Rezensent: Colophonius

Der Bildband Art of the Duckomenta zeigt die Kunstwerke der Künstlergruppe interDuck, die leichtfüßig die Kunstgeschichte neumalt und -zeichnet. Protagonisten sind Donald, Dagobert, Daisy & Co., und sie alle begegnen uns in den größten Kunstschätzen unserer Kultur. Humorvolle Begleittexte in englischer, französischer und deutscher Sprache vervollständigen das perfekte Bild des Duck-Universums, was viele Leser in ihrer Kindheit als ihr Zuhause bezeichnet haben dürften.

– Jugend und Bohème haben stets eine eigene Vorstellung, wie man Spießbürger am besten ärgern kann. “Kunst kommt von Quälen”, behauptet die Avantgarde. Sie verbringt ihre Tage im Café, malt Rauchkringel in die Luft und trinkt Absinth. Sie nennt dies Arbeit. Mit dem Impressionismus hätte man jetzt eigentlich Geld verdienen können, aber das wäre gegen jede Künstlerehre. So malen die einen wieder, was sie sehen, und die anderen, was das Publikum nicht sehen möchte. In so manchen Fällen sind das Enten. –
– La Bohème, S. 206

Von A wie Agamemdux bis Z wie Zorngiebel: in Art of the Duckomenta dreht sich alles um das geflügelte Wort und Bild. Es mag manchen Leser erstaunen, doch die europäische Kunstgeschichte wurde maßgeblich von Enten bestimmt – ein Fakt, der so oft unter den Teppich gekehrt wird, dass ihm jetzt ein ganzer Bildband gewidmet wurde. Die größte Kunst dieses außergewöhnlichen Kunstbandes ist die konsequEnte Inszenierung einer Parallelwelt, in der Troja mit der Trojanischen Ente beschenkt wird, Wagner dank Schnabel erstmals gutmütig aussieht und die Kunstrichtung „Baumaus“ für Furore sorgt. Von Vor- bis Nachwort, von Ägyptischer Kunst bis hin zur Kunst der Moderne, die Inszenierung ist perfekt und meistert den Spagat zwischen Klamauk und Satire mühelos. Die gelbschnäbeligen Helden unserer Kindheit sind, so wird dem Leser mehr als deutlich bewusst, erwachsen geworden, denn war „ernsthafte“ Kunst und die intellektuelle Kunstbetrachtung nicht immer eine Erwachsenendomäne, eine fremde Welt, zur der einem als Kind auch mit viel Phantasie kein Zugang gewährt wurde? Die im Bildband dargestellten Kunstwerke richten sich, und auch das wird schnell deutlich, endlich an das Kind in uns, denn wie heißt es so schön? Kunst kommt von ZACK BOING KREISCH!

Liebevoll und spöttisch zugleich werden die Spielräume der Bildinterpretation ausgereizt, dass es für Leser wie mich, die in der Schule den Kunstleistungskurs belegten, weil sie nicht wussten, was sie taten, eine wahre Freude ist. Weder Martin Luther noch Louis XIV. sind sicher vor dem Medium „Comic“, welches seine vierfingrigen Hände nach allen Epochen ausstreckt und alle wichtigen Künstlerpersönlichkeiten und deren Opfer zu fassen bekommt. Die Begleittexte sind, neben den meisterlich verfremdeten Kunstwerken, die weit über die bloße Verschnabelisierung hinausgeht, das i-Tüpfelchen des Werkes. Hintergründe werden erdichtet, Jugendbewegungen erdacht und Künstlerschicksale enten anders, als gedacht; neben all der Phantasterei verliert der Leser jedoch nie den Bezug zu unserer realen Kunstwelt (die, nebenbei erwähnt, ohne all die Federn, Zwicker und Matrosenanzüge danach einfach etwas farblos wirkt). Denn nicht zuletzt ist der Bildband ein leicht-, wenn auch plattfüßiger Spaziergang durch mehr als 4000 Jahre Kunst- und Kulturgeschichte. Wie nebenbei lernt der Leser nicht nur allerlei Jahreszahlen, sondern bekommt etwas zurück, was er vielleicht auf dem halben Weg zwischen Kindheit und Erwachsensein verloren hat: die Begeisterung für (komische) Kunst und die insgeheime Freude an wunderbaren Albernheiten.
Für all diejenigen also, deren Herz nicht für, sondern in einer Entenbrust schlägt, sowie für alle Kunst-, Quack- und Quatschinteressierte ist Art of the Duckomenta eine wahre Schatzgrube zum Blättern, Lesen und vergnüglichen Entellektualisieren.

The Broken Kingdoms von N.K. Jemisin10 Jahre nach der Befreiung der Götter hat sich in Sky einiges verändert: durch den wachsenden Weltenbaum haben die Bewohner an dessen Fuße nicht mehr viel vom Sonnenlicht, weshalb das Viertel, in welchem die Heldin des Romans ihr Dasein fristet, kurzerhand in Shadow unbenannt wurde. Oree Shoth, eine blinde Maroneh, die mit dem Traum vom besseren Leben in die Stadt kam, verkauft billigen Tand an gütige Pilgerer und lebt davon mehr schlecht als recht. Gut, dass sie zum einen keineswegs so hilflos ist, wie es ihre Blindheit suggeriert, und zum anderen ist es ebenso hilfreich, einige Freunde unter den Godlings – den geringeren Götter – zu haben. Und Hilfe hat sie bitter nötig, als jemand damit beginnt, Godlings zu töten und sie bald selbst unter dringendem Verdacht steht.

– I perceived a wave of brightness so intense that I cried out as it washes past, dropping my stick to clap both hands over my eyes. I didn’t know these things could hurt like that. –
Chapter 2: „Dead Goddesses“ (watercolor)

Durch den unkonventionellen, imaginativen Vorgänger The Hundred Thousand Kingdoms (Die Erbin der Welt) waren die Erwartungen sehr hoch: schafft es N. K. Jemisin erneut, den Leser derart in den Bann der Geschichte um Götter, Liebe und Macht zu ziehen? Nicht unerwähnt soll bleiben, dass ich für gewöhnlich nichts mit Liebesgeschichten anzufangen weiß, und dennoch hat mich der erste Band sehr gut unterhalten.

Dem zweiten Teil der Inheritance Trilogy (Das Erbe der Götter) gelingt dies, kurz gesagt, nur bedingt. Die Protagonistin Oree Shoth beschäftigt sich in der ersten Hälfte des Romanes mit den mannigfaltigen Problemen, die unsterbliche Liebe so mit sich bringt – besonders, wenn ein Partner tatsächlich unsterblich ist, während der andere, wenn nichts dazwischen kommt, „nur“ noch 60-70 Jahre zu leben hat. Und man ahnt es schon: natürlich kommt etwas dazwischen. Mord und Totschlag, um genau zu sein, und ein mysteriöser Hausgast – der längst nicht so mysteriös ist, wie sich das N. K. Jemisin vielleicht gewünscht hat. Doch bevor die Handlung so richtig Fahrt aufnimmt, wird dem Leser vorerst eines klar: Sex mit einem Gott ist richtig gut. Wirklich. Wer das nicht glaubt, der kann es nachlesen (Buch aufschlagen, zehn Seiten vor- oder zurückblättern). Das Liebesleben von Oree ist ungewöhnlich, aber nicht so interessant, als dass es dem Leser nach mehr Details dürstet; und dennoch beschränkt sich die erste Hälfte des Romanes leider beinahe völlig auf die anstrengenden bis nervigen Liebesdünkel Orees. Es ist unfreiwillig komisch, dass das Buch gut wird, sobald die Quelle Orees endloser Liebeleien auf tragische Art und Weise kurzzeitig die Bildfläche verlässt.

Doch mit besagtem Moment nimmt das Buch deutlich an Fahrt auf und findet zu alter Stärke zurück: mit kreativen, guten Einfällen und überzeugenden Charakterinnensichten und -geflechten weiß Jemisin auf einmal wieder zu überzeugen und zu fesseln. Das chaotische Pantheon aus Göttern, Godlings und magisch begabten Menschen – wie Oree – und, dem entgegengesetzt, die Vielfalt aus Götterkulten und religiösen Mini-Diktaturen lassen viel Spielraum für überraschende Wendungen; die Geschichte wartet auf einmal mit Witz, Brutalität und Spannung gleichermaßen auf. Von den vielschichtigen Charakteren mit so einigen Untiefen begeistern besonders der Kindgott Sieh und der bereits erwähnte fremde Hausgast Orees; hier beschränkt sich Jemisin keinesfalls auf altbewährte Muster, sondern kreiert äußerst innovativ neue, glaubwürdige Gestalten.

Die Entscheidung, die Handlung aus der – nun ja – Sicht einer blinden Frau zu erzählen, die außer Magie nichts visuell wahrnehmen kann, halte ich für gewagt und ambitioniert – und sehr interessant. Jemisin gelingt es, bis auf einige kleine Momente der Unschlüssigkeit, die Geschichte spannend, leb- und glaubhaft zu erzählen, obwohl der Leser auf gewohnte Landschafts- und Personenbeschreibungen weitgehend verzichten muss. Besonders der teilweise beinah lyrische, doch zumeist sehr lockere bis flapsige Erzählstil charakterisiert die Protagonistin besser, als jede Beschreibung es könnte. Dass Oree gut aussieht und schöne Brüste hat, bleibt dennoch nicht unerwähnt, und auch der Fakt, dass sie aus offensichtlichen Gründen Nacktheit nicht beschämend findet und deshalb dieser frönt, erzwingt gewissermaßen die ein oder andere (auf Dauer ermüdende) Schlüpfrigkeit. Dass der Roman mit einem wortwörtlichen Höhepunkt den Spannungsgipfel erreicht, wird da niemanden überraschen.

Das Wiedersehen mit den Charakteren aus Band 1 und besonders die tiefer ausgearbeitete, komplexe Hintergrundgeschichte des Götterkrieges dürfte alle Leser gleichermaßen erfreuen und die Leser des ersten Bandes begeistern, und Freunde des Romantischen werden das Buch schon von der ersten Seite an verschlingen. Für die sehr gelungene zweite Hälfte des Buches verschmerzt man im Nachhinein gern den ansonsten teilweise langatmigen und nervraubenden Beginn und freut sich schon auf den finalen Band The Kingdom of Gods (Die Rivalin der Götter) der Inheritance Trilogy der ambitionierten und einfallsreichen Autorin.

Maxim Kammerer, Raumpilot der Gruppe für Freie Suche, Erdbewohner und fest verwurzelt in seiner irdischen sozialistischen Utopie, muss auf einem Planeten notlanden und findet sich in einem Land wieder, das lebensfeindlicher nicht sein könnte: der radioaktiv verstrahlte Staat wird von einer Militärdiktatur regiert, die Bürger ergehen sich in blindem Patriotismus. Maxim gerät auf der Suche nach einer Möglichkeit, den Planeten zu verlassen, in die Mühlen der Diktatur und weiß bald nicht mehr Gut von Böse zu unterscheiden …

Von denen, die am Boden lagen, würden einige sterben, andere waren bereits tot. Und jetzt wusste er: Sie waren Menschen, nicht Affen oder Panzerwölfe, wenn auch ihr Atem stank, ihre Berührung schmutzig, die Absichten viehisch und abscheulich waren. Trotz allem empfand er Bedauern und fühlte Verlust. Ihm war, als habe er gerade etwas von seiner Reinheit verloren, ein entscheidendes Stückchen Seele des früheren Maxim. Er wusste, sein früheres Ich war jetzt für immer verschwunden, und das war bitter – weckte aber auch einen bis dahin unbekannten Stolz.
– Robinson, S. 84

Maxim Kammerer, moderner Robinson, Soldat, Terrorist, Sträfling – er ist weit gereist, um Zustände anzutreffen, die wir von unserer Erde kennen. Für ihn jedoch liegen irdische Kriege, atomare Zerstörung und Diktatoren so weit in der Vergangenheit, dass ihre Namen bereits in Vergessenheit geraten sind; der Diktator „Hilmer oder so ähnlich“ und seine Verbrechen sind nicht mehr gegenwärtig. Umso härter trifft ihn die geistige Verrohung der Bevölkerung der „bewohnten Insel“, deren Weltbild eine perfekte Parabel ihrer Egomanie ist: in ihrem diktierten, unangefochtenen Weltbild leben sie auf der Innenseite einer Kugel; der Blick ist immer auf das eigene System gerichtet, dessen zentrales Merkmal die Unveränderlichkeit ist.
In dieser Welt wird Maxim, der von außen kommt und nicht dem System zugehörig ist, als Übermensch angesehen. Die Anstrengungen, ihn in das diktatorische System zu integrieren, müssen jedoch auf Dauer zwangsläufig scheitern – die korrumpierenden Strukturen versagen an ihm, die Ideologie, die sich einzig auf gewaltsam eingeforderte Gefügigkeit stützt, ist dem frei denkenden Menschen zutiefst zuwider und nährt seinen Hunger nach Widerstand, Rache und Veränderung.

Bald ist Maxim von Freunden zur Heldenfigur stilisiert, von Feinden als Übermacht gefürchtet, und seine Kraft, sein breitgefächertes Wissen und seine heilenden Fähigkeiten bewirken das ihre. Doch nicht allen ist es vergönnt, sich in blinder Bewunderung zu ergehen: schnell wird dem Leser bewusst, dass Maxim trotz allem keine glorreiche Verheißung bringen kann. Doch die Desillusionierung des gestrandeten Raumfahrers selbst schreitet nur langsam voran; zu übermächtig ist die Hoffnung, die Regierung schließlich doch noch zu stürzen, den Menschen Frieden zu bringen, den Planeten doch noch zu retten.

Dieser ausgedehnte Verstehensprozess verleiht dem Science-Fiction-Klassiker Züge eines Abenteuerromans. Maxim wechselt von einer Terrorzelle – staatlich organisiert oder im Untergrund tätig – in die nächste und stößt auf der Suche nach einer Möglichkeit, seine Ideale durchzusetzen, allerorts auf Widerstand. Die Organisation des staatlichen Militärs wurde durch die Unbekannten Väter, die anonymen Diktatoren des Reiches, perfektioniert; der Widerstand ist in mannigfaltige Splittergruppen mit höchst unterschiedlichen Zielen zerteilt und, wie Maxim schmerzlich erfahren muss, in größerem Rahmen nicht handlungsfähig. Ihr Aktionismus geht über organisierte Himmelfahrtskommandos nicht hinaus; langfristige, gemeinsame Ziele gibt es in der zerstrittenen Untergrundbewegung nicht. Schmerzlich klar formulieren die Strugatzkis die Kraft und die Grenzen des Widerstandes gegen ein übermächtiges System.

