die in Deutschland jedoch nie ausgestrahlt wurde.
Die jüngste Verfilmung stammt aus dem Jahr 2009, Die Triffids – Pflanzen des Schreckens, und wurde von BBC als Zweiteiler produziert. Die Hauptrolle übernahm diesmal Dougray Scott.

Undersea von Geoffrey MorrisonNach einer Katastrophe, die das Leben auf der verstrahlten Erdoberfläche unmöglich macht, befinden sich die letzten Überlebenden der Menschheit auf zwei großen Unterseeschiffen. Generationen sind vergangen, als die Stadträtin Ralla eine Entdeckung macht, die das Überleben auf ihrem Schiff, der »Universalis«, gefährdet. Doch ihre Kollegen schenken ihr kein Gehör. Unterdessen schafft es der Fischer und gelangweilte Trunkenbold Thom Vargas, einen Schritt auf der Karriereleiter nach oben zu tun und einen Posten als Shuttle-Pilot zu ergattern. Noch bevor er sich darüber freuen kann, bringt ihn sein erster Passagier, Ralla Gattley, in Schwierigkeiten, denen er sich in keiner Form gewachsen fühlt.

– In the darkness of the deep, Thom Vargas slept. The damp, cramped, cold cockpit pressed in around him, a dormant barrier to the sea beyond. At their dimmest, the backlit buttons on the console before him normally wouldn’t have looked lit at all. But at this depth, they pierced the darkness like suns. – Part I

Postapokalyptische Szenarien haben eine lange Tradition in Horror und Science Fiction. Mit Undersea kämpfen wir jedoch nicht in verfallen(d)en Städten gegen Zombies, Banden oder kanibalistische Stämme, sondern tauchen ab in die Tiefsee, wo riesige Unterwasserschiffe die Reste der Menschheit und eine funktionierende, moderne Gesellschaft beherbergen. Lange bleibt dabei unklar, was der Grund für den Rückzug ins Meer war. Ein Krieg? Eine Naturkatastrophe? In der nunmehr dritten Generation interessieren sich nur noch die wenigsten Nachkommen für die Gründe und gehen ihrem täglichen Leben nach. Undersea ist das ideale Buch für LeserInnen, die auf der Suche nach waschechter Unterwasser-Action und Tauchgängen in futuristischen Anzügen sind. Der einfache, aber wirkungsvolle Plot wird ausgeschmückt von zahlreichen U-Boot-Schlachten, politischen und militärischen Intrigen, einer stattlichen Anzahl von technischen Gadgets und einem manipulativen Gegenspieler, dessen blinde Machtgier die endgültige Auslöschung der verbliebenen Menschheit bedeuten könnte. Die technischen und wissenschaftlichen Details sind aus ästhetischer Sicht spannend und geben ein sehr interessantes Bild für Unterwasserfans ab. Ob sie dabei immer realistisch sind, allen voran die doch etwas wilde Konstruktion der beiden Stadt-Schiffe »Universalis« und »Population«, bleibt manchmal etwas fraglich. Wer von seiner Science Fiction absolut realistische Technik erwartet, wird hier vielleicht an die Grenzen seiner Toleranz geführt, wer sich dagegen mehr auf die Atmosphäre und den Unterhaltungswert der vorhandenen Technik konzentriert, statt sie zu intensiv zu hinterfragen, bekommt ein fulminantes Spektakel, das sich als Pageturner erweist. Kleine Details wie z.B. der Filmtitel »It came from the Surface II« sorgen außerdem für eine Prise Humor. Neben dem stimmungsvollen Weltenbau vermögen auch die Charaktere zu unterhalten. Frei nach dem Motto: ab ins kalte Wasser mit ihnen! – schickt Autor Morrison seine beiden Hauptfiguren in ansehnlichem Tempo von einem Problem ins nächste. Ralla Gattley hat ein gemütliches Leben, einen Partner, der ihre Zukunft schon geplant hat, und sie könnte sich eigentlich entspannt zurücklehnen, hätte sie da nicht diesen eigenwilligen Kopf und eine selbst auferlegte Mission vor Augen. Mit Fakten und starkem Willen kämpft sie gegen die Ignoranz der älteren Ratsmitglieder an und versucht schließlich auf eigene Faust das Überleben der Bewohner ihres Schiffes zu sichern. Dazu bereist sie die Unterwasserproduktionsstätten, die sich am Grund der Meere in gigantischen Domkuppeln befinden, legt sich mit mächtigen Widersachern an und lässt sich auch in brenzligen Situationen nicht von Furcht oder Hoffnungslosigkeit übermannen. Gerade als man denkt, sie verfalle doch dem Klischee der Jungfrau in Nöten, packt sie die Ellbogen aus und nimmt das Problem einmal mehr selbst in die Hand. Es macht Spaß, ihre Bemühungen und Entscheidungen zu beobachten und sie als eine Frauenfigur zu erleben die intelligent, zielstrebig und gleichzeitig emotional glaubwürdig bleibt. Thom Vargas dagegen ist ein junger Mann, der sich bereits dem Schicksal ergeben hat, zur untersten Schicht der Gesellschaft zu gehören, und sein Glück allabendlich darin sucht, sich zu betrinken, um die Ödnis für eine Weile vergessen zu können. Er ist das ganze Gegenteil eines weißen Ritters und von willentlichem Engagement kann schon gar nicht die Rede sein. Seine Versuche, seiner Herzdame zur Rettung zu eilen, enden meist auch noch darin, dass er zu spät kommt und nur noch zusehen kann, wie sie Chaos schaffend voran eilt. Im Laufe des Romans macht er eine rasante Entwicklung durch, die ab und an etwas zu übereifrig und einfach wirkt. Andererseits ist der Roman auch in drei Abschnitte unterteilt, die längere Zeiträume überbrücken, um direkt weiter zum interessanten Part zu springen. Im Krieg herrschen zudem sicher Zustände, die eine lange Akzeptanz- und Entwicklungsphase nicht ermöglichen. Alles in allem ergeben Ralla und Thom letztlich ein ungleiches Gespann mit Unterhaltungswert, das seine Leser zu interessieren versteht. Es gibt bei Undersea sicher auch einiges, dass man als Manko nennen muss. Der Roman ist in Eigenregie von Autor Geoffrey Morrison herausgegeben worden, und man merkt es dem Text gelegentlich an. Ein professioneller Lektor hätte hier sicher noch ein paar Details perfektionieren können, doch das sind letztlich Kleinigkeiten. Mit den vorhanden Rechtschreibfehlern verhält es sich ähnlich. Obwohl ein Korrektor bemüht wurde, der im Anhang genannt wird, finden sich gelegentlich fehlende Buchstaben, Satzzeichen oder Buchstabendreher, jedoch nicht mehr, als es nicht auch schon bei bekannten Verlagen vorgekommen wäre. Den Lesefluss stören diese Fehler nur selten. Daneben ist der Buchsatz lesefreundlich gestaltet und auch beim Buchcover hat man sich offenkundig Mühe gegeben, das sind zusätzliche Pluspunkte. Zusammenfassend kann man sagen, dass Undersea trotz einiger Anfängerschwächen ein gelungenes Beispiel für einen selbstpublizierten Roman darstellt. Gerade wenn man auf der Suche nach Unterwasser-Science-Fiction ist, wo die Auswahl aktuellerer Bücher bisher doch stark begrenzt ist, sollte man dem Roman eine Chance geben und den abenteuerlichen Ausflug in das Reich der Tiefsee genießen.

