Stadt der goldenen Schatten

Cover von Stadt der goldenen Schatten von Tad WilliamsIn den verschlammten Gräben der Westfront überkommen den britischen Soldaten Paul Jonas plötzlich seltsame Visionen von einer Frau in Gefangenschaft, die ihn in fremde Welten locken. Im Südafrika einer ferneren Zukunft kämpft die Universitätsdozentin Irene („Renie“) Sulaweyo nicht nur mit ihren prekären Familienverhältnissen, sondern auch um ihre Identität und vor allem um ihren jüngeren Bruder, dessen Geist nicht mehr aus der Cyberwelt zurückgekehrt ist. In den USA derselben Zukunft fühlt sich Orlando Gardiner um seinen wertvollen Onlinecharakter Thargor betrogen, der sein liebevoll entwickeltes Alter Ego darstellte. Um wiederzufinden, was sie verloren haben, begeben sich Renie und Orlando individuell tief in die virtuelle Realität.

-Paul Jonas seufzte. Er war fünfmal um den Baum herumgegangen, und das Ding machte keinerlei Anstalten, weniger unmöglich zu werden.- S. 18

Vielen wird Tad Williams vor allem aufgrund seines High-Fantasy-Zyklus Osten Ard bekannt sein – ob ihm mit Stadt der goldenen Schatten (City of Golden Shadow ) ein Cyberpunk-Roman gelingt?

Die Handlung dieses Auftaktbandes zum Otherland-Zyklus wird in drei parallel verlaufenden Handlungssträngen erzählt, die sich im Verlauf der Geschichte teilweise überkreuzen. Die Verschiedenheit der drei Protagonisten, was ihre jeweilige Zeitebene, aber auch ihren sozialen Kontext betrifft, bietet einen Vorgeschmack auf die Ideenvielfalt, die den Leser oder die Leserin in Stadt der goldenen Schatten erwartet. Mit der Südafrikanerin Renie Sulaweyo ist Tad Williams dabei eine tolle Figur gelungen, auch, weil die Kombination “farbig” und “weiblich” unter den Hauptfiguren in der Fantasy leider immer noch Seltenheitswert besitzt. Darüberhinaus bieten ihre zerrütteten Familienverhältnisse sowie das Zusammentreffen mit dem nicht weniger interessanten Sidekick !Xabbu, einem Buschmann, der es geschafft hat, akademische Ausbildung und die Traditionen seines Volkes zu vereinen, viele Möglichkeiten für das Thematisieren von Identität, Selbstfindung und damit Charakterentwicklung. Ähnlich verhält es sich mit dem spät hinzukommenden Strang um Orlando Gardiner, der aus ganz anderen Gründen eine tiefgreifende Persönlichkeitsentwicklung durchläuft.

Paul Jonas wirkt dagegen etwas blass, dafür punktet seine Geschichte mit dem, was diesen Roman so aufregend macht: der Weltenbau. Renies und Orlandos global vernetzte Welt mit ihren Science-Fiction- und Cyberpunk-Elementen ist schon spannend genug, zumal es Tad Williams versteht, mit kleinen Informationstupfern ein schönes Panorama zu liefern, in den Episoden der Virtual Reality und besonders in Pauls Handlungsstrang entfaltet der Autor jedoch eine beeindruckende Ideenvielfalt. Zwar werden die einzelnen Schauplätze teilweise nur episodisch und schlaglichtartig abgehandelt, trotzdem wirken sie sehr bunt und plastisch, was vor allem daran liegt, dass jede ihre eigenen Regeln und Normen hat. Dabei reicht die Bandbreite von fantasytypischen Mittelalterwelten bis hin zum steampunkigen Abenteuerromansetting, bei dem es Williams sogar gelingt, den kolonialen Gestus klassischer Abenteuerromane zu treffen.

Mit Stadt der goldenen Schatten ist Tad Williams ein wilder Genre-Mix gelungen, der zugleich ein beeindruckendes Beispiel für seinen Ideenreichtum darstellt. Durch die drei Handlungsstränge werden Längen, trotz der hohen Seitenzahl des Buches, großteils vermieden und wen das Buch fesselt, dem oder der rate ich den zweiten Band am Ende griffbereit zu haben. 😉