Ein wiederkehrendes Thema der Brüder Strugatzki wird auch in diesem Roman subtil bearbeitet: Wann hört der Mensch auf, Mensch zu sein? Die Definition von Menschlichkeit wird von der Militärdiktatur auf optische und biologische Faktoren begrenzt – die Opfer einer Genmutation, „Entartete“ genannt, werden vom Staat erbittert gejagt, obgleich sich die höchsten Ränge aus ihren Reihen rekrutieren. Denn den Entarteten zueigen ist eine besondere Reaktion auf die Emitterstrahlen, die von den Diktatoren eingesetzt werden, um die Bevölkerung zu passiven Akteuren innerhalb des Systems zu degradieren. Diese besondere Reaktion macht sie zu gefährlichen Gegnern – oder zu mächtigen Verbündeten. Es ist eine feine Ironie, dass diese Entarteten und die Mutanten der Wüste, deren bloßer Anblick Maxim in größte Furcht versetzt, mehr Menschlichkeit in sich tragen, als die staatlich anerkannten Menschen, die wie geistlose Maschinen funktionieren. Und so münden alle Kämpfe, Kriege und äußeren Konflikte in der Frage, wie viel Maxim von seiner eigenen Menschlichkeit aufzugeben bereit ist, um seine Ideale den Prinzipien einer Unterdrückungskultur entgegenzustellen.

Arkadi und Boris Strugatzki haben mit Die bewohnte Insel* (Обитаемый остров) eine Studie des Widerstandes geschrieben, ein Plädoyer für Vernunft und einen Roman über die Sinnlosigkeit der durch das Gewissen gebilligten Zerstörungswut. Sie loten die Untiefen des menschlichen Geistes aus, ohne sich daran zu ergötzen und analysieren ihn genau – und deshalb bleibt Maxim immer das, was er ist: kein Held, sondern ein Erdenmensch.

* Eine Anmerkung zu den Ausgaben: vom rezensierten Roman Die bewohnte Insel existieren mehrere gekürzte Versionen. Erstmals ungekürzt ist das Buch 2010 bei Heyne erschienen, im Strugatzki-Sammelband 1. Diese Ausgabe ist deshalb dringend zu empfehlen und hat außerdem den Vorteil, dass die beiden Folgebände ebenfalls enthalten sind.

Dr. Die ersten Menschen auf dem MondCavor, englischer Wissenschaftler par excellence, erfindet einen Stoff, welcher der Schwerkraft trotzt und es ihm ermöglicht, ein Raumschiff zu bauen, das ihn zum Mond trägt. Gemeinsam mit Bedford, einem gescheiterten Geschäftsmann, betritt er als erster Mensch den Mond. Doch schon bald wird klar, dass weder die unbarmherzige Atmosphäre, noch die absonderliche Vegetation oder die fremden Bewohner des Erdtrabanten die größten Gefahren für diese beiden englischen Gentlemen und ihre Mission sind: es sind sie selbst.

“Was haben Sie denn da?”, fragte ich.
“Haben Sie denn nichts zu lesen mitgenommen?”
“Mein Gott! Nein.”
“Wir werden in dieser Kugel den Weltraum durchfliegen und absolut nichts zu tun haben.”
– Im Inneren der Kugel, S. 56

So manche Zukunftsvision wird unsanft von der Realität eingeholt und offenbart entweder visionäre Weitsicht, naiv-optimistischen Fortschrittsdünkel oder – im besten Falle – eine von der Realität losgelöste poetische Kraft, die der (Zukunfts-)Realität immer einen Schritt voraus ist. Die Geschichte um die erste Mondlandung der beiden englischen Gentlemen Cavor und Bedford erschien erstmals im Jahre 1901 unter dem Titel The First Men in the Moon, ganze 68 Jahre, bevor Aldrin und Armstrong 1969 die Mondoberfläche betraten. Wie wir heute wissen, trafen sie weder Mondkühe noch Seleniten an, noch war es ihnen möglich, den Sonnenaufgang auf dem Mond so zu erleben, wie Bedford und Cavor es mit ehrfürchtigem Erstaunen taten. Die zahlreichen Verschwörungstheorien um die Mondlandung mögen Ausdruck dafür sein, dass unser nachbarlicher Trabant die Phantasie der Menschen auch in Zeiten von Google Moon noch beflügelt. Kein Zweifel: so beeindruckend die Geschichte der menschliche Mondfahrt ist, so ungleich schauervoll-aufregend ist die Fiktion von H.G. Wells.

Protagonisten der zeitlosen Wells’schen Mondlandung sind zwei Männer, die in ihrer Motivation, den Mond zu bereisen, nicht unterschiedlicher sein könnten. Bedford ist ein gescheiterter Geschäftsmann, der sich, auf der Flucht vor seinen Gläubigern, aufs Land zurückzieht, um ein Theaterstück zu schreiben. Zweifelsohne würde er auch daran scheitern, wenn nicht das zerstreute Pfeifen eines spazierenden Mannes erst seinen Ärger, die darauffolgende Bekanntschaft mit Cavor sein Interesse und die Entwicklung des Cavorits seine Gier entfachen würde. Die schriftstellerischen Ambitionen sind bald vergessen, als Cavor, ein exzentrischer Wissenschaftler, wie er im Buche steht, das Cavorit entwickelt. Der Stoff, der den Namen seines Meisters trägt, sprengt die Fesseln der Schwerkraft – oh, gravity, thou art a heartless bitch no more – und ermöglicht den Männern zunächst geistige Höhenflüge: Bedford, der ohne Verständnis den wissenschaftlichen Ausführungen seines Geschäftskollegen zuhört, um sich durch sein vermeintliches Interesse einen festen Platz im Mondgeschäft zu sichern, träumt schnöde vom großen Reichtum, während Cavor gänzlich vom ungetrübten, wissenschaftsromantischen Forscherdrang beseelt ist. Doch Erkenntnis um ihrer selbst willen ist nichts, was die Mägen mit Essen, die Gläubiger mit Zufriedenheit und die Börsen mit Geld füllt, und so starten die beiden Männer wenn auch nicht als Freunde, dann als Unternehmer ihr buchstäbliches Himmelfahrtskommando. Wells beweist sein Können als Satiriker besonders im prälunaren Teil seines Romanes: da auch sein Erbauer nicht weiß, wie lange die Reise mit der Cavorit-Kugel dauern wird, wählt Cavor vorsichtshalber die gesammelten Werke Shakespeares als Reiselektüre für seine Mondfahrt, um seine Bildung zu vervollständigen – wofür er vorher, vor lauter Nachdenken, nie die Zeit fand. Es gibt einfach zu viele Dinge zwischen Himmel und Erde.

Wells ist kein Visionär – zu einfach sind manche Lösungen wissenschaftlicher Probleme, zu makellos die Theorie; vielmehr ist er ein außerordentlicher Phantast und genauer Beobachter der menschlichen Natur. Der satirische, leichte Ton der ersten Buchhälfte verkehrt sich mit der Ankunft auf dem Mond in einen extraterrestrischen Grusel, der kunstvoll gezeichnet das Bild einer, wie die beiden Protagonisten bemerken, völlig anderen, aber dennoch unheimlich ähnlichen Welt entwirft. Der Versuch, Unbekanntes zu erfassen, indem man bekannte Parameter des Begreifens anwendet, muss jedoch zwangsläufig scheitern. Cavor erkennt dies als erstes und sucht nach einem gemeinsamen Nenner, der intelligente Wesen vereinen muss. Weder auf Sprache, auf Gesten, noch auf Mimik können sie sich verlassen, und letztlich landet Cavor bei der euklidischen Geometrie.

Bedford und Cavor sind gezeichnet als satirische Gestalten, die nie aus ihrer Rolle entfliehen können. Der Moment der Ausgelassenheit und der unschuldigen Kindlichkeit, der beide gestandenen Männer in der dünnen Mondatmosphäre wie junge Lämmer über die Mondoberfläche hüpfen lässt, hat für beide furchtbare Folgen. Beim Zusammentreffen mit den Seleniten nähert sich Wells der Frage, wie die menschliche Antwort auf das Unbekannte lautet. Mit Bedford und Cavor streiten sich zwei Seelen, ach, auf dem Mond: Pectus und Ration, Angst und Neugier, Verdammen oder Verstehen. Wells’ Antwort auf diese Dichotomie ist so phantasievoll wie beklemmend und von einer außergewöhnlichen Imaginationskraft geprägt, sodass unsere Realität beinah farblos wirkt. Wells’ Version des „ersten Kontaktes“ lässt das Leserherz vor Spannung und Erstaunen schneller schlagen, und der Wissenschaftsaffine wird seine wahre Freude am Roman haben. Der Autor studiert pointiert nicht nur die Bewohner des Mondes, sondern in erster Linie den Erdenbewohner, der nun auch die Weiten des Weltalls zum Schauplatz seiner gefühlten Großartigkeit macht.
Über den Ausgang der Mondfahrt sei hier nichts verraten, nur eines ahnt man schon: letztlich verkörpert Bedford den Grund, weshalb man Extraterrestriern zu einer großräumigen Umfahrung der Erde raten möchte – denn der Mensch ist nicht nur des Menschen Wolf.

Grau von Jasper Fforde„Ich muss mich in Demut üben“: nach einem kleinen Scherz muss Eddie Russett diesen Anstecker tragen und in einem Dorf nahe der Gesindel-Grenze ebendieses tun, indem er eine Stuhlzählung durchführt – dabei hat er als Mensch mit einer exzellenten Rotwahrnehmung Zuhause beste Aussichten auf eine Prestige- und Farbtonreiche Heirat. Doch als in einer Filiale der NationalColor-Gesellschaft, die für die synthetische Colorierung der wohlhabenden Teile der Welt zuständig ist, ein Bürger unter mysteriösen Umständen stirbt, nehmen Ereignisse ihren Lauf, die Eddie nicht ignorieren kann. Und dann ist da auch noch Jane, die stupsnasige Schönheit, die versucht, ihn umzubringen…

2.4.16.55.021: Männer haben sich auf Interkollektivreisen nach Kleiderordnung Nr. 6 zu richten. Hüte werden ausdrücklich empfohlen, sind aber nicht vorgeschrieben. –
Ein Morgen in Zinnober, S. 5

Eddie Russett sieht rot. Was bei unsereins nur in Ausnahmefällen passiert – vielleicht wenn unser Lieblingsbuch out-of-print geht oder der 42. Band von Die Zwerge zum Bestseller wird –, ist für den jungen Protagonisten des neuen Romans von Japser Fforde ein Urteil von einer Tragweite, die der Leser erst nach und nach begreift. Ist die Bestimmung der Farbwahrnehmung eines Menschen einmal vollzogen, gleicht das Leben einem wohlbekannten Buch: man weiß genau, was passiert. Dieser Initiationsritus, Ishihara genannt, macht aus Kindern Erwachsene, was in Grau jedoch keinen großen Unterschied macht.

Jasper Fforde schafft mit seinem Roman eine Zukunftsvision, die trotz aller Farbenprächtigkeit und der Bemühungen von NationalColor düster erscheint. Ungefähr 500 Jahre in der Zukunft regelt eine Zentrale alle Bereiche des Lebens, immer ausgehend davon, welche Farbe ein Mensch wahrnehmen kann. Die handelnden Figuren bleiben dabei zum größten Teil so monochrom wie ihr Sehvermögen, wobei jeder durch ausgesuchte Boshaftigkeit immer aufs Neue zu überraschen weiß. Diskriminierungsgründe glaubt der Mensch viele zu kennen, und keiner ist so bequem und schnell bei der Hand wie die Farbe. In der Welt des Eddie Russett, wo Vorurteile sich als Regeln tarnen, wird nichts so ausführlich zelebriert wie die Unterwürfigkeit auf der einen und unverrückbare Dominanz auf der anderen Seite. Das daraus resultierende Gefühl der Stagnation zieht sich wie ein Faden durchs Buch, der aufgrund seiner Farbe scheinbar von niemandem außer dem Leser wahrgenommen werden kann. Doch Eddie ist nicht umsonst ein Roter, und so begeht er eine Ungeheuerlichkeit: er beginnt, Fragen zu stellen.

Denn alle Regeln werden grundsätzlich befolgt, ohne hinterfragt zu werden. Soziale Beziehungen werden ausschließlich aufgrund von Kosten-Nutzen-Rechnungen gepflegt; Freundschaften sind limitiert und werden ganz im Stile unserer sozialen Netzwerke angeboten: Die Frage „Freundschaft?“ kann formal abgelehnt oder angenommen werden; dabei spielt weniger Sympathie, sondern Berechnung eine Rolle und treibt die Tendenz zur Sinnentleerung des Begriffes auf die Spitze.
Sinnentleert sind übrigens viele Regeln, die Munsell, eine Art Prophet, einst formulierte und nach deren Wortlaut die Gesellschaft handelt und funktioniert. Zahlreiche Tabus beengen jeglichen Handlungs- und Gefühlsspielraum, und der Leser kann nicht anders, als die mit Postleitzahl und Barcode klassifizierten Bürger als Gefangene ihres eigenen Systems zu begreifen.

Fforde führt den Leser behutsam an seinen Weltentwurf heran und lässt den Einstieg farbenfroh erscheinen. Als Leser erfreut man sich zunächst an den skurrilen Rückbezügen zu unserer heutigen Zeit und an den faszinierenden (Hierarchie-)Strukturen einer chromatischen Diktatur. Gemeinsam mit Eddie Russett begreift man schließlich mehr und mehr Facetten von Grau, bis einem das Lachen ab und an im Halse stecken bleibt. Denn so witzig die Absurditäten einer bis ins kleinste Detail von Regeln durchflochtenen Gesellschaft sind, so weiß man auch: man selbst möchte um keinen Preis in der Haut einer Fford’schen Romanfigur stecken. Die Unbeschwertheit seiner Zukunftsvision verliert sich im Laufe der Kapitel zwangsläufig mit Eddies schrittweiser Erkenntnis – zurück bleibt der gewohnte Fford’sche Humor und eine ordentliche Portion Unbehagen. Während Eddie Farbschicht um Farbschicht abträgt, um der Wahrheit unter all der Fassade näherzukommen, bekommt er es mit Nachtangst, Apokryphen und einer Menge Gesindel innerhalb der eigenen Dorfgrenzen zu tun. Und mit Jane.

Ja, Grau ist auch eine Liebesgeschichte, die zwangsläufig ohne rosaroten Kitschglanz auskommen muss. Denn Jane ist eine Graue, gehört also der niedrigsten gesellschaftlichen Schicht an und ist zudem das, was man als militante Freidenkerin bezeichnen könnte. Ihre Ideale sind losgelöst von jeder Farbwahrnehmung und bar jedes pazifistischen Gedankens. Das “Greater Good” verlangt Opfer, zu denen auch Eddie von Zeit zu Zeit zählt. Wenn dieser nicht gerade umgebracht werden soll, entwickelt er sich vom ahnungslosen, aber ungefährlichen Naivling zum Feind Eurer Farbenprächtigkeit. Dass die farbenprächtigsten Bewohner des Dorfes nicht imstande sind, menschliche Facetten abseits ihres schwarz-weißen Barcodes wahrzunehmen, ist bezeichnend für Ffordes Gespür für Ironie. Und nicht zuletzt beweisen die letzten Kapitel, die einer Erkenntnisexplosion gleichkommen, wie erschreckend gut der Autor seine Welt durchdacht hat. Radikaler als Thursday Next und mit hochaktuellen Themen, ist Grau nicht nur ein witziges Absurditätenkabinett, sondern eine rasante Dystopie, von der man mit Sicherheit eines sagen kann: von Schwarz-Weiß-Malerei ist sie weit entfernt.