Das vielfarbene Land von Julian MayDie Entdeckung eines nur in eine Richtung nutzbaren Portals in die Vergangenheit– genauer gesagt in die menschenleere Erde des Pliozän – sorgt zunächst für Aufregung in der Wissenschaftswelt, stellt sich aber schnell als völlig nutzlos heraus und wird beinahe vergessen. Doch dann entdecken es Menschen für sich, die mit dem in starren, hochzivilisierten Bahnen verlaufenden Leben im Galaktischen Milieu nicht mehr zufrieden sind. Sie treten eine Reise an, von der es keine Rückkehr gibt, und hoffen, im Pliozän das Leben zu finden, das sie sich erträumt haben. Doch es kommt anders.

-Das große Schiff quälte sich langsam in den Normalraum zurück, ein Beweis, daß es dem Tod tatsächlich nahe war.-
Prolog 1

Manche Bücher sind schwer zu empfehlen, weil ein großer Teil der Lesefreude dem Entdecken und der Spannung geschuldet ist und zu viele Informationen vorab das Vergnügen eher mindern als die Leselust wecken würden. Die Ausgangssituation in Julian Mays SF-Roman, der aufgrund seiner Struktur auch optimal für reine Fantasy-Leser geeignet ist, sollte aber genug sein, um das Interesse von LeserInnen zu wecken, die es auf die Seiten der Bibliotheka Phantastika verschlagen hat: Auf einer Einbahnstraße reisen Menschen aus einer im Grunde schönen Zukunftswelt zurück ins Pliozän, in eine Welt der Säbelzahnkatzen, Urstromtäler und hominiden Vorfahren des Menschen. Von den vorausgegangenen Reisenden hat man aufgrund der Natur des Zeitportals nie etwas gehört – niemand weiß, was die neuen Anwärter auf der anderen Seite erwartet. Sie gehen nach bestem Wissen und Gewissen ausgerüstet, um im Pliozän überleben zu können, haben Pläne und Agenden, und man begleitet sie auf eine Reise ins Ungewisse.

Aus diesem Stoff könnte man einen schlicht gestrickten Abenteuerroman machen, doch für Julian May ist die Wildnis des Pliozän lediglich die Kulisse, vor der ihre komplexen Figuren agieren. Sie sind es, die aus einem spannenden Roman, der durch faszinierende Ideen und einen temporeichen Plot besticht, eine herausragende Leseerfahrung machen. Wer aus der positiven, aber auf einen Normaltypus fixierten Zukunft fliehen und sich lieber mit Riesenwildschweinen als mit den Aliens des Galaktischen Milieus herumschlagen will, sind die Unangepassten, die Unglücklichen, die Übersättigten und die Unkooperativen. Jede der acht Hauptfiguren – eine recht hohe Anzahl, die die Autorin mit Bravour meistert – wird mit einer Momentaufnahme eingeführt, die auch Mosaiksteine liefert, aus denen man auf Mays Zukunftsvision schließen kann. Jede Figur hat Gründe und vor allem Hintergründe, die im weiteren Verlauf eine Rolle zu spielen haben, so dass zusätzlich zur Haupthandlung auch noch acht weitere interessante und erzählenswerte Geschichten eingeflochten sind. Vor allem die Frauenfiguren stechen hervor – Amerie, die altruistische Nonne in der Glaubenskrise, oder die psychopathische, aber nicht zwingend unsympathische Sportikone Felice, die als Pliozän-Kampfmaid eine zweite Karriere macht. Schon das Kennenlernen dieser in aller Kürze psychologisch ausgefeilt dargestellten Figuren ist spannend; sie später unter völlig veränderten Umständen agieren zu sehen, in einer Welt, die ihren Bedürfnissen oftmals mehr entspricht als ihre Herkunftswelt, ist ein Vergnügen.

Mit einem geschickten, stark in eine Einführungsphase in der Jetzt-Welt, eine in der Vergangenheit und die Reaktion darauf gegliederten Handlungsbogen hat Das vielfarbene Land (The Many-colored Land) durchweg Spannendes zu bieten. Im ersten Teil stehen noch Rätsel und Entdeckungen im Vordergrund, was auch auf der ganzen Länge dieses Auftaktbandes nie abreißt, später mündet die Erzählung in eine klassische Abenteuerstruktur, in der die zusammengeführten Handlungsstränge wieder (auch geographisch) getrennt werden, und im letzten Drittel erfährt man lediglich noch von den Fährnissen einer der beiden Gruppen.
Aufgrund der verschiedenen Figurenhintergründe bleibt der Blick auf die Pliozän-Welt stets vielschichtig und abwechslungsreich, je nachdem, ob man sie durch die Augen eines ermüdeten Paläontologen, eines verliebten Anthropologen, eines (nicht mehr) gelangweilten Taugenichts oder einer ehemaligen Gedankenheilerin betrachtet. Psi-Kräfte sind ohnehin ein zentrales Element der Handlung, bei dem sich May nicht nur sprachlich an den Vorreitern dieser Idee orientiert und eine interessante weitere Ebene der Interaktion eröffnet.
Nicht zuletzt tun auch die ungewöhnlichen, durchaus ambivalent gezeichneten Antagonisten das Ihre, um Das vielfarbene Land zu einer durchweg spannenden Lektüre zu machen.

