Die Entdeckung eines nur in eine Richtung nutzbaren Portals in die Vergangenheit– genauer gesagt in die menschenleere Erde des Pliozän – sorgt zunächst für Aufregung in der Wissenschaftswelt, stellt sich aber schnell als völlig nutzlos heraus und wird beinahe vergessen. Doch dann entdecken es Menschen für sich, die mit dem in starren, hochzivilisierten Bahnen verlaufenden Leben im Galaktischen Milieu nicht mehr zufrieden sind. Sie treten eine Reise an, von der es keine Rückkehr gibt, und hoffen, im Pliozän das Leben zu finden, das sie sich erträumt haben. Doch es kommt anders.
-Das große Schiff quälte sich langsam in den Normalraum zurück, ein Beweis, daß es dem Tod tatsächlich nahe war.-
Prolog 1
Manche Bücher sind schwer zu empfehlen, weil ein großer Teil der Lesefreude dem Entdecken und der Spannung geschuldet ist und zu viele Informationen vorab das Vergnügen eher mindern als die Leselust wecken würden. Die Ausgangssituation in Julian Mays SF-Roman, der aufgrund seiner Struktur auch optimal für reine Fantasy-Leser geeignet ist, sollte aber genug sein, um das Interesse von LeserInnen zu wecken, die es auf die Seiten der Bibliotheka Phantastika verschlagen hat: Auf einer Einbahnstraße reisen Menschen aus einer im Grunde schönen Zukunftswelt zurück ins Pliozän, in eine Welt der Säbelzahnkatzen, Urstromtäler und hominiden Vorfahren des Menschen. Von den vorausgegangenen Reisenden hat man aufgrund der Natur des Zeitportals nie etwas gehört – niemand weiß, was die neuen Anwärter auf der anderen Seite erwartet. Sie gehen nach bestem Wissen und Gewissen ausgerüstet, um im Pliozän überleben zu können, haben Pläne und Agenden, und man begleitet sie auf eine Reise ins Ungewisse.
Aus diesem Stoff könnte man einen schlicht gestrickten Abenteuerroman machen, doch für Julian May ist die Wildnis des Pliozän lediglich die Kulisse, vor der ihre komplexen Figuren agieren. Sie sind es, die aus einem spannenden Roman, der durch faszinierende Ideen und einen temporeichen Plot besticht, eine herausragende Leseerfahrung machen. Wer aus der positiven, aber auf einen Normaltypus fixierten Zukunft fliehen und sich lieber mit Riesenwildschweinen als mit den Aliens des Galaktischen Milieus herumschlagen will, sind die Unangepassten, die Unglücklichen, die Übersättigten und die Unkooperativen. Jede der acht Hauptfiguren – eine recht hohe Anzahl, die die Autorin mit Bravour meistert – wird mit einer Momentaufnahme eingeführt, die auch Mosaiksteine liefert, aus denen man auf Mays Zukunftsvision schließen kann. Jede Figur hat Gründe und vor allem Hintergründe, die im weiteren Verlauf eine Rolle zu spielen haben, so dass zusätzlich zur Haupthandlung auch noch acht weitere interessante und erzählenswerte Geschichten eingeflochten sind. Vor allem die Frauenfiguren stechen hervor – Amerie, die altruistische Nonne in der Glaubenskrise, oder die psychopathische, aber nicht zwingend unsympathische Sportikone Felice, die als Pliozän-Kampfmaid eine zweite Karriere macht. Schon das Kennenlernen dieser in aller Kürze psychologisch ausgefeilt dargestellten Figuren ist spannend; sie später unter völlig veränderten Umständen agieren zu sehen, in einer Welt, die ihren Bedürfnissen oftmals mehr entspricht als ihre Herkunftswelt, ist ein Vergnügen.
Mit einem geschickten, stark in eine Einführungsphase in der Jetzt-Welt, eine in der Vergangenheit und die Reaktion darauf gegliederten Handlungsbogen hat Das vielfarbene Land (The Many-colored Land) durchweg Spannendes zu bieten. Im ersten Teil stehen noch Rätsel und Entdeckungen im Vordergrund, was auch auf der ganzen Länge dieses Auftaktbandes nie abreißt, später mündet die Erzählung in eine klassische Abenteuerstruktur, in der die zusammengeführten Handlungsstränge wieder (auch geographisch) getrennt werden, und im letzten Drittel erfährt man lediglich noch von den Fährnissen einer der beiden Gruppen.
Aufgrund der verschiedenen Figurenhintergründe bleibt der Blick auf die Pliozän-Welt stets vielschichtig und abwechslungsreich, je nachdem, ob man sie durch die Augen eines ermüdeten Paläontologen, eines verliebten Anthropologen, eines (nicht mehr) gelangweilten Taugenichts oder einer ehemaligen Gedankenheilerin betrachtet. Psi-Kräfte sind ohnehin ein zentrales Element der Handlung, bei dem sich May nicht nur sprachlich an den Vorreitern dieser Idee orientiert und eine interessante weitere Ebene der Interaktion eröffnet.
Nicht zuletzt tun auch die ungewöhnlichen, durchaus ambivalent gezeichneten Antagonisten das Ihre, um Das vielfarbene Land zu einer durchweg spannenden Lektüre zu machen.
Fantasy-Leser werden sich in dieser Geschichte nicht nur wegen der Ur-Welt des Pliozäns und der Questenstruktur wohlfühlen, in der Figurengruppen die Welt durchwandern, sondern vor allem wegen der Art, wie Julian May vom Prolog an wohlbekannte Fantasy-Elemente verarbeitet hat. Die Anspielungen auf die europäische, vor allem irisch-keltische Sagenwelt, auf Mythologie und Volksüberlieferung sind allgegenwärtig und so schlüssig in das Setting integriert, dass man garantiert einen neuen Blickwinkel auf die geläufigen Stoffe erhalten wird.
Es gibt Theorien, dass die Mythen der Menschheit ihren Ursprung in vorgeschichtlicher Zeit haben, auf überall ähnliche Erfahrungen zurückgehen und Reaktionen auf die Umwelt sind. Julian May hat unter dieser Prämisse einen Roman verfasst, der einen am liebsten vom Fleck weg daran glauben lassen würde und meilenweit entfernt von den üblichen Zeitreise-Abenteuern und Anderswelt-Entwürfen ist, auch wenn die Requisiten, die sie benutzt, aus diesem Repertoire stammen.