Der trügerische Frieden in den Benannten Landen ist nur von kurzer Dauer; zu hoch war der Preis, der dafür gezahlt wurde. Als ein Anschlag auf Jin Li Tam und ihren Sohn verübt wird, erkennt Rudolfo, dass er es mit noch mehr Feinden zu tun hat, als er geahnt und gefürchtet hat. Doch auch in den Ödlanden werden Steine ins Rollen gebracht, die scheinbar nicht aufzuhalten sind. Und so verstricken sich uralte Pläne mit jetztzeitigen Ängsten, und die Kriege an unzähligen Fronten drohen, jederzeit zu eskalieren…

Der aufgehende Vollmond tauchte das ruhige Meer in blasse Blau- und Grüntöne, übergoss das Ufer und auch die Gestalten in Talaren, die dort im aquamarinfarbenen Licht warteten. Über ihnen tanzten und funkelten die Sterne am warmen Nachthimmel.
– Vorspiel, S. 7

Musik zwischen Bücherdeckeln gehört sicher nicht zu den alltäglichen Leseerfahrungen, doch mit Hohelied erschien nunmehr die dritte Strophe der Legende von Isaak von Ken Scholes. Anders, als es der Titel suggeriert, handelt es sich jedoch weniger um ein Liebeslied, sondern um einen wechselvollen Gegengesang von Hoffnung und Verzweiflung, von tiefem Glauben und dem noch tieferen Fall beim Verlust desselben. Denn in den Benannten Landen ist ein jeder gezwungen, sich der Gretchenfrage zu stellen: Rudolfo, Winters, Isaak: Wie habt ihr’s mit der Religion?

Die Beantwortung dieser Frage ist ein zentraler Handlungsmotor des Werkes und seiner Figuren. Während die Benannten Lande in Intrigen und Scharmützeln versinken, tobt auch im Inneren der Gesinnungskrieg. Religion vermischt sich mit Mystizismus, Metaphysik wird zur Wissenschaft und Träume wiegen plötzlich schwerer als die Realität. Inmitten dieser fundementalen Ungewissheiten findet sich der Leser wieder; und wer genau liest, erahnt auch in Hohelied die zahlreichen Verfremdungen der christlich-abendländischen Kulturgeschichte. Ohne diese Deutungsebene ist es ein lediglich spannungsvoller Roman; berücksichtigt man sie jedoch, bekommt er aktuelles Gewicht. Wenn Jin Li Tam mit ihrem Sohn durch ein Spalier von Tannenzweigen schwenkenden Gläubigern reitet, um sich in die sprichwörtliche Höhle des Löwen zu begeben, dann ist dies keine so hoffnungstiftende Szene, wie das palmenblättrige Original.

Die Vaterrolle, die im zweiten Band, Lobgesang, eine zentrale Thematik war, verlagert sich in Hohelied auf eine abstraktere, weniger greifbare, aber nicht weniger spannende Ebene: Charles, der Androfranziner-Mönch und Gelehrte, der die Mechoservitoren schuf, sieht sich mit der “Mensch-Werdung” seiner Maschine konfrontiert. Denn während der Feind im Namen seines Glaubens zum Unmensch wird, beginnt Isaak, der Mechoservitor aus Metall und Zahnrädern, zu träumen. Die Sorge, das eigenen Kind nicht schützen zu können, eint bald den Zigeunerkönig und den Gelehrten und bestimmt ihr Handeln. Scholes nähert sich diesem Konflikt feinfühlig und scheut sich nicht, den strahlenden Gecken des ersten Bandes, Rudolfo, den Zigeunerkönig, zu demontieren. Was tut ein Mann, der sich seines Glaubens, seiner Lieben und der Einigkeit seines Volkes beraubt sieht? Rudolfos Antwort auf seine Verzweifelung mag nicht königlich erscheinen, ist jedoch zutiefst menschlich und beweist die Sensibilität des Autors bei der Charakterzeichnung.

Doch nicht nur Rudolfo wird auf das Härteste geprüft; als Meister der Charakterentwicklung schreibt Scholes den Figuren einen Weg, der qualvoll authentisch ist und keine Zugeständnisse an Klischees zulässt. Seine Konsequenz macht aus dem Roman eine Lektüre, die bedrückend und virtuos zugleich ist. Die Komplexität seines Weltentwurfs spiegelt sich vor allem und in den verschiedenen Lehren wider, die nicht nur die Protagonisten, sondern auch den Leser herausfordern. Nicht selten fühlt man sich an die eigene Lebenswirklichkeit erinnert; besonders Titel wie “Zar” oder “Papst” sowie seltsam vertraut-entrückte Visionen erwecken zunehmend den Anschein, dass die Benannten Lande mit der Welt, die wir kennen, einst verwandt waren.
Freunde der Rätselei werden also auch in Hohelied viel Stoff für angestrengte Überlegungen finden; jedoch wird auch der klügste Kopf überrascht werden von dem Muster, welches Scholes bereits vom ersten Band an geknüpft und sorgsam sowie wohltönend komponiert hat.

Staatsgrenzen, Grenzen zwischen Religionen, die Unterscheidung in Freund und Feind: In den Benannten Landen verlieren klare Definitionen ihren Sinn und ihre Gültigkeit. Wenn sich uralte Mächte einmischen, so weiß der Fantasy-Kenner, müssen sich diejenigen, die sich derzeit für mächtig halten, auf einen Rückschlag gefasst machen. Und an Rückschlägen mangelt es in Hohelied wahrhaftig nicht. Umso herber trifft den Leser der Schluß des Romans, der das Warten bis zum Erscheinen des nächsten Bandes eindeutig zur Geduldsprobe werden lässt. Denn die wunderschöne Sprache, die feinstens ausgefeilte Handlung sowie die Hintergründigkeit des Romans erzwingen eindeutig eine Erwiderung.

Hollow Earth CoverMatt und Emily warten gelangweilt auf ihre Mutter, die einen Gesprächstermin im Museum hat und die Zwillinge in den Galerieräumen zurücklässt. In glühender Sommerhitze betrachten Matt und Emily Seurats ‘Bathers at Asnières’, und nur einen Moment später baden sie im kühlen Nass und spielen am Flußufer. Doch ihre Gabe, Kunst zum Leben zu erwecken, bringt nicht nur die Geschwister selbst, sondern auch ihre Familie in Gefahr …

THIS book is about the nature of beasts.
Gaze upon these pages at your peril.
– Kapitel 1

Was kann er nicht alles: schauspielern, singen, tanzen, jedwede Spezies verführen – und nun auch noch schreiben? John Barrowman, den meisten bekannt als Captain Jack Harkness aus den britischen Serien Doctor Who und Torchwood, beweist gemeinsam mit seiner Schwester Carole Barrowman, dass nicht nur in ihrem Roman Hollow Earth begabte Geschwisterpaare beeindruckendes leisten können. Während das gemeinsame Schreiben sich vorher auf die Biographie von John konzentrierte, entstand mit Hollow Earth ihr erster gemeinsamer Roman, der auf einer Fahrt von London nach – natürlich – Cardiff Gestalt annahm. Kenner der Torchwood’schen Hauptstadt werden ein Rift in Space and Time vermuten, durch das zu viel Kreativität auf zwei Gehirne verteilt wurde; eine Theorie, die bei der Lektüre des Buches immer wahrscheinlicher wird.
Mit dem Jugendroman Hollow Earth entführen uns die Geschwister Barrowman in eine Welt, in der sich bereits Zwölfjährige für Kunst interessieren: die Geschwister Matt und Emily, die bei ihrer Mutter aufwachsen, sind Zwillinge und teilen eine besondere Gabe, die über das gegenseitige Beenden von Sätzen weit hinausgeht. Sie sind Animare: Mithilfe ihrer Vorstellungskraft erwecken sie Kunst zum Leben und können Ausflüge in ihre Lieblingsgemälde unternehmen. Als Leser ahnt man bereits, dass diese Fähigkeiten nicht nur genutzt werden können, um unter Happy Little Trees zu wandeln; vielmehr befinden sich die Zwillinge durch ihre außergewöhnlichen Fähigkeiten bald in großer Gefahr. Denn vielleicht ist Hollow Earth, das sagenumwobene Reich, wo alle Monster und Dämonen gefangen sind, doch mehr als nur ein Kinderspuk – zumal sich Kinderspuk von begabten Animares wie Emily und Matt nie an die Grenzen der Realität halten.

In diesem spannend Setting reist der Leser mit den Zwillingen nicht nur durch verschiedene Gemälde, sondern erkundet auch die reizvolle Landschaft schottischer Inseln, die, ganz im Sinne des Romans, lebhaft und deutlich vor dem inneren Auge Gestalt annimmt. Ganz zu schweigen von den Fabelwesen, die einem bei diesen Reisen begegnen können. Matt und Emily jedoch hadern mit ihren Fähigkeiten, die nicht nur sie selbst, sondern auch ihre Familie und engsten Freunde in Gefahr bringt. Matt, gefangen in einer alterstypischen Phase, muss lernen, dass Wut nicht die schönsten Bilder zeichnet, und Emily wird immer wieder aufs Neue mit ihren Ängsten konfrontiert. Um das Rätsel ihrer Herkunft und Hollow Earth zu lösen, bedarf es Mut, Freunde und torchwoodesker Technik – und ein Picknickpaket von Köchin Jeannie, die mit ihrer urschottischen Art die amüsanteste und zugleich furchterregenste Figur des Romans ist.

Und auch wenn sich die Zwillinge zuweilen als erstaunlich lernresistent und erinnerungsschwach erweisen – wir schieben es auf die schottische Seeluft –, so wachsen die Geschwister spürbar an ihren Aufgaben und durchwandern letztlich auch eine Entwicklungsreise, die den erwachsenen Leser aufatmen lässt und ihn in den Buchladen treibt, um den zweiten Band Bone Quill zu bestellen – und zwar nicht nur als Geschenk für die pubertierende Nichte fünften Grades. Wer sich die Wartezeit auf die Lieferung des zweiten Bandes etwas verkürzen möchte, kann sich zudem auf der inhaltlich liebevoll aufgemachten offiziellen Homepage des Romans zu Kunstwerken, schottischen Inseln und zur Gebärdensprache belesen.

Der flotte Schreibstil und das Einfühlungsvermögen der Autoren machen Hollow Earth zu einem kurzweiligen, für Kunstkenner doppelt lohnenden Leseerlebnis, das mit einigen losen Enden und dem höchst kreativen Setting zu einer zweiten Reise einlädt. Der Roman ist im doppelten Sinne eine Feier der Vorstellungskraft, der ganz im Blake’schen Sinne nicht nur über Kreativität schreibt, sondern auch vor ihr sprüht: Imagination, the real and eternal world.

Und so kann ich nur mit John Barrowmans eigenen Worten schließen, die sich augenscheinlich auf alle Familienmitglieder übertragen lassen: he can act and he can sing, he’s really great at everything.

Ein Kind von Licht und Schatten von Guy Gavriel KayVon allen verlassen, gejagt, gehasst oder gefürchtet, begibt sich Darien, das Kind von Licht und Schatten, auf die Suche nach seiner Bestimmung. Doch für ihn gibt es im Webmuster Fionavars keinen Faden – und so muss er selbst entscheiden, welchen Weg er einschlagen möchte. Er ahnt, dass von seiner Entscheidung das Wohl und Wehe Fionavars und all seiner Bewohner abhängig sein wird. Kriege, Zweifel und Verrat lassen scheinbar keinen Platz für Hoffnung – doch noch immer streiten Kimberley, Jennifer, Dave und Paul für das Licht und wandeln dabei auf dunkelsten Pfaden.

Einen Augenblick später rannte er durch die Ebene, seine Geschwindigkeit war schneller, als die des Slaug jemals hätte sein können, er rannte so schnell er konnte nach Westen, vergessen war die Schlacht, der Krieg, fast vergessen.
Nach Westen, wo die Lichter brannten und jemand im Raum stand, in jenem Raum, der einst Lisen gehört hatte.
Teil I: Das letzte Kanior

Alle Fäden, die Autor Guy Gavriel Kay in den ersten beiden Bänden der Fionavar-Trilogie so meisterhaft wob, bilden in diesem letzten Buch endlich das finale Muster und lassen den Leser teilhaben am Ende der Geschichten von Dave, Kim, Paul und Jennifer. Mit den einfach bis anstrengend gestrickten Charakteren des ersten Bandes haben die Vier nicht mehr viel gemein: alle haben sich zu Persönlichkeiten weiterentwickelt, die durch phantastische Gaben und Fähigkeiten brillieren und sich durch Zweifel, Angst und Unsicherheit immer weiter wandeln. Und das ist auch bitter nötig: keiner zweifelt mehr an der Existenz von furchterregenden, göttlichen oder verdorbenen Gestalten, denn in mannigfaltiger Form begegnen sie den vier „Fremden“ in Fionavar immerzu; und man kann gestrost annehmen, dass es Dave nicht bis in den 3. Band geschafft hätte – wäre er nicht zu einem Anderen geworden. Die Charaktere sind die große Stärke von Kays Roman: sie bleiben menschlich, auch wenn sie mit Macht beladen sind, und sie sind einer ständigen Entwicklung unterworfen. Selbst Jaelle, die kalte Tochter der Göttin, kommt im Laufe der Handlung nicht umhin, sich selbst im Frage zu stellen und aufgrund neuer Selbsterkenntnisse weitreichende Konsequenzen zu ziehen.

Und so sind Entscheidungen und Veränderungen die beiden Motive, die sich wie rote Fäden durch das kunstvolle Bild Fionavars ziehen. Sind wir frei genug, um wahrhaftig eine Entscheidung zu treffen, oder ist selbst die Entscheidung vorgezeichnet? Mit dieser Frage nähert sich Kay einer uralten und zur gleichen Zeit sehr modernen Problematik: die Natur des freien Willens. Der Autor lässt seine Figuren die Frage mit einem entschiedenen „Ja!“ beantworten, wobei jedoch auch deutlich wird, dass die Abkehr vom Schicksalsglauben einen hohen Preis fordert. Und genau dies beeinflusst die Grundstimmung des Werkes entscheidend: keine Seite wird gewendet, ohne dass dem Leser unaussprechliche Traurigkeiten, tiefste Miseren und schwierigste Entscheidungen offenbar werden. Mit dem Gewicht vom Curdardhs Hammer drücken die Ungerechtigkeiten und Unfassbarkeiten auf das Gemüt eines jeden, der ihnen ausgesetzt ist – da geht es Figuren wie Lesern. Jede kleine Handlung ist derart mit Bedeutung angereichert, dass es dem Leser bald die Sprache verschlägt: wandelt denn niemand auf Fionavars Boden, der nicht reinkarniert oder seit tausend Jahren von Seelenschmerz gezeichnet ist? In diesem Band vernachlässigt Kay leider einen wichtiger Aspekt, der die beiden vorhergehenden Bücher auszeichnet: eine gewisse Leichtigkeit und eine Schönheit der Sprache, die nicht erdrückend wirkt.