Fantasy-Leser werden sich in dieser Geschichte nicht nur wegen der Ur-Welt des Pliozäns und der Questenstruktur wohlfühlen, in der Figurengruppen die Welt durchwandern, sondern vor allem wegen der Art, wie Julian May vom Prolog an wohlbekannte Fantasy-Elemente verarbeitet hat. Die Anspielungen auf die europäische, vor allem irisch-keltische Sagenwelt, auf Mythologie und Volksüberlieferung sind allgegenwärtig und so schlüssig in das Setting integriert, dass man garantiert einen neuen Blickwinkel auf die geläufigen Stoffe erhalten wird.
Es gibt Theorien, dass die Mythen der Menschheit ihren Ursprung in vorgeschichtlicher Zeit haben, auf überall ähnliche Erfahrungen zurückgehen und Reaktionen auf die Umwelt sind. Julian May hat unter dieser Prämisse einen Roman verfasst, der einen am liebsten vom Fleck weg daran glauben lassen würde und meilenweit entfernt von den üblichen Zeitreise-Abenteuern und Anderswelt-Entwürfen ist, auch wenn die Requisiten, die sie benutzt, aus diesem Repertoire stammen.

Der widerspenstige PlanetIch traf Helden, Schizophrene, Selbstmörder, Alien-Jäger, Menschen-Jäger, Roboter und (mein persönlicher Held) einen Kalkstein, der auf einem Planeten in der Unwahrscheinlichkeitsschlaufe seit Anbeginn der Welt – seit 300 Jahren – eine „melancholische, leicht sehnsuchtsvolle Schnulze“ singt. Yeah, Baby. Willkommen auf dem widerspenstigen Planeten Robert Sheckleys.

“Probe, eins, zwei, drei”, sagte Upmann. “Haben Sie verstanden, was ich gesagt habe?”
“Sie sagten, ‘Probe, eins, zwei, drei'”, erwiderte Detringer und ein Seufzen der Erleichterung ging durch die Reihen der Umstehenden, denn die ersten Worte eines Menschen zu einem Extraterrestrier waren endlich gesprochen. –
Ein erster Kontakt, S. 635

Das gewaltige Œuvre des US-amerikanischen Sciene-Fiction-Schriftstellers Robert Sheckley umfasst hunderte Kurzgeschichten sowie einige Romane und sticht durch seine visionär-humorvolle Schreibe aus der Masse hervor. Der Kurzgeschichtenband Der widerspenstige Planet versammelt chronologisch geordnete 16 Geschichten aus dem Jahren 1953 bis 1974.
Der satirische, ironische Unterton und die keineswegs dazu gegenläufige Thematisierung des Sterbens ziehen sich wie ein roter Faden durch den Band. Sheckleys Figuren verkriechen sich zum Sterben oder suchen den heroischen Tod auf einer Hetzjagd; sie inszenieren ihr Ableben im Fernsehen oder finden ganz grundlos den Tod – das Ende des Lebens ist in vielen Geschichten der Dreh- und Angel-, aber nicht unbedingt der Endpunkt. Im Gegenteil: mit einem (zugegebenermaßen kostspieligen) Vertrag mit der Jenseits-Corporation ist der Tod erst der Anfang.
Wer Schwermut erwartet, wird dennoch enttäuscht werden. Sheckley ist bissig, böse und überzeichnet unsere Realität in einer Weise, dass es mitunter weh tut  – denn die Wahrheit zu hören schmerzt bekanntlich –, doch Sheckleys Hang zu Absurditäten, gemischt mit seiner Pointierungskunst machen die Geschichten zu einem ungetrübten Lesevergnügen. Erst in den letzten beiden Geschichten – Ein erster Kontakt und Endstation Zukunft – bricht Sheckleys Humor aus seiner gekonnten Hintergründigkeit aus und weicht einem Witz, der den Leser lauthals lachen lässt. Der geneigte Leser ahnt es schon: auf den singenden Kalkstein trifft man in einer dieser Geschichten. Und gemäß dem Credo von Brian W. Aldiss – „Einmal im Leben sollte jeder eine Robert-Sheckley-Geschichte gelesen haben!“ – möchte ich an dieser Stelle einige aus dem Geschichtenband Der widerspenstige Planet vorstellen. Wer sich das Buch nicht kaufen möchte, dem sei geraten, sich in einer Buchhandlung den Band aus dem Regal zu nehmen und wenigstens eine der im folgenden vorgestellten Geschichten zu lesen – die Kürze erlaubt es, die Qualität verlangt es!

Fütterungszeit, die erste Geschichte im Sammelband, bereitet den Leser in aller Kürze auf Sheckleys literarisches Vorgehen vor, doch schon der zweite Streich – Das siebte Opfer – überwältigt mit seiner skurrilen, dabei aber nicht abwegigen Handlung und thematisiert den unbändigen Drang des Menschen nach Nervenkitzel und dem letzten Kick, den der Protagonist der Erzählung freilich nicht als solchen, sondern als nötiges Aggressionsventil begreift. Verfilmt wurde die Erzählung 1965 von Elio Petri mit dem Titel Das zehnte Opfer – eine unfreiwillig komische Titeländerung, da für einen Film sieben Mordopfer scheinbar nicht ausreichen.
Die Geschichte Spezialist stellt als erste ein extraterrestrisches Wesen in den Mittelpunkt. Geschildert wird die Geschichte aus den, nun, Sinnensorganen von mehreren hochspezialisierten Wesen, die zusammen ein organisches Raumschiff bilden und das Weltall durchpflügen. Während die Wände mit ihrem ungezügelten Alkoholkonsum die Moral der Gruppe ins Wanken bringen, droht schon bald dem ganzen Schiff Gefahr: sie müssen sich in ihrer Not auf das wohl unspezialisierteste Wesen verlassen, welches sich im Universum die Ehre gibt: den Menschen.
Scharfzüngig spielt der Autor mit der anthropologischen Betrachtungsweise des unspezialisierten Menschen und verleiht zugleich den ungemein fremd anmutenden, außerirdischen Wesen bemitleidenswert menschliche Züge. Eine ähnliche Grundidee verfolgt Sheckley auch in seiner Geschichte Pfadfinderspiele, die den Menschen einmal mehr zum Gejagten werden lässt. Auch in dieser Geschichte beweist der Autor, dass er nicht nur ein begnadeter Phantast ist, sondern auch ein Menschenkenner: in allen Erzählungen begegnen uns Wesen – Menschen wie Außerirdische –, die wir meinen, gut zu kennen. Sie ähneln unseren Nachbarn, fernen Bekannten, guten Freunden und zuletzt auch uns selbst. In ihren Dia- und Monologen erscheinen sie arrogant, verängstigt, furchtlos, tollkühn, kurz: zutiefst menschlich. In dieser Hinsicht gleichen Sheckleys Erzählungen einem Spiegel, in dem wir uns, trotz Tentakel oder einer Vielzahl an Augen, selbst erkennen.
Utopia mit kleinen Fehlern
führt einen selbsterklärenden Titel. In der Geschichte spielt Sheckley gewohnt brillant-boshaft mit den scheinbar naiven Wünschen nach einer besseren Welt, die uns allen in Momenten der Resignation nicht fremd sind. Ein Staat ohne Arbeitslosigkeit, ohne Schulden, ohne Verbrechen – in Utopia ist all das bittere Realität.

