Einige hundert Jahre in der Zukunft: Viktor Vau, Professor der Linguistik und Hobbypsychiater, forscht an einer perfekten Sprache, wie es einst schon Leibniz tat. Mit ihrer Hilfe möchte er Ordnung in das Chaos der Gedankenwelt von Schizophrenie-Patienten bringen, doch bald stellt sich heraus: Vaus perfekte Sprache wird die ganze Welt verändern. Doch diese Gefahr – oder dieses Potential – bleibt nicht unbemerkt. Es dauert nicht lange, bis ein erbitterter Kampf um Vaus Lebenswerk entbrennt, an dem sich Geheimdienste, Agenten und Rebellen gleichermaßen beteiligen.
-Die Welt ist eine Glaskugel.
Jede Sekunde machen Satellitenkameras, Radiowellenempfänger, Überwachungssensoren, Mikrofone und Messstationen das Unsichtbare sichtbar.-
(u: Ankunft)
Eines vornweg: der Klappentext lügt. Das Wörterbuch des Viktor Vau ist mitnichten das „gefährlichste Buch, das Sie je in den Händen halten werden“. Es ist weder das beste aller Bücher, welches alle vorher geschriebenen Bücher hinfällig werden lässt, noch ist es das schlechteste je geschriebene Buch, welches den Verstand zur bedingungslosen Kapitulation zwingt. Es geht keinerlei Gefahr davon aus – es sei denn, man ist angehender Linguist.
Doch beginnen sollte ich lieber am Anfang, denn der ist gut. Hinter der Notizbucheinbandfassade wartet eine zukünftige Welt; die Handlung beginnt in einem fiktiven Überwachungsstaat auf dem afrikanischen Kontinent. Ein unbekanntes Flugobjekt stürzt ins Meer, und dann nimmt die Handlung an Fahrt auf. Unzählige Charaktere werden mit einer ein- bis zweiseitigen Hintergrundgeschichte eingeführt, sind wichtig und verschwinden wieder im Strom der anonymen Masse. Das funktioniert zu Beginn gut, da das Setting außergewöhnlich genug ist, um darüber hinweg zu faszinieren. Und die Idee, einen Linguisten zum (gewünschten Anti-)Helden einer Geschichte zu küren und sich darüber hinaus im Rahmen eines Science-Fiction-Romans mit Plansprachen und perfekten Sprachen auseinanderzusetzen, wird dem Buch immer einen Platz in meinem Herzen sichern.
Doch genug der Sentimentalitäten: was als Idee sehr gut und kreativ ist, kann auf dem Papier noch zehn Mal scheitern. Die Handlung ist bestenfalls als konstruiert zu bezeichnen; der Kunstgriff, alle flüchtig erwähnten Figuren in einem gordischen Handlungsknoten zusammenzuführen, eher als misslungen. Hinzu kommt, dass ausnahmslos alles im Roman handlungsrelevant ist. Es gibt keinen Satz, keine Zeile, die auf dichterische Art und Weise an die Idee des Erzählens und Ausschmückens verschwendet wäre. Durch die fehlenden Wörterpuffer prallt eine Handlung an die Nächste, und dies verkettet sich zu einem nicht atem-, sondern seltsam spannungslosen Reigen an Explosionen, subversiven Treffen und Nervenzusammenbrüchen. Krönung des Handlungspotpourris ist der Ausflug in die Thrillerecke: völlig unmotiviert mordet ein Mörder vor sich hin – immerhin: hier findet eine Ausschmückung der Szenen statt –, doch der Ratlosigkeit des mürrischen Cops kann man sich leider nicht anschließen.
Die herausragende Unglaubwürdigkeit sowie Voraussehbarkeit der Handlung ist umso bedauerlicher, da Ruebenstrunk, wie erwähnt, äußerst gute Ansätze liefert. Die Idee hinter den ‘Stimmen im Kopf’ ist einfallsreich und clever gelöst, viele Details der Welt bieten Potential für richtig gute Geschichten. Doch neben der Handlung fallen auch die Charaktere negativ ins Gewicht. Enrique, der getriebene Mysteriöse, der in dieser Phase seines Lebens „keinerlei Interesse“ an Frauen hat, setzt sich zuerst mit diesem Fakt auseinander, während er drei Absätze später eine Schlägerei riskiert, um einer Frau „mit ungewöhnlicher Schönheit“ beizustehen. Dies, liebe Leser, ist Wandlungsfähigkeit in ihrer reinsten Form – doch gerade diese Eigenschaft führt den speziellen Charakter ad absurdum! Dass Enrique sich in diese Frau verliebt, ist danach noch reine Formsache.
Professor Vau ist das farblose Abziehbild des irr-nervigen, aber dadurch liebenswerten Wissenschaftlers, sein einziger Charakterzug die Verschrobenheit. Dass eine große Geisteskapazität jedoch die Emotionen und charakterlichen Ausprägungen auf ein Minimum schrumpfen lässt, widerlegen die Lebensgeschichten von Feynmann, Einstein oder Newton u.v.m. eindrucksvoll. Vaus Typ ist kein Anachronismus, es hat ihn nie gegeben.
Kommen wir zur oben erwähnten Warnung. Viktor Vau, seines Zeichens brillanter Neurolinguist, fachsimpelt über die „Babysprache, die von Fachleuten als Prosodie bezeichnet wird“ (sic!). Nun ist es gut möglich, dass sich in 500 Jahren die Definitionen für verschiedene Begriffe geändert haben werden – ist ja ’ne lange Zeit für die Forschung –; ich allerdings möchte den Satz mit Rot unterstreichen, „Falsch!“ an die Seite schreiben und an den Verlag zurückschicken. Ein derart oberflächlicher Fehler lässt den guten Viktor ziemlich dumm dastehen, und auch der Rest des eingebrachten Fachwissens – meist durch zeilenlanges Rezitieren von Philosophiezitaten in eh schon arg gebeutelten Dialogen – besticht durch Erwähnung ohne Erläuterung; und dies wiederum läuft noch nicht unter dem Namen ‘Recherche’, sondern verkümmert zur Trivialität. Die Einbeziehung des Voynich-Manuskriptes konnte mir wohl ein glückliches Lächeln entlocken, die haarsträubend gehaltlos-widersinnige Einflechtung der Pirahã-Indianer im zweiten Teil des Romans jedoch nur ein leises Schluchzen.
Die Spannung, welche durch die brisante Handlung ansatzweise aufgebaut wird, wird durch die Erzählperspektive wieder zunichte gemacht. Mit Ausnahme des Präsidenten wird aus der Perspektive aller handelnder Figuren – Rebell wie Regierungsmitglied – einmal erzählt, sodass es dem Spannungsmoment geht wie einem Menschen auf einem flutbelichteten Fußballplatz: nichts liegt im Schatten. Szeneninterne Sprünge in der Erzählhaltung von Person zu Person lassen wirklich keine Fragen offen.
Immer wieder ist man versucht, dass Buch zu schütteln, bis die Buchstaben am rechten Platz sind und den Ideen endlich gerecht werden. Das Wörterbuch des Viktor Vau hat Potential, ist kurzweilig und wartet mit einem storytechnisch soliden Grundgerüst auf. Doch Ruebenstrunks Roman ist leider längst nicht „so außergewöhnlich wie sein Name“.