Man kann es den Bewohnern Fionavar jedoch wahrlich nicht verübeln, dass ihnen der Spaß gründlich vergangen ist: im andauernden Schlachtgetümmel – auf den Felder Fionavars und im Inneren von hin- und hergerissenen Seelen – beschränkt sich sogar der schillernde Prinz Diarmuid auf lahme Scherze, die ihm der Leser nicht mehr so recht abnehmen mag.

Die Einflechtung der Arthussage erreicht in diesem Band ihren Höhepunkt sowie ihre überraschende Auflösung. Das Trio Guinevere, Lancelot und Arthus ficht, ungeachtet der allzu weltlichen Dinge wie Raum und Zeit, auf Fionavar seinen letzten Kampf aus, um der unsterblichen Liebe willen. Ich komme nicht umhin, mich zu fragen, weshalb in diesem fundamentalen Kampf zwischen Gut und Böse jedes Fass aufgemacht wird, dessen Bodensatz nach Pathos riecht. Scheinbar endlos wird die Liste der Traurigkeiten, will man sie alle aufzählen. Endlos ist jedoch nicht die Aufnahmefähigkeit des Lesers, und so kommt es, dass gebrochene Herzen zur Lesegewohnheit werden und humorige Passagen zum ungläubigen Zweimallesen anregen.

Was als Urteil allzu vernichtend klang, soll jedoch nicht als einziges Bewertungskriterium herangezogen werden. Für seine Geduld belohnt Kay den Leser mit feinfühlig und differenziert gezeichneten Figurenkonstellationen und ausdrucksstarker, sprachlicher Bildlichkeit. Und an Ideen mangelt es dem Autor wahrlich nicht: furchterregende, beeindruckende Wendungen in der Handlung lassen den Leser in eifriger Hast weiterlesen. Erwähnt seien hier die nächtliche Meerfahrt auf einem Schiff, dass bereits vor tausend Jahren sank, oder die Enthüllung des Geheimnisses vom Kristallsee – und der Gesang der Paraiko, der nicht nur die weißhaarige Kimberley tief berührt.

Trotz allem Ideenreichtums möchte ich Isaac Asimov mit seiner Bewertung „Tolkienesk“ zustimmen: einige Motive kommen dem geneigten Tolkianer sehr bekannt vor, sei es das entrückte Land im Westen oder das lichterfüllte Gründervolk, welches in raren friedlichen Zeiten den Abendstern huldigt. Kay interpretiert diese motivischen Traditionen jedoch oft in erstaunlicher oder erschreckender Art und Weise neu, sodass dem Leser viele neue Facetten eines Stoffes gewahr werden – so auch des Artusstoffes.

Zum Schluß kommen endlich auch Freunde der blutreichen Kampfszenen auf ihre Kosten; auf den letzten 50 Seiten entscheiden sich – oder enden – recht abrupt etliche Schicksale, die den Leser in tiefer Trauer zurücklassen. Doch nicht ohne Hoffnung: auf den letzten Seiten entwickelt sich erneut ein heiterer Unterton in der Erzählung, der das Abschiednehmen des Lesers von Fionavar und seinen Bewohnern von seiner allumfassenden Tragik und Dramatik zumindest für einen Moment befreit und damit versöhnlich stimmt – wenn man nicht vorher durch einen Tränenschleier gehindert wird, bis zum Ende der Geschichte zu lesen.

Königsblut von Daniel HanoverWährend Cithrin tollkühne Tänze auf dem Finanzmarkt vollführt, Marcus Wester im Zuge seiner Leibwächtertätigkeit wieder zum Schwert greift und im Hause Kalliam eine Vermählung ansteht, stehen in Antea alle Zeichen auf Krieg. Und an dessen Spitze steht kein Anderer als Geder Palliako, dessen priesterlicher Berater noch ganz andere Ziele verfolgt …

“Der Abtrünnige, der unter anderem auf den Namen Kitap rol Keshmet hörte, stand im sanften Regen der Stadt, vom Makel in seinem Blut gedrängt und getrieben, ohne ihm jedoch nachzugeben.”
– Einleitung, Meister Kit

Nach dem furiosen Auftakt Das Drachenschwert (The Dragon’s Path) geht die Dolch-und-Münze-Reihe von Daniel Abraham, der hier unter dem Pseudonym Daniel Hanover firmiert, mit Königsblut (King’s Blood) in die zweite Runde. Der Klappentext verrät bereits, dass Geder Palliakos Stern im Steigen begriffen ist – und der geneigte Leser weiß, was das bedeutet: Intrigen, Blut und Chaos; und wer hinter dieser vielversprechenden Wortgruppe Spannung und Action vermutet, wird nicht enttäuscht werden. Und ehe man sich versieht, befindet man sich im Lesestrudel und erfreut sich an Piratenabenteuern von Marcus und Yardem, dem sympathisch-witzigsten literarischen Fantasyduo seit Merry und Pippin, während Antea (ich will ja nichts beschönigen) langsam den Bach hinuntergeht. Königblut ist dennoch kein typischer modernen Fantasyroman, auch wenn es reichlich blutig zugeht – der Roman ist eher witty als gritty, eher „Hut ab!“ als „Kopf ab“, und damit eindeutig eine Ausnahmeerscheinung im aktuellen Fantasyprogramm.

Wie bereits im Vorgängerband besticht Königsblut nämlich besonders durch seine feine, psychologisch ausgefeilte Charakterzeichnung. Jeder Schwertstreich, jeder Verrat, jede Schlacht auf der abraham’schen Welt beginnt mit einem gesäten Zweifel, einer Unsicherheit, einer Zurückweisung, einer Enttäuschung oder Hoffnung; es sind die leisen Momente, die unwillkommensten Gedanken, die sich als machtvolle Figurenlenker erweisen und wie sehr kleine Steine des Anstoßes die Geschichte ins Rollen bringen. Dabei bedient sich Abraham, so scheint es, grundsätzlich bei altbekannten Typen: wir begegnen dem verbitterten Witwer, der intrigengeprüften Politikergattin (nebst kronentreuen Ehemann) und einem undurchsichtigen Fundamentalisten. Was sie alle auszeichnet, ist eine Lebendigkeit, die weit über die konventionelle Stereotypenjongleurie hinausgeht. Dabei vermag Abraham über die jugendlichen Irrungen und Wirrungen Cithrins genauso überzeugend zu schreiben wie über den klug gezeichneten, tiefen Konservativismus Dawson Kalliams, der, mit einer Prise Verzweiflung gemischt, zum Dreh- und Angelpunkt für das politischen Geschehen in Antea wird. Über allem steht jedoch die dunkle Figur Geders, die in seiner schamhaften Menschlich- und Männlichkeit, seiner Verletzlichkeit und Unbedarftheit alle anderen finsteren Herrscher in den Schatten stellt. Denn Geders Rache ist nicht die eines irrsinnigen Größenwahnsinnigen, sondern die eines gehänselten, unsicheren kleinen Jungen, der sich eines Tages mit der mächtigsten aller Waffen in den Händen wiederfindet: politischer Macht.

Besonders erfreulich ist es, dass diese Ausnahmereihe auch dem deutschen Leser zugänglich gemacht wird: mit einer feinsinnigen und rundum gelungenen Übersetzung, die auch das Bankenjargon einer Cithrin bel Sarcour treffend zu vermitteln weiß, kann Geder Palliakos unheilverkündender Todesstern also auch hierzulande aufgehen.

Und während also Abraham mit Erwartungen, altbekannten und beschuppten Genregrößen, klugen Witz und tiefgehender Menschenkenntnis jongliert, wünscht sich der Leser nichts mehr als ein zehnbändiges Spin-Off mit Marcus und Yardem.
Der Tag, an dem man dieses Buch aus der Hand legen kann? Nicht heute.

Das Labyrinth der träumenden BücherGelockt von einem geheimnisvollen Manuskript, kehrt Hildegunst von Mythenmetz 200 Jahre nach seiner Flucht aus Buchhaim zurück in die Stadt der träumenden Bücher. Denkfaul und träge geworden, gleicht die Echse eher einem verwöhnten Balg als einem ehemals ormdurchströmten Schriftsteller, und dennoch begibt er sich auf die Reise. Und obwohl sich das nach dem verheerenden Feuer wiederaufgebaute Buchhaim von einer völlig neuen Seite zeigt, schafft es die Stadt bald, den Schriftsteller in seinen Bann zu ziehen und ihm neuen Schreibmut zu schenken. Und, wer weiß – vielleicht wartet ja irgendwo auch das Orm?

– Unter allem vibrierte das unverwechselbare Grundgeräusch, der Kammerton jeder größeren Stadt, der sich aus tausenden durcheinanderplappernden Stimmen speist und wie das anhaltende Raunen eines Publikums klingt. Ich war angekommen. –
Die neue Stadt, S. 41

Rauchverbot, Latte Macchiato mit oder ohne Milchschaum, Regenbogenpresse – Willkommen im Buchhaim des 21. Jahrhunderts. Eingeholt von Fortschritt und Entwicklung präsentiert sich die Bücherstadt von ihrer modernen Seite, und während die Stadt der träumenden Bücher aus der Asche wiederauferstand, befindet sich Hildegunst von Mythenmetz, der unselige Protagonist des Romans, am Tiefpunkt seines künstlerischen Schaffens. Die Echse badet eitel im großen Schaumbad des schnellen Erfolges und pflegt ihre einmalig erworbenen Lorbeeren mit größerem Eifer als ihre eingerostete Schreibfeder. In seiner dramatisierten Großartigkeit ist er trotz Schuppenkleid und Klauenhand den Akteuren des realen Literaturbetriebes oft sehr ähnlich. Und wahrlich: an Seitenhieben auf unseren deutschen Büchermarkt mangelt es nicht. Während buchhaim’sche Insider die Verdrängung des papierenen Wortes durch das revolutionäre Wurstbuch heraufbeschwören, erstickt so mancher Kritik verachtende Autor, trotz offensichtlichen Unvermögens, in Fanpost. Klingt bissig? Treffend? Pointiert?
Nichts liegt dem Roman ferner. Die parodistischen Elemente sind nach starren Regeln strukturiert: das Humor-Reportoire des Autors beschränkt sich in diesem Buch zumeist auf die fleißige Anagramm-Bildung und die kulturgeschichtliche Anspielung durch Namensverfremdungen. Nicht nur die Lettern von Schriftstellernamen werden munter gemischt, auch die der Größen der klassischen Musik. Kenner entdecken den Walkürenritt, ebenso wie Freude schöner Götterfunken. Keine Kunstepoche ist sicher vor der schablonenhaften Verfremdung, kein gesellschaftliches Phänomen gefeit vor einer zamonischen Entsprechung. Moers hat mit Das Labyrinth der träumenden Bücher ein Gagfeuerwerk erschaffen, welches partout nicht zünden will. Seine Einfälle funktionieren als kurzweilige Pointe – wie die Werbeausgabe des Zamonischen Kuriers oder die Alles-in-Fraktur!-Zwerge beweisen -, doch durch die konsequente Wiederholung der Lachstrickmuster wird der moers’schen Absurdität der genussvolle Stachel des Unerwarteten genommen. Auch sprachlich reflektiert Moers mit seinem Roman die schriftstellerische Verfassung seiner Hauptfigur – erfolgsverwöhnt und mit dem unerschütterlichen Glauben, dass der geneigte Leser jeden Lapsus, jede handlungsarme Durststrecke für einen Geniestreich hält.

Der Klappentext verspricht einen Beitrag zur  “Kulturgeschichte” Zamoniens, und einzig das möchte man ihm zugestehen. Voller Unglaube verfolgt der Leser eine repetitive Handlung, die aus dem Vorgängerband Die Stadt der träumenden Bücher hinreichend bekannt ist. Allein die 200 Jahre Unterschied können als Anlass gewertet werden, diese Geschichte niederzuschreiben. Bizarrer Höhepunkt des Wiederholungsreigens ist das moers’sche “play within a play”: Hildegunst wohnt einer Theateraufführung bei, die seine Abenteuer aus Die Stadt der träumenden Bücher erzählt. Der geneigte Leser kennt vielleicht das unangenehme Gefühl, von einem begeisterten Freund die Handlung eines kürzlich gesehenen Filmes nacherzählt zu bekommen: während der Erzählende, noch tausende Bilder vor Augen, begeistert die Handlung nachvollzieht, vergeht das lauschende Gegenüber vor Langeweile. Und nun stelle man sich eine 20-Seitige, begeisterte Nacherzählung einer bereits bekannten Geschichte vor, die nichts von der Begeisterung transportieren kann und zur bloßen Inhaltsangabe verkommt. Lässt Moers hier den selbstverliebten Mythenmetz auf quälende Art und Weise schwadronieren? Ist die Szene ein lebendiges Zeichen für den charakterlichen und schriftstellerischen Niedergang seiner Figur, eine Meta-Ebene des Qualitätsverlustes? Oder ist es tatsächlich ein Zeichen dafür, dass Moers in seinem Roman keinerlei nennenswerte Handlung unterzubringen vermag, sondern sich an dem Glanz seines bereits erschienenen Werkes erfreut?

Auch die kulturgeschichtlichen Abhandlungen über den aufkommenden Puppetismus – professionelles Marionettenspiel –  in Buchhaim sind nur ein schwacher Abglanz jenes Zaubers, den eine moers’sche Schilderung über die Katakomben von Buchhaim heraufzubeschwören vermochte. Seine Versuche, ein lebendiges Bild einer künstlerischen Gemeinschaft zu schaffen, scheitern. Die Aufzählungen zahlreicher wunderlicher Details erschaffen ein Bild, welches an eine kaputte Marionette erinnert: es mag zu Zeiten durchaus lebendig wirken, doch gewiss nicht im jetzigen Zustand. Einzig die gewohnt phantasievollen, aber rar gesäten Illustrationen geben dem Leser einen Einblick in das neue, touristisch erschlossene Buchhaim, dessen Zauber nicht verflogen ist, sondern sich nur verlagert hat (so zumindest versichert es uns Mythenmetz).
Mit dem Prädikat „Mythenmetz’sche Ausschweifungen“ tarnt Moers bodenlose Langeweile – nichts erinnert an den Kitzel des Bizarren, der jede Ausschweifung zur willkommenen Abwechslung machte. Und als die Handlung schließlich Fahrt aufnimmt, endet der Roman. Einen Blick in das sagenumwobene und titelgebende Labyrinth der träumenden Bücher zu werfen, ist dem Leser nicht vergönnt.

Erst das Nachwort des Autors vermag es, dem ungläubigen Leser und Liebhaber des zamonischen Universums eine Erklärung für die Enttäuschung zu präsentieren: der vorliegende Roman wurde laut Moers publiziert, weil er vertraglich dazu verpflichtet war, eine Frist einzuhalten. Das erklärt so einiges: Das Labyrinth der träumenden Bücher ist keinesfalls ein fertiges Buch, allenfalls eine kürzungswürdige Ouvertüre zu einem größeren Roman. Der zweite Teil ist, laut Autor, in Arbeit, was das Kopfschütteln über das ausgefeilte Marketing für den Roman im Voraus nur noch vehementer ausfallen lässt. Nirgendwo verrät uns der Verlag, dass wir einen „Teil 1“ eines unvollendeten Werkes lesen; und entgegen der Klappentext-Ankündigung könnte kein Buch ungefährlicher sein.
Und so bleibt dem Leser nur das altbekannte Flehen: liebe Verlage, lasst euren Autoren Luft zum Atmen und Zeit zum Schreiben. Und – lieber Herr Moers: wir warten gerne länger. Zeigen Sie uns den Weg ins Labyrinth der träumenden Bücher!

