Vor über 100 Jahren wurde Anarres, der karge Mond des fruchtbaren Planeten Urras, besiedelt. Die Kolonisten waren Ausgestoßene, Anhänger einer marxistisch-anarchischen Bewegung (Odonianismus), die auf den Mond verfrachtet wurden, um Ruhe und Frieden auf Urras wiederherzustellen – aus Sicht urrastischer Regierungen – bzw. um dort eine ideale, neue Gesellschaft zu errichten – aus Sicht der Siedler. In dieser egalitären, regierungslosen Gesellschaft ist Shevek aufgewachsen, zutiefst geprägt von Odos Idealen, doch nun möchte der berühmte Zeitphysiker als erster Anarresti wieder zurück nach Urras.
-It is hard to swear when sex is not dirty and blasphemy does not exist.- S. 258
Ursula K. Le Guins The Dispossessed (Planet der Habenichtse (1976), Die Enteigneten (2006)) gilt als eine der letzten modernen Utopien, jedoch deutet der Untertitel An ambigious utopia (bzw. Eine ambivalente Utopie) bereits darauf hin, dass dies bei weitem kein plakativer Heile-Welt-Roman ist. Stattdessen schickt sich die Autorin mit unglaublichem Gespür für menschliche Gesellschaften, Feinheiten und Details an, einen alternativen Gesellschaftsentwurf zu durchleuchten. All dies geschieht durch die Augen des genialen Physikers und großen Idealisten Shevek, dessen Persönlichkeit, Geschichte und Entwicklung das Buch zu einem spannenden Roman (anstatt zu einer reinen philosophisch-politischen Abhandlung) macht, indem er dessen großen Themen für den Leser/die Leserin „erfahrbar“ macht.
In zwei Handlungssträngen, die abwechselnd erzählt werden, erfährt man etwas über Sheveks Erlebnisse auf Urras (Handlungsstrang 1) und über sein Leben bis zur Abreise von Anarres (Handlungsstrang 2). Während man auf Urras mit Spannung verfolgt, wie sich Shevek in einer Gesellschaft zurechtfindet, deren Werte, Gepflogenheiten und Strukturen ihm fremd sind, erfährt man zugleich mehr über die dortigen – dem Leser/der Leserin sicher rasch sehr vertraut erscheinenden – Verhältnisse, wo wissenschaftliche Neugier und (nationaler und männlicher) Chauvinismus, Naturschönheit und menschliche Abgründe nahe beieinander liegen. Anders als Anarres ist Urras zudem in verschiedene Nationen gegliedert, mit unterschiedlichen Wirtschafts- und Regierungssystemen, stets in einen schwelenden Konflikt um Macht- und Einflusssphären verwickelt. In diesem Umfeld ist Shevek nicht einfach nur Gast oder akademischer Kollege auf Forschungsaufenthalt, sondern auch Ressource, Risikofaktor und Hoffnungsträger, wie er bald feststellen muss.
Auf Anarres wiederum findet man mehr über Sheveks privates Leben und seinen Werdegang zum planetenübergreifend berühmten Zeitphysiker heraus. Dabei beweist Ursula K. Le Guin nicht nur ein Händchen für das Individuelle (Sheveks Liebesgeschichte ist so wunderbar unkitschig und doch so berührend), sondern auch für dessen Verflechtungen mit dem Gesellschaftlichen. Anarres‘ Gesellschaft mag auf Idealen errichtet sein, aber das macht sie nicht zu einer perfekten Form des Zusammenlebens – es ist vor allem eine zutiefst menschliche Gesellschaft mit kleineren Unzulänglichkeiten, Konflikten, Eifersüchteleien sowie familiären Dramen und sie ist auch nicht statisch, sondern verändert sich. Diese Wandlung von einer revolutionären, sich selbst nach eigenen Idealen schaffenden zu einer “postrevolutionären”, gefestigten und diese Ideale verteidigenden Gesellschaft ist es, die einen bedeutenden Handlungsmotor darstellt.
Gerade dieses Augenmerk auf die Ambivalenzen der Gesellschaften auf Urras und Anarres zeichnet den Roman aus. Die Verquickung der Lebensgeschichte des sehr sympathischen Shevek mit weitreichenderen Themen, vielen kleinen und großen Weisheiten und einer wunderbaren Sprache machen aus dem eher geruhsamen Roman zudem einen „pageturner“, wenn auch nicht im herkömmlichen Sinn mit einem cliffhanger am Ende jedes Kapitels. Allerdings nimmt die Handlung des Buches im letzten Drittel deutlich an Fahrt auf, ohne dass sich die Ereignisse überstürzen, und gegen Ende wird sogar noch der Horizont für das Universum jenseits von Urras und Anarres geöffnet. Alles in allem eine unbedingte Empfehlung, insbesondere an jene, die sich gerne mit gesellschaftlichen Fragestellungen und Gedankenspielen beschäftigen.