Der hier vorgestellte Kurzgeschichtenband enthält zudem den Roman Die Jenseits-Corporation (auch erschienen unter dem Titel Lebensgeister GmbH), der all das bietet, was ein Science-Fiction-Roman so braucht: eine Femme fatale, Zombiehorden, eine dubiose, intransparente Firma, eine ordentliche Spannungskurve und eine beschwingte Prise Gesellschaftskritik. Herausragend wird dieser scheinbar nach Schema F gestrickte Roman durch seine intelligente Verkehrung gewohnter Motive, die Sheckley konsequent, aber nie langweilig anwendet.

Und schließlich: Der erste Kontakt. Die vorletzte Kurzgeschichte im vorliegenden Band schlägt, wie bereits erwähnt, eine völlig neue Saite an Sheckleys literarischem Instrument an. Nicht minder beißend, aber mit unverhohlenem Humor treibt die Geschichte von einem gestrandeten außerirdischen Exilanten mit seinem loyalen Haushaltsroboter, der zufällig das erste Alien ist, auf den die Menschheit trifft und von Journalisten der Zeitungen Chic!, Weltmoden und  New York Times interviewt wird, dem Leser die Lachtränen in die Augen. Ebenso wie Endstation Zukunft, die Geschichte eines missglückten und deshalb glückenden Versuches, eine Zeitmaschine zu bauen. In dieser Erzählung löst Sheckley auch eines der letzten mathematischen Rätsel der Menscheit – die Transformation von Äpfeln in Apfelsinen:

Geschmack
+ √Farbe (Samen)^2
Aroma

Wenn Sie noch weitere Fragen haben, lösen Sie einfach ein Ticket zum Widerspenstigen Planeten. Guten Flug!

Winterplanet von Ursula K. Le GuinGenly Ai, Gesandter der Ökumene, einer interplanetaren Staatengemeinschaft, lebt seit 2 Jahren auf dem unwirtlichen Planeten Winter. Seine Aufgabe ist es, die Herrscher von einem Beitritt in die Ökumene zu überzeugen und so Handelsabkommen und den Austausch von Wissen und Technologien zu ermöglichen.
Neben einem zentralen Staatenkonflikt erschweren besonders die scheinbar unüberbrückbaren kulturellen Unterschiede Ais Arbeit: die Menschen von Winter sind Hermaphroditen, also weder Frau noch Mann. Ai und die Bewohner des Planeten begegnen einander als völlig Fremde. Immer auf der Suche nach einem Dialog begibt sich Ai in große Gefahr, um seine Mission zu erfüllen, wiewohl sie zum Scheitern verurteilt scheint.

Ich werde meinen Bericht schreiben, als wäre er eine Geschichte, denn schon als Kind auf meiner Heimatwelt habe ich gelernt, daß die Wahrheit eine Sache der Einbildungskraft ist.
– Kapitel 1, Ein Festzug in Erhenrang, S. 14

„Ursula K. Le Guin gehört zu jener Sorte Schriftsteller, die für den Rezensenten unbequem sind, weil man nur schwer in knapper Form über sie sprechen kann“, bemerkt der Moskauer Literaturkritiker Wl. Gakow richtig in seinem Nachwort zu Le Guins Roman Winterplanet (The Left Hand of Darkness) (2000 ebenfalls von Heyne neuaufgelegt unter dem Titel „Die linke Hand der Dunkelheit“). Eine Auseinandersetzung mit dem Roman der US-amerikanischen Schriftstellerin kann in diesem Rahmen nicht erschöpfend sein, weshalb ich mich auf einige gute Gründe beschränken möchte, weshalb der anspruchsvolle Phantastikfreund dieses Buch mindestens ein mal im Leben (besser: mehrmals) lesen sollte.

(1) Der Roman Winterplanet ist eine umfassende Antwort auf die Frage: Was kann Science Fiction? Wie die Autorin es in ihrem Vorwort betont, ergibt sich die Relevanz des Genres nicht nur aus dem ‚prophetischen’ Anspruch – also aus der Beantwortung der Frage „Wie wird die Welt in X Jahren gestaltet sein?“ –, sondern vor allem aus der Möglichkeit, alle kulturellen, soziologischen, technischen und biologischen Gesetzmäßigkeiten, die bei der nonfiktionalen Beschäftigung mit unserer Gesellschaft zwingend sind, außer Acht zu lassen. Geschieht dies, verlässt ein Autor das weite Feld der Zukunftsprognosen und wagt sich in eine buchstäblich völlig neue Welt: ein Gedankenexperiment ist geboren.
Le Guins Roman Winterplanet konfrontiert den Leser behutsam mit der Festgefahrenheit der eigenen Denkstrukturen. Die auf dem Planeten Winter ansässigen Menschen sind androgyne Wesen, die in einem monatlichen Zyklus eine Phase der sexuellen Aktivität erleben, in der sie – abhängig von ihrem Partner – ein Geschlecht ausbilden. Welche Tragweite diese scheinbar nur biologische Eigenheit hat, wird sowohl dem Gesandten Genly Ai, als auch dem Leser erst im Laufe der Zeit und des Romans bewusst. Angefangen mit einer Unzulänglichkeit der verfügbaren Sprache – Ai beschreibt alle Bewohner des Planeten in Ermangelung eines wertungsfreien Neutrums mit dem männlichen Personalpronomen – ist es besonders die Vorstellung einer Gesellschaft ohne Rollen, ohne ein bequemes „typisch männlich“ und „typisch weiblich“, auf die sich der Leser nur schwer einlassen kann. Auch Genly Ai schreibt in seinem Unvermögen, die Bewohner Gethens als Menschen ohne Rolle, ohne Muster zu sehen, den Menschen, welchen er begegnet, mal weibliche, mal männliche Eigenschaften zu. Die Auflösung Genly Ais vorgefertigter Denkmuster und der damit einhergehende Neuerwerb einer geschlechtsunabhängigen Betrachtungsweise des Menschen ist eine der wichtigsten und herausragendsten Szenen der Science-Fiction-Literatur.