Nach Windwirs Fall herrscht Misstrauen unter den Völkern der Benannten Lande, und Rudolfo, der Zigeunerkönig, hat sich in seine Waldresidenz zurückgezogen und leitet den Neuaufbau der Bibliothek. Als unerkannte Attentäter zur Feier seines neugeborenen Sohnes ein Blutbad unter den Gästen anrichten, kommt er unbeschadet davon, und der Samen der Zwietracht ist gesät: hat der Zigeunerkönig etwas mit den Anschlägen zu tun? Doch während sich Rudolfo auf die Suche nach Wahrheit begibt, antwortet eine unbekannte Macht auf die Zerstrittenheit der Völker, und ihre Antwort ist: Krieg.

– Der Sonnenaufgang über den Mahlenden Ödlanden war von schrecklicher Herrlichkeit. –
Vorspiel

Es ist kein Zeichen überbordender Kreativität, einer Rezension den Titel des zu rezensierenden Romans zu verleihen. Doch da „Lobgesang auf Lobgesang“ noch unbeholfener tönt, möchte ich es bei der Einfachnennung belassen. Was also ist so gut am zweiten Band des Zyklus Die Legende von Isaak von Ken Scholes, dass ich hier einen weiteren Lobgesang anstimmen möchte?

Die Geschichte beginnt einige Monate nach der Verheerung Windwirs. Die Protagonisten sind über die Benannten Lande verstreut und versuchen noch immer, die Rätsel um die Zerstörung der einst so prächtigen Stadt zu lösen und die daraus resultierenden diplomatischen Verwicklungen zu entwirren. Besonders durch die Augen von Neb, Rudolfo und Vlad Li Tam entdeckt der Leser immer mehr von der Welt; die Mahlenden Ödlande werden durchlaufen und das Smaragdmeer durchschifft. Für jedes vermeintlich gelöste Rätsel werden jedoch zehn neue Frage aufgeworfen, und bald erschüttert Verrat und Krieg die Bewohner der Benannten Lande und die Leser des Romans.

Tatsächlich kann Lobgesang (Canticle) als ein Roman über Verrat, über Krieg, und über Verantwortung gelesen werden – und als Roman über Familie. Die zwischenmenschliche, familiäre Beziehung ist ein zentraler Handlungsmotor: während Winters jegliche Bezugsperson zu verlieren scheint, muss Vlad Li Tam erkennen, dass Blut zwar dicker als Wasser ist, aber dennoch vergossen werden kann.
Unkonventionell finde ich die Entscheidung, einen Protagonisten im inneren Konflikt zwischen Vaterschaft und Pflichtbewusstsein zu skizzieren. Äußerst feinfühlig schildert Scholes die wachsende emotionale Bindung eines Vaters an sein Neugeborenes, ohne in blinden Kitsch abzudriften. Die Sorge um das „Greater Good“ wird mit einem Male zum Kampf um ein einzelnes Leben. Doch bevor der actiongewohnte Fantasyfan aufstöhnt, sei ihm versichert: noch immer ist Rudolfo Staatsmann, und wer glaubte, die Intrigen der Familie Li Tam mit dem Ende des ersten Bandes durchschaut zu haben, wird enttäuscht werden. Noch feiner wird das Netz aus Täuschung, noch tiefgreifender der Verrat und deutlich blutiger die Auseinandersetzungen. Lobgesang ist kein schmachtendes Familiendrama, sondern ein spannender Fantasyroman und Scholes ein Autor, der sich der Herausforderung einer komplexen Charakterentwicklung annimmt.
Das Motiv des innerlichen Zwiespalts, des inneren Kampfes, zieht sich wie ein roter Faden durch die Charakterzeichnung. Winters ist nicht nur ein verliebtes junges Mädchen auf der Suche nach menschlicher Geborgenheit, sondern auch Kriegerin und Herrscherin eines Volkes, welches ungeahnt eine ganz andere Rolle spielt, als sie es sich hatte vorstellen können. Jin Li Tam hingegen hat genug von der häuslichen Wärme und stürzt sich, den eigenen Sohn im Arm haltend, in die Schlacht. Nur Petronus steuert ohne Zaudern auf ein Ziel zu; doch die gefürchtete und gleichzeitig herbeigesehnte Abrechnung ereilt ihn anders, als geplant.

Besonders diese Ambivalenz der Figuren und die sorgfältig und glaubhaft gezeichneten inneren Konflikte der Charaktere fesseln den Leser an die Seiten; ihre Schicksale vermögen zu Tränen der Freude oder der Trauer zu rühren. Jahrelanger Fantasygenuss härtet zwar ab, die Geschichte um die Familie Li Tam jedoch schockiert und führt den Leser die Abgründe menschlichen Handelns vor Augen.
Doch nicht nur menschliches Handeln bestimmt den Fortgang der Geschichte: immer mehr wird deutlich, dass die dampfbetriebenen Mechoservitoren nicht die passiven, programmausführenden Wissenscontainer sind, für die man sie gern halten würde. Und während alle dem Wissen der verlorenen Stadt Windwir auf der Spur sind, erwächst im karmesinroten Schatten des Sumpfvolkes eine uralte Bedrohung zu grausamer Stärke, und die Bundraben rufen es von den Dächern: Blutmagie …

Gewohnt sprachlich brillant und äußerst stimmig übersetzt erzählt Scholes seine facettenreiche Geschichte, die man als Leser atemlos, Seite um Seite verschlingt. Handlungsfäden treiben auseinander, überkreuzen sich und finden in grausamer Vorahnung wieder zusammen. Nie verliert der Autor einen Faden, und am Ende erkennt der Leser ein Muster, welches auf das Äußerste gespannt auf den dritten Band warten lässt. Und so langsam dämmert es dem Leser, dass Scholes etwas ganz und gar außergewöhnliches geschrieben hat: einen Lobgesang in Moll.

Durch einen atomaren Angriff wurde die Menschheit beinahe vollständig vernichtet. Die Überlebenden rotten sich zusammen und veranstalten eine blutige Hetzjagd auf die verbleibenden Wissenschaftler, in denen sie die Schuldigen für die atomare Katastrophe sehen.
Viele Jahrhunderte später findet ein junger Novize des Leibowitz-Ordens – benannt nach Isaac Leibowitz, einem längst verstorbenen Elektroingenieur – in einem ehemaligen Schutzbunker Aufzeichnungen und Blaupausen des verehrten Mannes. Die Entschlüsselung der wissenschaftlichen Schriften beginnt, doch nicht nur die Kirche hat an dem mühselig und langsam wiedererlangten Wissen Interesse.

Wir haben eure verdammten blutigen Beile und eure Hiroshimas.
– Wir marschieren gegen die Hölle, wir –
Atrophie, Entropie und Proteus vulgaris,
erzählen Zoten über ein Bauernmädchen namens Eva
und einen Handlungsreisenden namens Luzifer.
Wir begraben eure Toten und ihre Reputation.
Wir begraben euch. Wir sind die Jahrhunderte. –
Fiat voluntas tua, S. 312

Wir schreiben das 26. Jahrhundert, und der Novize Bruder Francis erkundet mit kindlich-naivem Staunen eine nach dem Atomschlag wüste Welt. Der Akt der Zerstörung selbst liegt im Dunklen und gleicht eher einem vagen Mystizismus mit seinen Teufels- und Spukgestalten. Erlebbar sind nur die Folgen: die Verwüstung der Welt und die systematische Ausradierung des Intellekts. Was übrig blieb – Blaupausen, Schaltpläne, Einkaufszettel –, bewahren die Mönche des Leibowitz-Ordens in stiller Ehrfurcht auf, und der Leser verfolgt mit einem Lächeln die Anbetung dessen, was im 21. Jahrhundert Gegenstand profaner Normalität ist. Doch das 26. Jahrhundert ist ein Zeitalter der Leere, die auch in der Semantik um sich greift: der Niederschlag wird als Gestalt des Teufels gefürchtet, die in Gruben und dunklen Winkeln lauert, und ein Schaltkreis als geheimnisvoller Schöpfungsplan bewahrt.

Das Staunen Bruder Francis’ wird zum Inbegriff der Unschuld, und löblich-unschuldig scheint auch die Sammlung und Bewahrung der Wissensfragmente. Doch was als Abenteuer, als Renaissance beginnt, was einem Neuanfang gleicht, entpuppt sich bald als zwingende Fortführung des menschlich-zivilisatorischen Kreislaufes, denn das Licht der Aufklärung und der Vernunft scheint nie alle Winkel des menschlichen Hirn- und Seelenkastens zu erhellen – und so muss sich die Heiligkeit des Wissens einmal mehr messen mit der Zerstörungskraft des Menschen.

Wir schreiben das Jahr 3174, die Jahre der Unschuld hat es nie gegeben. In den Mauern des Klosters des Heiligen Leibowitz widmet man sich weiterhin dem Studium des Halbwissens, und Miller jr. feilt weiterhin an seinen Geschichten-in-den-Geschichten, an den Figuren, die wie Wunder erscheinen und deren Entschlüsslung die hohe Kunstfertigkeit des Autors im Andeutungen und Ahnungen Säen betont. Grundwissen in der Bibelkunde und aufgefrischtes Kirchenlatein sind dabei von hohem Nutzen; denn erst mit der Erkenntnis um die dichte Intertextualität des Romans und die mannigfaltigen Deutungsebenen verkehrt sich das Gefühl der Ratlosigkeit in die Erkenntnis, einen Roman von inhaltlichem wie handwerklichem Genie zu lesen.

Die wichtigste Kraft des Romans ist jedoch sein Witz. Situationskomik, altlateinische Kalauer und zutiefst bissige Dialoge: sie treffen zusammen im anzüglich-satirischen Lächeln der St.-Leibowitz-Statue, welche die Zeiten und Äbte im Klosterkeller überdauert und erst von Abt Zerchi, dem letzten in einer langen Reihe, in den Zeiten allgegenwärtiger Angst vor der erneuten Zerstörung wieder an ihrem angestammten Platz als Heiligenstatue aufgestellt wird. Das hölzerne Antlitz lächelt im tiefen Wissen um einen Witz, den nur die Statue selbst zu verstehen scheint. Doch es schadet nie, sich von einem Lachen anstecken zu lassen.

Tatsächlich ist es nur Millers Humor, der die Hoffnung erweckt, dass der durch den Menschen in einen Kreislauf der Zerstörung transformierte Kreislauf des Lebens einer aufwärts gerichteten Spirale gleicht. Seine anderen zentralen Themen lassen wenig Mut zur Hoffnung zu. Im zweiten Teil des Buches – Fiat Lux, „Es werde Licht“ – treibt ein im Kellergewölbe von fünf Novizen angetriebener Dynamo einen tiefen Keil zwischen die weltliche und geistliche Wissenskultur. Das Gerät ist eine außerordentliche technische Errungenschaft, erbaut von einem ahnungslosen, aber experimentierfreudigen Klosterbruder und bringt sprichwörtliches und messbares Licht ins Dunkle. In diesem Licht jedoch nehmen Parteien Gestalt an, die vorher nur als grobe Schemen erahnbar waren: Kirche gegen Staat, Wissenschaft gegen Glaube, … – die Liste der Zerwürfnisse ist, bei Lichte betrachtet, endlos. Mit dieser biblischen Erhellung des klösterlichen Kellergewölbes durch einen Dynamo ahnt der Leser, dass die zivilisatorische Dunkelheit nur kurz erhellt wurde, um sich dann wieder in Grabesschwärze zu wandeln.

Miller jr. portraitiert mit sprachlicher und gedanklicher Präzision das wohl größte Verbrechen der Menschheit: die Erhebung der Amoral zur zivilisatorischen Unabwendbarkeit. In seinem Roman sind es nicht nur die Tyrannen und Diktatoren, die sich der Bürde der Verantwortung entledigen, sondern es sind Menschen, die sich als ‘Simpel’ bezeichnen, bevor sie diejenigen steinigen, die der Menschheit das brachten, was wir Zivilisation nennen. Die Negierung der Verantwortung ist ein zentrales Thema in Lobgesang auf Leibowitz (A Canticle for Leibowitz ): wer keine Fehler sieht, sondern an derer statt das Konzept des Unvermeidbaren erfindet, kann nichts lernen, kann dem endlosen Kreislauf nicht entfliehen.
Doch wird nicht das vermeintlich Unausweichliche, wenn vom Menschen begriffen, zum Abwendbaren? Denn, und auch dies wird in Millers Roman deutlich: es existiert kein naturgegebener Kreislauf der Zerstörung, der eine Wiedergeburt ad absurdum führt, sondern ausschließlich ein vom Menschen erdachter. An des Kreislaufs Anfang steht eine Idee, am Ende die Bombe, und alles, was danach kommt, ist nur ein müdes Spiegelbild dieser einfachen Gleichung: homo homini lupus.

Wir schreiben das Jahr 3781. Noch immer sind es die Mitglieder der Abtei des heiligen Leibowitz’, die sich der Empfindung widmen, die nicht nur im Roman mitleidig belächelt wird: der Hoffnung. Und Zuversicht benötigen sie, denn sie sind es, die mit ihrer Sammlung und Bewahrung des noch verfügbaren Wissens den Weg für den Fortschritt ebnen. Es scheint ihnen unmöglich, dass der Mensch das wiederholt, was ihn einst beinah vom Antlitz seines Planeten tilgte. Doch Miller jr. ist kein Moralapostel; welche Moral sollte es auch geben, nachdem der Mensch sich einmal selbst vernichtete und, kaum, dass die Zivilisation ihr Krankenbett verlässt, zum zweiten Schlag ausholt? Der Autor entwirft vielmehr das Bild einer Zeit, in der „Gerechtigkeit“ eine zutiefst subjektive Größe ist, und stellt eine verstörende und wichtige Frage: was ist wichtiger – Menschheit oder Menschlichkeit?

Lobgesang auf Leibowitz ist ein Rätsel- und Meisterwerk, eine Vertextlichung des ewig Menschlichen, Ausdruck von Angst und Resignation. Der Leser wird keine erbaulichen, hoffnungsvollen Botschaften, eingebettet in tröstlich-antikes Kirchenlatein finden, sondern einen schonungslosen Blick in eine Zukunft, die sich als denk-, und somit zerstörbar erweist. Mit seiner Hellsichtigkeit und seinem scharfsinnigen Humor wäre dieser Roman die schärfste Waffe in einem Kampf, der hoffentlich immer literarische Fiktion bleiben wird. Fiat Voluntas Tua.

The Long War von Terry Prachtett und Stephen BaxterDas Amerika der Heimaterde will seine Macht über die Reihe der unendlichen Parallelwelten ausdehnen, und gleichzeitig verpassen Siedler, Forscher und Reisende den Erden ihren menschlichen Fussabdruck. Dann sorgt eine Meldung im Outernet für Schlagzeilen: Forscher misshandeln vor laufender Kamera einen Troll – und dies ist nur ein Beispiel für die sich ausbreitende Gewalt gegen die humanoiden Long-Earth-Bewohner. Zeit für Joshua und Sally, etwas zu unternehmen …

Sally Linsay arrived at Hell-Knows-Where fast and furious. But when had that ever been unusual?
– Kapitel 2

Der erste Teil der The Long Earth-Reihe von Terry Pratchett und Stephen Baxter weckte große Erwartungen: Unendliche Welten, neue Gesellschaftsformen, Entdeckungen unvorstellbarer Evolutionsscherze – es hätte alles so schön sein können. Mit The Long War jedoch beweisen die Autoren, dass auch The Long Ideas nicht ausreichen, um eine gute Geschichte zu erzählen.

Die Handlung setzt Jahre nach Joshuas und Lobsangs erster Reisen durch die Paralleluniversen ein. Joshua ist nun Familienvater, der sich häuslich in Reboot niedergelassen hat, während die amerikanische Regierung alles daran setzt, um die unendlichen, parallel-amerikanischen Weiten der Universen zu beherrschen – um sie zu besteuern. Was als Parodie brauchbar klingt, taugt wenig als Grundgedanke, aus dem sich ein bedrohlicher, interterrestrischer Krieg entwickeln soll. Voller Spannung erwartet der Leser die Wunderwaffe der Regierung, doch Raumpatrouillen in (immerhin verkabelten) Zeppelinen, die auf einer unendlichen Reihe von Welten unter Steuersündern für Ordnung sorgen sollen – dieser War, so ahnt man schon, wird nicht sehr Long. Zur Spannung kann auch die weltenumfassende Black Cooperation nichts beitragen, die mit ihrer Monopolstellung im Bereich der Technikentwicklung so normal-megalomanisch-bedrohlich wirkt wie jede Monopolfirma unserer Heimaterde.

Die Figuren haben der fehlenden Spannung nur wenig entgegenzusetzen. Helen, das Hausmütterchen, und Sally, die männerhassende Furie, sind ebenso innovativ wie der verbissene Cop in Rente oder der unsozialisierte Weltraumnerd. Doch während diese zumindest Altbewährtes bieten, streiten sich bei Joshua Blässe und Widersprüchlichkeit um die Oberhand bei der Charakterskizzierung, und selbst eindeutig Pratchetteske Figuren wie die fluchende Biker-Ordensschwester Agnes haben eher den Charakter eines müden Scherzes. Interessant bliebe höchstens Lobsang, der mit seiner Entwicklung zum Deus Ex Machina jedoch auch sein Potential an sich vorüberziehen sieht.

Bleibt der Konflikt zwischen Mensch und Troll, der zweifelsohne Stoff für ethisch höchst interessante Geschichten liefern könnte. Doch bei der Lösung des Konfliktes verhält es sich ähnlich wie mit der literarischen Bevölkerung der Langen Erden: die Ideen pendeln zwischen „absurd-bizarr“ und schlicht „unlogisch“, und was gibt es ermüdenderes als uninspirierte Skurrilität? Das Sujet der Erforschung, Erkundung und Eroberung neuer Welten wurde selten so longwierig (Verzeihung) beschrieben.

Zuletzt liest sich der Roman auch noch wie das wütende Atheismus-Plädoyer eines Sechsjährigen, dessen Pausenbrot von Franziskus-Josef geklaut wurde. Umweltverschmutzung, Gewalt, Entfremdung und das scheußliche Wetter auf Erde 25623: die (westlichen) Religionen sind Schuld. Gott sei Dank (Verzeihung die 2.) wartet der Roman mit der konturlosen Figur des ehemaligen Priester Nelsons auf, der mit Lobsang kurzzeitig auf dem Pfad der wissenschaftlichen Erleuchtung wandelt, um sich dann auf dem Rücken eines gigantischen Wirtstieres, das im Ozean einer weit entfernten Erde schwimmt und auch parasitär lebenden, aber hübschen, blumenbehangenen Inselschönheiten Platz bietet, befreiendem Sex hinzugeben, mit dem er die Fesseln seiner religiösen Indoktrinierung endlich zu sprengen vermag.

Hey, ich habe mir das nicht ausgedacht.

Es ist bedauerlich, dass sich die Autoren der spannenden Frage – wie entwickelt sich Religion in Zeiten der unbegrenzten „Schöpfung“ – über Plattitüden und Schuldzuweisungen nähern, die aus dem Nichts kommen und ebenso schnell wieder vergessen sind. Mit ihrem Roman lassen Baxter und Pratchett Gläubige in einem schlechten Licht dastehen – und Nichtgläubige im Licht eines kaputten Nebelscheinwerfers.

Schließlich macht das gleiche, was die Eroberer der unendlichen neuen Welten plagt, auch dem Roman zu schaffen: Ziellosigkeit, gepaart mit der subtilen Langeweile des „Ich fahre in die weite Ferne, aber irgendwie sieht es überall gleich aus“-Effekts, der einen auch leicht auf der Zugfahrt von Dresden nach Berlin befällt. The Long War gleicht somit eher einer Reise durch Brandenburg – wobei, dort gibt es immerhin Wölfe.

Picknick am WegesrandUngesehen und unerkannt haben außerirdische Wesen die Erde besucht; Zeugnis dafür sind sechs Gebiete auf der Erde, die durch ihren Besuch gezeichnet sind: fremdartige Gegenstände ohne erfassbaren Sinn liegen wie vergessene Abfälle über den Zonen verstreut. Während die Wissenschaft die Zonen und ihre Artefakte systematisch untersucht, versuchen illegale Schatzgräber, dem Gebiet seine geheimnisvollen Gebilde zu entreißen und auf dem Schwarzmarkt zu verkaufen. Eine Zone liegt in der Stadt Harmont, und der Schatzgräber Roderic Schuchart scheut weder Gefängnisstrafen, noch die bewaffneten Patrouillen, noch die Gefahren einer Schatzjagd, wenn es darum geht, sich seine (finanzielle) Unabhängigkeit zu bewahren. Erst als seine Tochter, gezeichnet von genetischer Mutation, zur Welt kommt, ist Schuchart gezwungen, sein Handeln in Frage zu stellen.

Der Mensch ist zum Denken geboren.
– Letztes Kapitel

Fernab von maschinenzentrierten Fortschrittsutopien konzentriert sich der Roman Picknick am Wegesrand (Piknik na obotschinje) der Strugatzki-Brüder auf den Kern einer jeden Entwicklung: den Wunsch des Menschen, Unbekanntes zu verstehen und die Fähigkeit, die Realität an die eigenen Vorstellungen anzupassen, wenn nichts verstanden werden kann.
Die Bewohner der Stadt Harmont stehen schon bald völlig unter dem Bann dessen, was sie nicht verstehen. Roderic Schuchart ist einer von ihnen: er kennt die Regeln der Zone besser als jeder andere Schatzgräber, auch wenn er sie ebenso wenig wie alle anderen erklären kann. Die Artefakte der Zone sind primär eine Geld-, keine Erkenntnisquelle. Der Versuch, durch die Benennung der Artefakte dem Nichtweltlichen den Stempel der Menschheit aufzudrücken, kann als hilfloser Ersatz für Verständnis gedeutet werden. Fliegenklatsche, Hexensülze, Nullen – naive Übersetzungen des Unbegreiflichen in ein irdisches Vokabular. Der Benennungswahn findet seinen unheilvollen Höhepunkt im Kosenamen der Tochter Schucharts, der genau wie die zuvor genannten Begriffe nur das beschreibt, was der Mensch sehen kann – und in seiner grausamen Hilflosigkeit zeigt, dass der Mensch durch seine Unwissenheit zum blinden Weitermachen verdammt zu sein scheint.

Die Sucht nach Erkenntnis ist allen zu eigen, die sich mit den Geschehnissen in der Zone befassen – doch auf die dringlichste Frage für viele, was der Grund für den Besuch war, liefert ein alternder Physiker eine für seine Zuhörer nur unbefriedigende Antwort: vielleicht war es nur Unachtsamkeit, gepaart mit völliger Gleichgültigkeit für die Erde und ihre Bewohner. Keine versuchte Kontaktaufnahme, keine Begegnung, keine Wiederkehr der außerirdischen Besucher: es ist, als ob die Menschheit einfach nicht interessant genug war.

Doch während sich die Menschen im Kreis drehen in ihrer Suche nach Wissen, finden einige Gegenstände ihren Nutzen im Alltag. Attacks werden als Autoanlasser genutzt, Schwarze Splitter als exklusiver Schmuck um den Hals getragen. Auch von einem Nutzen der Artefakte für das Militär oder für die Wissenschaft ist die Rede; dieser Wunsch jedoch erscheint utopisch. Greifbarer sind ganz andere Erscheinungen, die in Erzählungen durch die Stadt spuken: Tote, die wieder auferstehen, der Vagabund Dick, die lustigen Gespenster; und nicht zuletzt die Goldene Kugel, jenes Artefakt, welches dem Finder alle Wünsche erfüllen soll. Hoffnung und Schrecken liegen nah beieinander, wenn es um die Zone geht, und das Grauen überkommt den Leser auf leisen Sohlen.
Krankheiten, genetische Mutationen und unheilbare Verletzungen sind die greifbaren Folgen des Besuchs. Deutlich subtiler ist die Veränderung des Geistes: der Alltag der Bewohner Harmonts ist geprägt von Rücksichtslosigkeit und beiläufiger Gewaltbereitschaft, von der Angst, verraten zu werden und von der Versuchung, andere zu verraten. Roderic Schuchart strebt nach Reichtum, nach Sicherheit, nach Frieden, doch sein Streben artet in eine umfassende Selbstentfremdung aus. Es ist die große Stärke dieses beklemmenden, außerordentlichen Romans, dass er den Menschen versteht, der seinerseits nicht einmal mehr sich selbst zu begreifen vermag. Schucharts Suche nach der Goldenen Kugel gibt seiner Hoffnung Ausdruck, mehr zu sein als ein bloßes Tier, auch wenn er nichts menschliches mehr in sich entdecken kann. Der Leser erfährt nur bruchstückhaft die Fährnisse des Lebens nach dem Besuch, doch mit jeder weiteren Seite wird deutlich: die wahre Unmenschlichkeit versteckt sich nicht in der Zone, sondern in dem Wesen des Menschen selbst.

Der Kindgott Si’eh schließt mit den sterblichen Geschwistern Shahar und Dekarta einen Pakt: sie wollen auf ewig Freunde sein. Nach dem Blutschwur ist jedoch nichts, wie es vorher war: Si’eh verfällt in einen langen Schlaf, und als er erwacht, ist er ein Sterblicher, und auch das Reich der Amn sieht sich mit neuartigen Gefahren konfrontiert. Wird der Schwur der drei Bestand haben, um die Zerstörung der Welt aufzuhalten?

– Ein Liebhaber war noch nie genug für einen von uns”, sagte Itempas und lächelte traurig, als ob er wüsste, wie wenig er ihres Verlangens würdig war. –
Kapitel 1, S. 14

Gute Nachrichten für alle Hippies unter uns: Jemisins Elysium ist ein Ort der freien Liebe. Götter im Bett mit Menschen, flotte Dreier, wechselnde Geschlechter je nach Tagesvorliebe, Inzest, Hass als Grundlage für Sex, Liebe als Grundlage für Sex, Väter mit ihren Kindern, Mütter mit ihren Kindern, Frauen mit Katzen, kurz: jeder mit jedem, und da all das noch nicht genug ist, ist der Protagonist ein pubertierender Gott. Der Kindgott Si’eh, der mit dem Erwachsenwerden und seinem Penis konfrontiert wird, und in seiner freien Zeit schmollt oder durch den Palast erigiert, bestätigt eine alte Wahrheit: den Wirrungen der Jugend zuzusehen macht in den seltesten Fällen Spaß.
Der noble Vorsatz, vorurteils- und wertungsfrei für sexuelle Selbstbestimmung einzutreten, muss der Autorin zugute gehalten werden. Gleichzeitig ist das zentrale Thema des Romans auch seine größte Schwäche: erscheint die gnadenlose Übersexualisierung jeder menschlichen Beziehung, Handlung, Geste und Äußerung am Anfang noch verrucht und gewagt, verkommen die erotischen Ausflüge, in denen zwangsläufig alle Begegnungen enden, durch die ständige Repetition des Schema F zur langweilenden Effekt- und Orgasmushascherei. Eine inhaltliche Auseinandersetzung fehlt völlig, sodass jegliches kritisches, gesellschaftlich relevantes Potential ungenutzt bleibt. Von Jemisin, die sich selbst als „politische Kommentatorin“ bezeichnet, hätte ich mir mehr erwartet.

Der Gegensatz von Liebe und Hass, ein weiteres Grundmotiv des Romans, verkommt ebenfalls zur Plattitüde, da die beiden Gefühle in der Welt von Si’eh & Co. auf das selbe hinauslaufen, und der findige Leser wird schnell erraten, worauf genau. Richtig. Tatsächlich endet oder beginnt beinah jede Szene mit einem Geschlechtsakt, sodass dem Leser nichts anderes übrig bleibt, als sich mit hintergründigen Fragen die Zeit zu vertreiben: fallen sie vor oder nach dem bedeutungsschwangeren Dialog über die Geschicke der Welt übereinander her? Und – wird Si’eh den Akt wieder mit einer pubertären Peinlichkeit ausklingen lassen?

Das Potential der unheimlich interessanten und ambivalenten Figur des Kindgottes nutzt die Autorin in dem dritten Band ihrer Reihe leider nicht aus; zu schnell spult sich auch hier ein Schema ab: entweder Si’eh spielt, oder er tötet. Nachdem dieses Muster einmal präsentiert wurde, bleibt kein Raum für Überraschungen. Wut und Albernheiten wechseln sich ab wie Wolken und Sonne, ernste Szenen werden zwanghaft durchbrochen, und die mangelnde Reife des Protagonisten manifestiert sich mehr als deutlich auf sprachlicher Ebene, die in der deutschen Übersetzung nicht nur nervig-albern, sondern schlicht haarsträubend ist. Jede Andeutung von Atmosphäre wird durch eine sprachliche Unbeholfenheit und Ausdruckssprofanität ins Lächerliche gezogen, grammatische Stolpersteine reihen sich an völlig fehlplatzierte Anglizismen. Die Debatte um die Übersetzung von Eigennamen mag ihre Berechtigung haben, doch wenn ein in Sorge befindlicher Bürger „Bright Vater, hilf uns!“ [sic! S.464] schreit, dann ist klar, dass dem Leser in diesem Roman vieles geboten werden soll – Niveau jedoch nicht. Das wäre kein Problem, wenn unser aller Verstand da sitzen würde, wo Si’ehs Lebens- und Körpermittelpunkt ist, doch der denkende Leser kann nicht anders, als an der Ernsthaftigkeit zu zweifeln, mit der der Verlag seine Leser betrachtet.