(2) Ursula K. Le Guins Werk wartet mit einer Komplexität und einer geistigen Durchdringung auf, an der es anderen Romanen des Genres zuweilen mangelt. Welche Auswirkungen hat ein androgynes Menschengeschlecht auf die kulturelle Entwicklung einer Gesellschaft? Im Rahmen ihres Gedankenexperimentes beantwortet die Autorin die Frage derart stimmig und glaubwürdig, dass man schnell den Fehler begeht, sie in das Lager der ‚Propheten’ einzuordnen.
Die Unterschiede einer Gesellschaft ohne Geschlechterrollen von der uns Vertrauten sind zunächst sehr faßbar: es existieren keine klassischen Familienstrukturen, es gibt keine traditionellen Männer- oder Frauenberufe, das Prinzip des Ernährers und der Hausfrau greift nicht. Doch Le Guin labt sich nicht am Offensichtlichen, im Gegenteil: ihre Analyse einer androgynen Gesellschaft geht viel tiefer.
Das uns zutiefst verinnerlichte Prinzip des Dualismus verliert seine ursprüngliche Motivation: die Unterscheidung in Mann oder Frau. Diese Unterscheidung, so erklärt Ai es einem Bewohner von Winter, determiniert die Sprache, die Arbeit, die Haltung, das Gemüt, den Charakter, kurz: alle Lebensbereiche eines Menschen, die zusammengefasst das ausmachen, was wir landläufig als ‚Persönlichkeit’ bezeichnen. Wie entwickelt sich ein Mensch ohne ein solches Raster?
Der im Roman entscheidende Dualismus ist von einer ganz anderen Natur: es ist der Dualismus von Du und Ich, der jedoch keine trennende, unterscheidende, sondern eine verbindende Funktion besitzt und schließlich auch den Leser anspricht mit der Forderung, diesen Dualismus in ein „Wir“ aufzulösen.

Eine weitere Beobachtung Genly Ais betrifft die völlige Unkenntnis der Bewohner Winters, was Krieg betrifft. Es gibt in keiner Sprache des Planeten ein Wort für Auseinandersetzungen, die unzählige Menschenleben fordern – denn solche Auseinandersetzungen existieren nicht. Auch der Gesandte, in dessen Gedächtnis sich lange Kriegsjahre auf seinem Heimatplaneten eingebrannt haben, weiß den Grund dafür nicht zu benennen. Liegt es an dem Fehlen der Geschlechterrollen, am Fehlen eines „starken Geschlechtes“ mit der Pflicht, ebendiese Stärke unter Beweis zu stellen? Oder liegt es an den extrem unwirtlichen Bedingungen des Planeten, die einen Krieg völlig nutzlos dastehen lassen, da die Bevölkerung Winters Tag für Tag um ihre Existenz bangen muss? Die Beantwortung dieser Frage liefert uns die Autorin nicht, ist es doch letztlich eine ganz persönliche Entscheidung: wie viel Macht gestehen wir Rollenmustern zu?

(3) Die angedeutete inhaltliche Durchdringung wird getragen von einer außergewöhnlich treffenden, glasklaren Sprache. Die Autorin verschwendet in einem Roman, der sich dezidiert mit dem Thema Sexualität beschäftigt, kein Wort an Kitsch oder deplatzierte Romantik, sondern reichert die Welt mit jedem Wort um ein weiteres Detail an, beschert ihr eine weitere Facette und schafft so ein Planeten, der uns unendlich fremd und zugleich vertraut erscheint. Sie verzichtet gänzlich auf eine beschreibende Charakterisierung der Protagonisten und lässt sie ausschließlich für sich selbst sprechen. Mit hoher Kunstfertigkeit lässt sie den aufmerksamen Leser nicht nur die Figuren kennenlernen, sondern ermöglicht es ihm, ihre subtile, aber grundlegende Wandlung mitzuerleben. Auch die Beschreibung der verschiedenen Gesellschaftsformen der Staaten Karhide und Orgoreyn sowie die langsame Technisierung des Planeten – die dem Leser in dieser natur- und klimabestimmten Welt eher wie eine Anomalie erscheint – werden in Zwischentönen festgehalten.

(4) Die Themen des Romans beschränken sich nicht auf Sexualität und das Hinterfragen von Rollenmustern. Vielmehr gelingt es der Autorin, in einem Roman kritisch das Wesen der Loyalität und des Patriotismus auf einer zutiefst menschlichen Ebene darzustellen. Besonders eindrücklich ist der Wandel eines Verrates hin zur menschlichen Aufopferung und die Einsicht, dass beides manchmal nicht zu unterscheiden ist.
Nicht zuletzt gelingt es Le Guin, die Natur des Planeten gleichsam als Parabel und als höchstspannendes und –aufwühlendes Erlebnis zu charakterisieren. Die Schilderung des Überlebenskampfes Ais und seines Begleiters auf dem großen Eis ist nicht nur eine intensive Auseinandersetzung mit den Charakteren, sondern gleichzeitig eine phantastisch -bedrückende Abenteuerzählung.

Wie Wl. Gakow es geahnt hat, ist es mir nicht gelungen, den Roman in angemessener Kürze zu besprechen. Doch wenn auch nur jedes zweite Wort das seine dazu beiträgt, den Leser dieser Rezension zur Lektüre des Romans Winterplanet zu überreden, würde er mir sicher verzeihen.