Die Autorin bemüht sich durchaus, Spannung aufzubauen und die Handlung voranzutreiben, doch dabei offenbart sich leider die letzte Schwäche des Romans. Durch die bereits angesprochene Sprachprofanität und durch eine das Werk wie ein roter Faden durchziehende Unglaubwürdigkeit der Figuren wird jegliche Spannung genommen. Liebe und Hass, die inflationär als Handlungsmotoren eingesetzt werden, verkommen zu sinnentleerten Begriffen, die alles rechtfertigen: Verrat, Sex, Folter, Krieg, Besitzansprüche. Das Pendel, das zwischen Kitsch und Endzeitstimmung schwingt, verharrt schließlich im rosaroten Bereich, und beinah möchte man rufen: Bright Vater, erlöse uns!

Nach einem herausragenden Auftakt der Reihe mit dem Erstling Die Erbin der Welt (The Hundred Thousand Kingdoms), einem bereits nachlassenden zweiten Band Die Gefährtin des Lichts (The Broken Kingdoms) und diesem enttäuschenden Abschlussband kann man nur empfehlen, Die Erbin der Welt als sprachlich und inhaltlich außergewöhnlichen Einzelband zu lesen, in dem die Magie von Jemisins geschaffener Welt noch ungemindert den Leser zu verzaubern weiß.

Die Stadt des blauen FeuersIn Darujistan und in Schwarz-Korall scheint, nachdem der offene Krieg vorbei ist, langsam Ruhe in die Straßen einzukehren. Jedoch nicht in das Herz ihrer Bewohner: während sich Seesoldaten einer neuen Bedrohung ausgesetzt sehen und Crokus auf der Suche nach seinem alten Leben nur Scherben findet, formiert sich in Schwarz-Korall ein Widerstand gegen die herrschenden Tiste Andii. Und was hat es eigentlich mit dem Erlöserkult auf sich …?

– Ruhm und böse Omen, freudiges Wiedersehen und schreckliche, drohende Gefahr, ein geflügeltes Dies und ein geflügeltes Das, … was für eine Nacht!
Was für eine Nacht! –
Kapitel 3

Nach all der großflächigen, unbegreiflichen Kriegsgewalt der vergangenen Bände, nach der Pannionischen Domäne, nach den Auseinandersetzungen in Letheras folgt mit Die Stadt des blauen Feuers (Toll the Hounds, 1. Teil) ein neuer Band der Reihe, der leisere Töne anschlägt. Es ist nicht mehr das Geräusch zehntausend marschierender Soldaten, sondern das Weinen in der Dunkelheit, das leise Gerede in beinah leeren Gasthäusern, die geflüsterten Drohungen, die den Takt des Buches angeben. Das menschenverachtende Schlachtgewühl weicht dem inneren Krieg, den Schuldgefühlen, den schlaflosen Nächten. „Im Krieg lag Trauma“ – diese Lektion, diese Quintessenz des Romans, müssen sowohl Figuren als auch Leser kompromisslos und schmerzhaft lernen.

Nach der Unmenschlichkeit des Krieges wendet sich Erikson also den nicht weniger bedrückenden Menschlichkeiten zu. Einem Kammerspiel gleich konzentriert sich die Handlung auf die Städte Darujistan und Schwarz-Korall und ihre Bewohner und Besucher. Die Akteure der großen Kriege sind weitläufig verstreut, doch das Leben pulsiert in beiden Städten, die zu Orten großer Konvergenzen werden. Sehr schnell wird deutlich, dass Erikson mit diesem Roman ein anderes Tempo einschlägt als mit den Vorgängerbänden; bis sich die inneren Konflikte der Figuren in äußere umwandeln, vergeht mehr als die Hälfte des Buches – und darin liegt sein großer Gewinn. Erikson lotet seine Figuren mit einer psychologischen Feinfühligkeit und Tiefe aus, die auf eindimensionale Erklärungsversuche verzichtet und den Leser mit der Aufgabe betraut, sich auf Leid, Wut und Kriegs- und Lebensmüdigkeit seiner Figuren einzulassen. Erst dann wird der Roman seine Wirkung entfalten, die, das möchte man nicht bestreiten, keine beruhigende oder wohlige ist. Nicht nur die Wandlung von Crokus zu Schlitzer, auch das, was von Duikers Seele noch übrig ist, wird erst in diesem Band in nötiger Ruhe und mit eindringlichem Blick zur Sprache gebracht. Und so erfährt der Leser, sofern er gewillt ist, den Gedanken zu folgen, weit mehr über den Menschen, als jede Bequemlichkeitszone es zulässt und als es ein anderes modernes phantastisches Werk zu erzählen vermag.

Nicht nur strukturell – mit direkter Leseransprache, beinah filmischen Szenenwechseln und kammerspielartigen Erzählweisen –, auch thematisch schlägt der Autor Wege ein, die in den Vorgängerbänden weniger präsent waren: Liebe, Eifersucht, höfisches Intrigenspiel, Existenzängste eines Stadtbürgers; es sind weniger die Kriege von Göttern, sondern die Kleinkriege in Hinterhöfen und Himmelbetten, die die Grundfesten des Lesers erschüttern. Und wie immer ist es der gewagte Balanceakt zwischen Schmerz und Humor, Schönheit und Zerbrechen, den Erikson mal bildgewaltig, mal leise und hintergründig bewältigt. Ob nun mit den unglückseligen Schuldeneintreibern Flamm und Leff auf Patrouille, daheim bei Ehepaar Nom oder zu Besuch in Kruls Kneipe – Erikson beherrscht die Humorpalette von trocken-ironisch bis hin zum Klamauk natürlich auch in diesem Band. Wenn Kruppe über den Markt schlendert, bleibt keine Spezialität unangetastet, kein Weinkrug und kein Auge trocken.

Eriksons sprachliche Ausdruckskraft, die in der deutschen Übersetzung glänzt, kann sich in diesem Reigen menschlicher Tragödien genauso prachtvoll und schmerzlich entfalten wie auf der Bühne des Spieles der Götter. Die Betrachtung über das phantasievolle Spielen eines Kindes ist für mich eine der poetischsten Passagen der Reihe, und ein Beweis, wie kraftvoll Literatur sein kann – und dafür, dass es Fantasyautoren gibt, die neue Welten, Planeten, Universen erdichten können, die uns völlig fremd und dennoch schmerzlich lebensnah sind.

All dies verwebt Erikson zu einem Portrait einer Stadt, zu einer Studie ihrer Bewohner und zu einem tragischen Epos über Einsamkeit. Und wem das alles jetzt zu menschlich klang: keine Angst – die Götter schlafen nicht. Sie sterben nur. Und Kruppe tanzt dazu.
Sicher ahnt ihr, was das bedeutet.

Windwir liegt in Trümmern. Die Stadt, die einst die Geheimnisse einer hochtechnologisierten Gesellschaft hütete, ist dem Erdboden gleichgemacht. Im Zentrum der Zerstörung steht, als Überbleibsel einer nunmehr verlorenen Wissenskultur,  der Metallmann Isaak, in endloser Trauer gefangen. Doch schon bald nach dieser Katastrophe werden die Karten allerorts neu gemischt. Wer wird die Macht über die Benannten Lande an sich reißen? Doch je mehr Parteien das Spielfeld betreten, desto drängender wird die Frage, die sich jeder stellt, und deren Antwort alles verändern wird: wer zerstörte diese einst so stolze Stadt? Und – warum?

-Windwir ist eine Stadt aus Papier und Talaren und Stein.-
Vorspiel

Ken Scholes Roman begeistert sie alle: die Rätselwütigen, die Bibelfesten, die Freunde des Steampunks und die Liebhaber unvorhergesehener Wendungen. Tatsächlich ist die Geschichte vom Metallmann Isaak auf mehren Ebenen ein Fest, und es fordert den Leser zu etwas auf, wofür in vielen Fantasyromanen leider die Notwendigkeit verloren gegangen ist: interpretieren! Deuten! Denken! Wenn Isaak seinen Motor anwirft, um zu wandern, sollte man schnellstens sein Hirn anwerfen, damit man Schritt halten kann.
Dabei scheint am Anfang alles so einfach zu sein. Ein wahnsinniger Verbrecher stellt sich gegen den geckenhaften Guten, der – James Bond wäre neidisch – flugs Hilfe von der mysteriösen Schönen erhält. Doch die Figuren bleiben nicht lange in dieser Ausgangskonstellation verhaftet, denn im Laufe jeder Seite offenbaren sich neue Verschwörungen, neue Charakter(un)tiefen und neue Facetten eines Handlungsmosaiks, welches sowohl Leser als auch handelnde Figuren ungläubig staunen lässt. Die Nachvollziehbarkeit und Glaubwürdigkeit leidet glücklicherweise jedoch nicht darunter, im Gegenteil: die Zeiten, in denen Gut und Böse eindeutig in zwei Schubladen aufteilbar war, gab es ohnehin nie, auch wenn so mancher Autor das behauptet. Doch was die vermeintlich hehre Sorge um das ‘Greater Good’ so alles anrichten kann, wandelt sich von anfänglicher Euphorie – es wird ja nicht alle Tage ein wahnsinniger Verbrecher überführt – in blankes Grausen. Denn das Böse in Sündenfall (Lamentation) ist alles andere als plump und laut und eindeutig. Und wenn es einmal die Bühne betreten hat, dann kann man es nicht einmal so recht verteufeln, denn ohne Beweggründe ist in dem ganzen verzwickten Handlungsreigen wahrlich niemand.

Die Charaktere sind allenfalls graumeliert und bis zum Ende weder auf der lichten, noch auf der dunklen Seite zu verorten. Denn obwohl die mysteriöse Schöne – zugegebenermaßen – ziemlich mysteriös und wohl auch schön anzuschauen ist, ist sie noch viel mehr: eine unwissende Marionette, die irgendwann laufen lernt. Und damit ist sie dem Metallmann Isaak nicht so unähnlich. Doch auch der eitle Geck ist nicht ohne Grund der selbstsichere, geliebte Anführer geworden, und Herr Li Tam – aber nein, das würde zu weit führen.
Mit Isaak behauptet der Roboter seine Stellung als vielseitiges, literarisches Faszinosum; von der Gratwanderung zwischen Menschlichkeit und Maschinerie zu lesen, werde ich wirklich nie müde. Und mit der Feststellung, dass Isaak durch seine neu erworbene Fähigkeit zu lügen auch immer menschlicher wird, ist ziemlich viel über die Handlung und die Figuren von Sündenfall gesagt.

Doch, wie schon erwähnt, existiert neben dieser Handlungsebene noch eine zweite, wie es schon der Titel des Romans andeutet. Noch nicht oft habe ich als Fantasy-Leserin von meiner Bibelfestigkeit profitieren können, doch Scholes’ Roman lädt geradezu überschwänglich dazu ein.

Der Autor verflicht kunstvoll sein Religionskonzept mit den Geschichten, Organisationen und Traditionen des Christentums. Berücksichtigt man diese Parallelen, punktet Sündenfall mit einer erstaunlichen Realitätsnähe; und ist es nicht ein geradezu herrlicher Kunstgriff, die jahrhundertalte Tradition der intertextuellen Bezugnahme auf Bibeltexte in einem Fantasyroman weiterzuspinnen?

Ins Auge fällt dabei zuerst die Namensgebung: Isaak (dessen Doppelbelegung die Opferrolle des biblischen Namensvetters auf leicht abgewandelte, traurige Art aufgreift) und Petronus-Petros (in jeder Hinsicht der große Verleugner). Außerdem finden sich immer wieder wörtliche Bibelzitate, die erneut eine zweite Deutung zulassen. Wenn beispielsweise auf S. 340 “Neb barg all ihre Worte in seinem Herzen” steht, dann ist das schon eine erstaunliche Umkehr der Weihnachtsgeschichte, und ich bin wirklich gespannt, wie es mit Neb und seiner braunäugigen Schönheit weitergehen mag (Vielleicht gebiert ebendiese ja einen Sohn?). Doch auch die erwähnten Zahlenverhältnisse lassen tief blicken, die 2000-Jahre-Spanne ist da noch das eindeutigste.
Bei der ganzen Spielerei mit Zitaten, Motiven und Zahlen gelingt es Scholes dennoch, ein kritisches und differenziertes Bild seiner Religion zu zeichnen, ohne die christlichen Traditionen zu verteufeln oder zu verherrlichen. Den Bewohnern der Benannten Lande geht es ja nicht anders als uns: Religion ist Teil des Alltags, und wir müssen uns darum herum arrangieren, ob es uns passt, oder nicht.

Doch eine Rezension ohne Kritik ist wie ein Abendmahl ohne Wein, und deshalb möchte ich eine Frage in den Raum stellen: was denkt sich ein Autor, wenn er eine Figur „Xhum Y’Zir“ nennt? Es kann nur eine Verzweiflungstat aus Mitleid mit den letzten Buchstaben des Alphabets gewesen sein, doch dies würde leider nicht den Apostroph erklären. Tatsächlich hatte ich meine Probleme mit der Namensgebung: „Jin Li Tam“ neben „Rudolfo“ und „Isaak“ – allein diese drei Namen scheinen aus völlig unterschiedlichen Kultur- und Sprachkreisen zu stammen. Doch damit ist meine Kritik leider schon erschöpft.

Leser der Romane von Daniel Abraham werden übrigens ihre wahre Freude haben an der neuen Art des Sub-Textes, die Scholes in seinem Roman einbindet: die nonverbalen Sprachen durch schriftliche Kodierung und ‘Fingerdruck’, Pfeiftöne und Lieder. Sehr spannend, sehr fremdartig und ein guter Kunstgriff, um jeder Botschaft mehrere Meta-Botschaften beizufügen. Anfangs mag das System mangels einer Erläuterung noch sehr gewöhnungsbedürftig erscheinen, doch der Leser gewöhnt sich ja an alles, sodass es im Laufe des Romans zu einem weiteren Rätsel wird, welches geknackt werden kann. Und durch die rundum stimmige Übersetzung wird man derart an den Roman gefesselt, dass man das Buch nicht mehr zur Seite legen möchte, hat der goldene Vogel erst seine Schwingen ausgebreitet …

Übrigens gibt es hier ein spannendes Interview mit dem Autor.

Nachdem Hezhi, Prinzessin von Nhol, gemeinsam mit Perkar und dem Schamanen Brother Horse aus dem Einflussgebiet des Großen Flußgottes fliehen konnte und sich in Sicherheit wähnt, sammelt dieser gerade erst seine Kräfte: Ghe, von den Toten auferstanden und mehr Geist als Mensch, wird zur mächtigsten Waffe seines Herren.
Angesichts dieser Gefahr verbündet sich Hezhi mit dem Gott Karak, der Krähe, um den Flußgott für immer zu besiegen, und bald wird es unmöglich, zwischen Freund und Feind zu unterscheiden …

Wake up, my guest
You have slept long
In the house of my ribs,
The house of my heart
Wake up now,
See through my eyes,
Walk with my feet,
Yush, my old friend.-
XIX. Drum Battle

Waterborn Fans will be jubilant“, lautet das Versprechen auf der Rückseite des zweiten Romans der Chosen of the Changeling-Reihe, The Blackgod, in welchem uns Greg Keyes einmal mehr in die Welt eines alternativen Amerika entführt, wo indianische Nomaden und sesshafte Hirtenvölker neben orientalisch angehauchten Hochkulturen existieren. Es ist eine Welt, die von ursprünglicher Magie erfüllt und und wo jeder Baum, jeder Stein, jedes Lebewesen beseelt ist. Der Schamanismus und Mystizismus, der von den Naturvölkern praktiziert wird, steht deshalb im scharfen Gegensatz zu dem aggressiven und krankhaft-dekadenten Monotheismus der Stadt Nhol, und tatsächlich ist auch in The Blackgod die Anbetung des großen Flußgottes Ausgangspunkt aller Konflikte.