Cover von The Word for World is Forest von Ursula K. Le GuinAthshe ist ein Planet der Wälder, und die Athsheaner sind ein friedliches Volk. Als die Menschen dort eine militärisch geführte Kolonie gründen, um die Rohstoffe des Planeten auszubeuten und den Wald in landwirtschaftlich nutzbares Land zu verwandeln, bleiben die Ureinwohner des Planeten auf der Strecke und werden sogar als Arbeitssklaven benutzt. Sie gelten den meisten Menschen nur als Tiere, sie wehren sich nie und wirken faul und dumm. Doch die Athsheaner haben eine eigene Kultur des Träumens, und in dieser Kultur brodelt es, als ein Athsheaner beginnt, vom Krieg zu träumen.

-Two pieces of yesterday were in Captain Davidson’s mind when he woke, and he lay looking at them in the darkness for a while.-
One

Ein Waldplanet, für irdische Kolonisten ein optimaler Rohstofflieferant, dessen einheimische humanoide Population, die mit der Natur in Einklang lebt, nur ein Störfaktor ist – beim aufmerksamen Kinogänger hat es längst geklingelt, für SF-Leser schwirrt das Thema schon etwas länger durchs kollektive Bewusstsein.
In Ursula K. Le Guins The Word for World is Forest (Das Wort für Welt ist Wald) von 1972 (eine erweiterte Version gab es 1976, nachdem die Novella bereits den Hugo Award gewonnen hatte) sind die Einheimischen nicht groß und blau, sondern klassisch klein und grün – und pelzig. Umso einfacher ist es dadurch, auf sie hinabzuschauen, und die Dynamik, die sich in der Beziehung zwischen Menschen und Athsheanern abspielt, ist aus dem Kolonialismus wohlbekannt. Le Guin zeigt in dieser Erzählung, die vor allem in Reaktion auf den Vietnamkrieg entstanden ist, neben Rassismus auch die Folgen von Umweltausbeutung und die Wirkung von Mehrfachdiskriminierung, am schlechtesten geht es nämlich den athsheanischen Frauen, die zwar in ihrer eigenen Kultur eine tragende, aber nicht die angesehenste Rolle einnehmen und unter dem Sexismus und der Gewalt der rein männlichen Siedler von der Erde besonders zu leiden haben.

Nachdem inzwischen vermutlich schon fast alle LeserInnen ausgestiegen sind, die Politisches in der Literatur meiden wie der Teufel das Weihwasser, muss erwähnt werden, dass Le Guin weder anprangert noch in expliziten Ausschmückungen schwelgt: Das Thema würde mit Sicherheit hochdramatische und „mitreißende“ Szenen hergeben, doch die Autorin hält sich betont zurück, wahrt eine erzählerische Distanz und überlässt so dem Leser oder der Leserin einen Anteil an der Urteilsbildung. Die durchaus existenten Grausamkeiten werden meist ausgespart oder tauchen nur als Erinnerungen auf, die szenischen Darstellungen widmen sich dem unterschwelligen Wandel, der die ganze Handlung kennzeichnet, wenn zunehmend klar wird, dass die Athsheaner ihre Lebensweise ändern müssen, um sich wehren zu können. Konkrete Gewaltdarstellung erfolgt vor allem in Form von verbaler Gewalt – spezifisch rassistischem Vokabular und anderen Äußerungen des Machismo, was in bester Le-Guin-Manier auf die Wichtigkeit des sprachlichen Aspekts für die Handlung weist.

Denn auch das Thema, wie Sprache Wirklichkeit konstituiert, steht im Mittelpunkt der Erzählung: Es findet sich sowohl in den Erläuterungen zu den konzeptuellen Unterschieden zwischen der Sprache der Menschen und der Athsheaner (die schon im wohlklingenden Titel angesprochen werden, denn das Wort der Menschen für Welt ist nicht Wald, sondern Erde) als auch in den unterschiedlichen Sprachstilen der drei Protagonisten: Captain Davidson, der Vertreter der skrupellosen, durchsetzungsfreudigen Ausbeuter, bastelt sich mit rassistischem Vokabular und Slang ein schlüssiges Weltbild zusammen, in dem er immer ein Held sein kann, Lyubov, der zurückhaltende Intellektuelle, tastet sich analytisch-vorsichtig durch die neue Welt und meint es (zu) gut, und Selver, der Athsheaner, ist in der Traumkultur seines Volkes verwurzelt und erlernt schließlich beide Sprachen und Konzepte. Mit ihnen tragen drei ausgereifte Figuren den Roman, die jeweils für ein spirituelles, ein intellektuelles und ein tyrannisches, in sich nachvollziehbares Paradigma stehen.
Was auf den ersten Blick vielleicht nach einer allzu simplen Gleichung klingt, in der Gut und Böse klar definiert scheinen, erweist sich als deutlich komplexer, denn Le Guin spricht auch den Konflikt an, dass ein beobachtender Forscher durch seine reine Anwesenheit Einfluss übt, und dass indigene Völker eben nicht nur durch diejenigen Schaden nehmen, die mit Unterwerfungs-Absichten kommen.

Zusätzliche Dynamik erhält das Geschehen durch das SF-Szenario der abgelegenen Kolonie, die nur mit starker Verzögerung Kontakt zur Heimatwelt aufnehmen kann. Spannung ist aber kein Hauptanliegen der Geschichte, zumindest nicht auf vordergründige Art. Man muss an dem Anteil nehmen, was zwischen den streiflichtartigen Szenen passiert, in denen ein für die Athsheaner sogar mythisches Geschehen auf wenige Seiten und Episoden heruntergebrochen wird, mit teils größeren zeitlichen Abständen zwischen den Kapiteln. Für das dünne Bändchen steckt unheimlich viel Stoff in diesem Roman, der im Universum von Le Guins Hainish Cycle angesiedelt ist, und die einzelnen Themen werden nicht in der Tiefe ergründet, wie es bei The Left Hand of Darkness oder The Dispossessed aus demselben Zyklus der Fall ist. Le Guin eweist sich aber auch hier als Autorin, deren Gedanken zu unterschiedlichen Gesellschaftsformen und Denkstrukturen ein spannendes Experiment, und, wenn man sich darauf einlässt, eine lohnende Lektüre sind, die während und vor allem nach dem Lesen weit über ihre 200 großzügig bedruckten Seiten hinauswächst.

Das Wort für Welt ist Wald von Ursula K. Le GuinAthshe ist ein Planet der Wälder, und die Athsheaner sind ein friedliches Volk. Als die Menschen dort eine militärisch geführte Kolonie gründen, um die Rohstoffe des Planeten auszubeuten und den Wald in landwirtschaftlich nutzbares Land zu verwandeln, bleiben die Ureinwohner des Planeten auf der Strecke und werden sogar als Arbeitssklaven benutzt. Sie gelten den meisten Menschen nur als Tiere, sie wehren sich nie und wirken faul und dumm. Doch die Athsheaner haben eine eigene Kultur des Träumens, und in dieser Kultur brodelt es, als ein Athsheaner beginnt, vom Krieg zu träumen.

Zu Das Wort für Welt ist Wald liegt eine Rezension der Originalausgabe bei Bibliotheka Phantastika vor, dazu bitte hier entlang.

Das Wörterbuch des Viktor Vau von Gerd RuebenstrunkEinige hundert Jahre in der Zukunft: Viktor Vau, Professor der Linguistik und Hobbypsychiater, forscht an einer perfekten Sprache, wie es einst schon Leibniz tat. Mit ihrer Hilfe möchte er Ordnung in das Chaos der Gedankenwelt von Schizophrenie-Patienten bringen, doch bald stellt sich heraus: Vaus perfekte Sprache wird die ganze Welt verändern. Doch diese Gefahr – oder dieses Potential – bleibt nicht unbemerkt. Es dauert nicht lange, bis ein erbitterter Kampf um Vaus Lebenswerk entbrennt, an dem sich Geheimdienste, Agenten und Rebellen gleichermaßen beteiligen.

-Die Welt ist eine Glaskugel.
Jede Sekunde machen Satellitenkameras, Radiowellenempfänger, Überwachungssensoren, Mikrofone und Messstationen das Unsichtbare sichtbar.-
(u: Ankunft)

Eines vornweg: der Klappentext lügt. Das Wörterbuch des Viktor Vau ist mitnichten das „gefährlichste Buch, das Sie je in den Händen halten werden“. Es ist weder das beste aller Bücher, welches alle vorher geschriebenen Bücher hinfällig werden lässt, noch ist es das schlechteste je geschriebene Buch, welches den Verstand zur bedingungslosen Kapitulation zwingt. Es geht keinerlei Gefahr davon aus – es sei denn, man ist angehender Linguist.

Doch beginnen sollte ich lieber am Anfang, denn der ist gut. Hinter der Notizbucheinbandfassade wartet eine zukünftige Welt; die Handlung beginnt in einem fiktiven Überwachungsstaat auf dem afrikanischen Kontinent. Ein unbekanntes Flugobjekt stürzt ins Meer, und dann nimmt die Handlung an Fahrt auf. Unzählige Charaktere werden mit einer ein- bis zweiseitigen Hintergrundgeschichte eingeführt, sind wichtig und verschwinden wieder im Strom der anonymen Masse. Das funktioniert zu Beginn gut, da das Setting außergewöhnlich genug ist, um darüber hinweg zu faszinieren. Und die Idee, einen Linguisten zum (gewünschten Anti-)Helden einer Geschichte zu küren und sich darüber hinaus im Rahmen eines Science-Fiction-Romans mit Plansprachen und perfekten Sprachen auseinanderzusetzen, wird dem Buch immer einen Platz in meinem Herzen sichern.
Doch genug der Sentimentalitäten: was als Idee sehr gut und kreativ ist, kann auf dem Papier noch zehn Mal scheitern. Die Handlung ist bestenfalls als konstruiert zu bezeichnen; der Kunstgriff, alle flüchtig erwähnten Figuren in einem gordischen Handlungsknoten zusammenzuführen, eher als misslungen. Hinzu kommt, dass ausnahmslos alles im Roman handlungsrelevant ist. Es gibt keinen Satz, keine Zeile, die auf dichterische Art und Weise an die Idee des Erzählens und Ausschmückens verschwendet wäre. Durch die fehlenden Wörterpuffer prallt eine Handlung an die Nächste, und dies verkettet sich zu einem nicht atem-, sondern seltsam spannungslosen Reigen an Explosionen, subversiven Treffen und Nervenzusammenbrüchen. Krönung des Handlungspotpourris ist der Ausflug in die Thrillerecke: völlig unmotiviert mordet ein Mörder vor sich hin – immerhin: hier findet eine Ausschmückung der Szenen statt –, doch der Ratlosigkeit des mürrischen Cops kann man sich leider nicht anschließen.

Die herausragende Unglaubwürdigkeit sowie Voraussehbarkeit der Handlung ist umso bedauerlicher, da Ruebenstrunk, wie erwähnt, äußerst gute Ansätze liefert. Die Idee hinter den ‘Stimmen im Kopf’ ist einfallsreich und clever gelöst, viele Details der Welt bieten Potential für richtig gute Geschichten. Doch neben der Handlung fallen auch die Charaktere negativ ins Gewicht. Enrique, der getriebene Mysteriöse, der in dieser Phase seines Lebens „keinerlei Interesse“ an Frauen hat, setzt sich zuerst mit diesem Fakt auseinander, während er drei Absätze später eine Schlägerei riskiert, um einer Frau „mit ungewöhnlicher Schönheit“ beizustehen. Dies, liebe Leser, ist Wandlungsfähigkeit in ihrer reinsten Form – doch gerade diese Eigenschaft führt den speziellen Charakter ad absurdum! Dass Enrique sich in diese Frau verliebt, ist danach noch reine Formsache.
Professor Vau ist das farblose Abziehbild des irr-nervigen, aber dadurch liebenswerten Wissenschaftlers, sein einziger Charakterzug die Verschrobenheit. Dass eine große Geisteskapazität jedoch die Emotionen und charakterlichen Ausprägungen auf ein Minimum schrumpfen lässt, widerlegen die Lebensgeschichten von Feynmann, Einstein oder Newton u.v.m. eindrucksvoll. Vaus Typ ist kein Anachronismus, es hat ihn nie gegeben.

Kommen wir zur oben erwähnten Warnung. Viktor Vau, seines Zeichens brillanter Neurolinguist, fachsimpelt über die „Babysprache, die von Fachleuten als Prosodie bezeichnet wird“ (sic!). Nun ist es gut möglich, dass sich in 500 Jahren die Definitionen für verschiedene Begriffe geändert haben werden – ist ja ’ne lange Zeit für die Forschung –; ich allerdings möchte den Satz mit Rot unterstreichen, „Falsch!“ an die Seite schreiben und an den Verlag zurückschicken. Ein derart oberflächlicher Fehler lässt den guten Viktor ziemlich dumm dastehen, und auch der Rest des eingebrachten Fachwissens – meist durch zeilenlanges Rezitieren von Philosophiezitaten in eh schon arg gebeutelten Dialogen – besticht durch Erwähnung ohne Erläuterung; und dies wiederum läuft noch nicht unter dem Namen ‘Recherche’, sondern verkümmert zur Trivialität. Die Einbeziehung des Voynich-Manuskriptes konnte mir wohl ein glückliches Lächeln entlocken, die haarsträubend gehaltlos-widersinnige Einflechtung der Pirahã-Indianer im zweiten Teil des Romans jedoch nur ein leises Schluchzen.
Die Spannung, welche durch die brisante Handlung ansatzweise aufgebaut wird, wird durch die Erzählperspektive wieder zunichte gemacht. Mit Ausnahme des Präsidenten wird aus der Perspektive aller handelnder Figuren – Rebell wie Regierungsmitglied – einmal erzählt, sodass es dem Spannungsmoment geht wie einem Menschen auf einem flutbelichteten Fußballplatz: nichts liegt im Schatten. Szeneninterne Sprünge in der Erzählhaltung von Person zu Person lassen wirklich keine Fragen offen.
Immer wieder ist man versucht, dass Buch zu schütteln, bis die Buchstaben am rechten Platz sind und den Ideen endlich gerecht werden. Das Wörterbuch des Viktor Vau hat Potential, ist kurzweilig und wartet mit einem storytechnisch soliden Grundgerüst auf. Doch Ruebenstrunks Roman ist leider längst nicht „so außergewöhnlich wie sein Name“.

Cover des Buches "Der Zensor" von Marcus Hammerschmitt Ironie der Geschichte: Die Conquista verlief andersherum, die Maya haben durch ihre nanotechnische Überlegenheit die Spanier besiegt und kontrollieren nun den Südwesten Europas. Die iberische Bevölkerung, technologisch und wirtschaftlich an den Rand der neuen Mayagesellschaft gedrängt, dämmert in Hilflosigkeit und Armut dahin. Einige wenige aber, wie Enrique, lehnen sich gegen die Usurpatoren auf und kämpfen einen hoffungslosen Guerillakrieg.

-Weiter draußen, wo die bewässerten Felder aufhörten, wo die Spanier lebten, war alles anders. Die Straßen waren schlechter, die Häuser nicht nur einfach, sondern primitiv, und das Wellblech, der Standartbaustoff der Armut, war hier allgegenwärtig. Die Spanier, faul wie immer, hatten wieder einmal viel zu früh mit der Siesta angefangen.-
16. Juni 2136
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Marcus Hammerschmitt hat eine spannende und innovative Utopie geschaffen, in der die Mayas Spanien erobert haben, und nun den iberischen Bewohnern ihre Kultur mit Hilfe von technologischen Errungenschaften auf dem Gebiet der Nanotechnologie gewaltsam aufzwingen. Die spanischen Städte wie auch jeder Spanier bekamen Mayanamen (Madrid heißt Nadz Caan), Mais ist das Hauptnahrungsmittel und die Hauptstadt Nanotikal wird von einem künstlich erschaffenen Urwald umringt.
Hammerschmitt kehrt die Geschichte um und schafft so eine interessante Mischung aus Geschichtsgedankenspiel und Science Fiction. Die opponierenden Seiten (Maya und Spanier) werden aus Sicht von Yaqui Ahau, dem obersten Zensor von Naotikal, und Enrique, einem spanischen Guerillero geschildert. Beide Protagonisten werden facettenreich und farbig charakterisiert, so dass sie dem Leser, obwohl sie durchaus nicht sympathisch sein müssen, ans Herz wachsen.

Der Einstieg in die Geschichte fällt dem Leser leicht, da anfangs ein wenig der Alltag des Ahau Yaqui geschildert wird und man sich auf diese Weise behutsam mit der Welt der technisierten Mayagesellschaft vertraut machen kann. Dann wird die Handlung zügig vorangetrieben und die Spannung bis zum Ende aufrecherhalten. Mit 221 Seiten ist dieses Werk nicht gerade umfangreich, dennoch schafft es Hammerschmitt, die Kultur der futuristischen Maya und Spanier anschaulich und in vielen Aspekten zu beschreiben. Hammerschmitt setzt futuristische technologische Ideen gekonnt sparsam ein und schafft es, diese glaubwürdig in seine Welt zu integrieren.
Wer sich allerdings noch mehr für die politischen Auswirkungen dieser geschichtlichen Wendung interessiert, wird im Dunkeln gelassen. Der Leser erfährt kaum etwas über die Welt außerhalb Südamerikas und des eroberten Spaniens. Auch bleiben die Umstände um die Conquista durch die Maya nebelhaft. Sicherlich wäre es Hammerschmitt möglich gewesen, den Leser stärker über diese Aspekte zu informieren, aber er hat sich auf die wesentlichen Inhalte seiner Utopie konzentriert. Dieses kommt dem Werk sehr zugute, da auf Nebenhandlungsstränge, langatmige Schilderungen und “Geschwafel” verzichtet wird. Die Handlung ist daher knackig und wirkt sehr durchdacht, ist aber keinesfalls vorhersehbar.
Hammerschmitt hat eine flüssige Sprache. Sein Schreibstil ist prägnant und auf positive Art “erfrischend” deutsch, weshalb die Seiten unter den Augen nur so dahingleiten.

Ein gutes Buch will man meist irgendwann nochmals lesen, aber der volle Lesespaß würde dem Leser beim zweiten Mal nur zuteil, falls er sich die überraschende Auflösung mit einer nanotechnologischen “Gedächtnisbombe” aus dem Gedächtnis löschen könnte. Denn sonst wird der Leser das geniale Ende wohl kaum vergessen.