Der Fortsetzungsband The Blackgod schließt inhaltlich nahtlos an seinen Vorgänger an und rückt den Kampf von Hezhi und Perkar gegen den Flußgott in den Mittelpunkt, denn die Flucht Hezhis aus Nhol beendete keineswegs den kranken Einfluss des Flußgottes auf ihr Schicksal und das Schicksal ihres Volkes. Denn der Gott hat sich eine mächtige Waffe erschaffen: Ghe, schon zu Lebzeiten ein tödlicher Gegner, wird nach seiner Wiedererweckung durch den Fluß ein übermächtiger Feind, dessen Macht übermenschlich erscheint und einen hohen Tribut fordert – die Menschlichkeit selbst. Keyes schildert meisterhaft und bedrückend, wie der Ghul, weder Mensch noch Tier noch Gott, an physischer und magischer Stärke gewinnt und auf diesem Weg seine Menschlichkeit schleichend verliert. Die Entwicklung des einstigen Assassinen zeigt, wie mit anormaler, pervertierter Logik sämtliche Moralvorstellungen scheinbar außer Kraft gesetzt und durch Pflichterfüllung ersetzt werden können – danach finden alle Taten ihre Rechtfertigung, und es ist für den Leser keine bequeme Aufgabe, Ghe in seine Gedankenwelt zu folgen. Simple Kategorien wie „Gut“ oder „Böse“ wird man in The Blackgod nicht antreffen; denn auch die Jäger von Hezhi haben treffliche Gründe für ihr Handeln, Perkars Weg – der des Helden – ist mit Leichen übersät, und für die Götter existiert keine Moral, kein Gesetz, sondern die Notwendigkeit und das Gutdünken. Das Brechen mit den etablierten Vorstellungen von Gut und Böse ist eine der größten Stärken des Romans; dies macht The Blackgod nicht zu einer einfachen, aber mehr als lohnenswerten Lektüre.

Keyes beschränkt sich in seiner Charakterzeichnung jedoch keinesfalls nur auf das Ausloten (un)menschlicher Abgründe. Vielmehr entwickelt er mit Hezhi und Perkar zwei Protagonisten, die in ihrem Streben, das Richtige zu tun, unterschiedlicher nicht sein könnten. Da ist Hezhi, die ihrer Rolle der Prinzessin und den festgelegten Bahnen ihres Lebens komplett entfliehen möchte und sich nur in Momenten der tiefen Trostlosigkeit nach dem ihr vorherbestimmten Leben im Palast von Nhol zurücksehnt. Perkar hingegen ist ein Held: er lebt für das Schicksal, für das Erfüllen von Aufgaben und Questen, für schicksalsschwere Kämpfe und seine Ehre als Mann und Krieger. Eine Rolle also, wie sie scheinbar klischeebeladener nicht sein könnte – doch Keyes ironisiert den Heldenmythos derart, dass Perkars von Ehrgefühl geleiteten Taten, seine Schwüre und seine heroisch-verzweifelten Kämpfe immer eine tragisch-komische Saite zum Klingen bringen. Er ist in seiner Rolle derart determiniert, dass alle Regungen, all das Gerede von Schicksal und Ehre, das den fantasyerfahrenen Lesern zu gut bekannt sein dürfte, hohl und leer erscheinen. Der Kampf Perkars gegen seine Heldenrolle ist für mich eines der ehrlichsten Auseinandersetzung mit den Themen Schicksalsergebenheit und Eigenbestimmung, die ich aus der phantastischen Literatur kenne.

Während Perkar also mit dem Heldentum hadert, aber sich gleichzeitig an dieses Rollenkonstrukt klammert wie ein Ertrinkender an den Rettungsring, ist es Hezhis größter Wunsch, all ihre Rollen ablegen zu können wie Kleidungsstücke, um sich endlich als Mensch – nicht als Prinzessin, Gefangene, Schamanin oder Anführerin – zu erfahren. Doch da manche in ihr die einzige Hoffnung, andere in ihr die vollständige Zerstörung sehen, erscheint Hezhi ihr Wunsch nach Selbstbestimmung wie eine egoistische, eitle Regung.

Die Tiefsinnigkeit und Authentizität des Romans wird auch bei einem weiteren Thema spürbar: der Ethnologe Keyes nähert sich den verschiedenen Kulturen seiner geschriebenen Welt, ohne in einen populären romantisierend-entwürdigenden Exotismus zu verfallen, und schildert glaubhaft und detailliert die verschiedenen kulturellen Konzepte. Ohne dies aufdringlich oder plakativ zu gestalten, beschäftigt sich Keyes dabei mit rassistischen Denkweisen, die mehr als vertraut wirken: für die Bewohner des ‘zivilisierten’ Nhol sind die indianischen Mang nicht mehr als Barbaren, wenn auch mit einer „exotischen Schönheit“ behaftet, und ihre Kultur wird nur aus größtmöglicher Ferne studiert und belächelt wie ein skurriler Witz. Der Roman wird inhaltlich auf eine neue Ebene gehoben, als die linguistischen Spurensuchen der Protagonisten ergeben, dass beide Völker die gleichen Wurzeln haben; spätestens an dieser Stelle wird deutlich, mit wie viel Hintersinn und Ironie sich der Autor mit interkulturellen Problemen und dem Toleranzgedanken auseinandergesetzt hat. Besonders in den komplexen Beziehungen der kulturell gemischten Gruppe um Hezhi und Perkar spielen die Themen Freundschaft, Offenheit und Misstrauen allem Fremden gegenüber eine große Rolle und halten dem Leser mehr als ein mal freundlich, aber bestimmt, den Spiegel vor, ohne das der Roman einen belehrenden Tonfall erhält.

Mit viel Sensibilität und Gespür für Menschlichkeit beschreibt Keyes die Entwicklungen seiner Protagonisten, die neben der spannungsgeladenen Handlung einen ganz eigenen Sog entwickeln und den Leser nicht mehr loslassen. So ist es kein Wunder, dass das letzte Viertel des Romanes in atmenloser Spannung am Stück gelesen werden will – mit seiner poetischen und zum Weinen schönen Sprache erschafft Keyes eine von Leben erfüllte Welt, die, es darf nicht anders sein, irgendwo in all ihrer schrecklichen und zerbrechlichen Schönheit und ihrer Naturerhabenheit existieren muss. Wer einmal die Wälder des Balat bereiste und gemeinsam mit behuften, geflügelten und gehörnten Gottwesen unter die Oberfläche des Sees tauchte, um auf Sternenpfaden zu wandern, wird wissen, wovon ich spreche.

The Long Earth von Terry PratchettEs passiert in einer Zeit, in der sich „Raum“ zu den rasant schwindenden Ressourcen gesellt: ein simpler Schaltkreis mit Kippschalter und Kartoffelbatterie eröffnet der Menschheit unerforschte, unendliche Weiten. Nach Westen und nach Osten hin erstrecken sich Paralleluniversen, die Dank des „Steppers“ jetzt nur einen Schritt entfernt sind, und die Menschheit macht sich auf, die unberührten Erden zu erforschen, zu bereisen, in Besitz zu nehmen. Doch nach dem ersten Raumtaumel formieren sich nicht nur Siedlertrecks, sondern auch Gruppen mit wirtschaftlichen, kriminellen, oder gänzlich undurchsichtigen Absichten …

 “This wasn’t Joshua’s world. None of it was his world. In fact, when you got right down to it, he didn’t have a world; he had all of them.
All of the Long Earth.”
– Chapter 2

Es ist ein Menschheitstraum, so alt wie die Reihenhaussiedlung und die Tokioer U-Bahn selbst: der Traum von Weite, von Einsamkeit, von einem Vorgarten bis zum Horizont. Die Fantasy- bzw. SF-Giganten Terry Pratchett und Stephen Baxter haben mit ihrem gemeinsamen Roman The Long Earth eine beeindruckende Version dieses Traumes vorgelegt.

Allen Parallelerden gemeinsam ist die Unberührtheit durch den Evolutionsjux Mensch, der sich nur auf der Heimaterde zu tummeln scheint. Alle anderen Erden sind ihre eigenen evolutionären Wege gegangen, und so trifft man zwar mitunter auf Lavakontinente, Diamantberge oder Ozeanwelten, aber nie auf einen Homo Sapiens, der seinerseits seinen Heimatplaneten an die Grenze des „Schutt und Asche“ brachte. Nahe liegt der Paradiesvergleich, folgt man Baxter und Pratchett in diese vor Leben vibrierenden Universen – Flora und Fauna gleichen einem Gabentisch, einer helfenden Hand, dem sinkenden Menschenschiff hingestreckt. Kein Wunder, dass sich auch bekuttete Gestalten auf die Suche nach dem Göttlichen begeben, oder bärtige Gesellen nach Klondike-2: in The Long Earth scheint jeder das zu finden, was er sucht.
Landflucht wird zur Raumflucht, und völlige Souveränität und Selbstbestimmtheit scheinen nur eine Kartoffelladung entfernt zu sein. Während also die Regierungen der Welt versuchen, Steuersysteme in Parallelwelten zu etablieren, während auf unserer Heimaterde die Wirtschaft zusammenbricht, tun sich Arzt und Schmied, Soziologieprofessor und Zimmermann zusammen, um auf der Erde 101.754 eine Kolonie zu gründen. Feuerfachen und Schlingen legen wird zur neuen-alten ars vivendi, und rotgolden versinkt die Sonne hinter den Weizenfeldern.

The Long Earth ist jedoch mehr als Eskapismuskitsch und Lagerfeuerromantik, denn auch wenn sich hundert neue Welten auftun: Verlierer gibt es überall. Vielleicht ist es ein evolutionärer Seitenhieb auf die zerstörerische Kraft des expandierenden Gehirns, doch nicht alle Erdbürger sind befähigt, den kleinen, interdimensionalen Schritt zu tun, der ewige Freiheit verheißt. 5 % der Bevölkerung, die sogenannten „Phobics“, können nicht aus eigener Kraft den Schritt in die anderen Welten tun; und ein Paradies, das einigen den Zugang verwehrt, wird sich vor Schlangen bald nicht mehr retten können.

Die zentrale Frage des Romans heißt also: wie weit würdest du gehen? Durch episodenhaft erzählte Einzelschicksale entzaubern Baxter und Pratchett behutsam die Paradiesgedanken, ohne sie dem Höllenschlund anheimfallen zu lassen. Eine Familie lebt glücklich in der 101754. Idylle – hat jedoch ihr Phobic-Kind auf Erde-1 zurückgelassen. Ein Entrepreneur versucht verzweifelt, die neuen Welten mit barer Münze zu erobern. Kann es Scheitern in einer Zeit der unendlichen Neuanfänge noch geben? Lassen sich Trauer, Krankheit und Verlust besser ertragen, wenn die Sicht unverbaut ist?

Für die Protagonisten des Romans ist die Frage – „Wie weit würdest du gehen“ – jedoch bedeutungslos: Joshua und Lobsang machen sich auf, um die Weite wissenschaftlich zu erkunden, um Grenzen (falls es diese gibt) immer weiter nach hinten zu verschieben. Die beiden Figuren geben ein äußerst pratchetteskes Paar ab: Joshua, ein junger Mann, der auch ohne Kartoffel ‘steppen’ kann, und Lobsang. Während die Paralleluniversen Baxters schöpferische Handschrift tragen, so atmet Lobsang Pratchett ein und aus. Lobsang: ehemaliger Fahrradreperateur aus Tibet, nun halb Geist, halb Maschine, der als erster Roboter das irdische Gericht davon überzeugt hat, menschlich zu sein. Lobsang ist nicht der heimliche Star des Romans: währen die Erden eine Bühne, er würde sie im Elvisanzug rocken. Sein Name ist Programm.
Während also die hyperintelligente, mit einem Humorchip versehene Mensch-Maschine den Leser freundlich bei der robotischen Hand nimmt, so ist die Charakterisierung Joshuas problematischer, und sein Problem kann als programmatisch für den Roman gesehen werden: die Figur scheint noch undefiniert, vage, nicht zu Ende gedacht. Und während Lobsang einen Geniestreich nach dem anderen aus dem Ärmel zaubert, um die Reise durch die unendlichen Welten zu bestehen, kommt man als Leser nicht umhin, zu bemerken, dass Pratchett und Baxter damit noch zurückhalten. Tatsächlich müssen ihre Ärmel zum Bersten gefüllt sein: Andeutungen, lose Enden, Vermutungen und Theorien tummeln sich wie Fische im unverseuchten, plastikfreien Wasser. Der Genius liegt hier im Setting, noch nicht im Detail. Umso klärender wird deshalb vermutlich die Lektüre des Folgebandes The Long War – dessen Titel nicht gerade subtil darauf hinweist, dass der Mensch auch noch dann einen Krieg beginnen kann, wenn er über Raum und Zeit verstreut ist. Eigentlich wollen wir doch alle nur schadstofffreie Gurken. Oder?

Die Kollaboration der beiden literarischen Giganten lädt also vor allem zum Träumen ein, zum Erkunden, zum Erforschen, Erschrecken und Ernüchtern. Wirklich erstaunlich ist jedoch, dass man für die Reise in unendliche Welten sogar auf die Kartoffelbatterie verzichten kann – hier reichen auch zwei Buchdeckel.

Der widerspenstige PlanetIch traf Helden, Schizophrene, Selbstmörder, Alien-Jäger, Menschen-Jäger, Roboter und (mein persönlicher Held) einen Kalkstein, der auf einem Planeten in der Unwahrscheinlichkeitsschlaufe seit Anbeginn der Welt – seit 300 Jahren – eine „melancholische, leicht sehnsuchtsvolle Schnulze“ singt. Yeah, Baby. Willkommen auf dem widerspenstigen Planeten Robert Sheckleys.

“Probe, eins, zwei, drei”, sagte Upmann. “Haben Sie verstanden, was ich gesagt habe?”
“Sie sagten, ‘Probe, eins, zwei, drei'”, erwiderte Detringer und ein Seufzen der Erleichterung ging durch die Reihen der Umstehenden, denn die ersten Worte eines Menschen zu einem Extraterrestrier waren endlich gesprochen. –
Ein erster Kontakt, S. 635

Das gewaltige Œuvre des US-amerikanischen Sciene-Fiction-Schriftstellers Robert Sheckley umfasst hunderte Kurzgeschichten sowie einige Romane und sticht durch seine visionär-humorvolle Schreibe aus der Masse hervor. Der Kurzgeschichtenband Der widerspenstige Planet versammelt chronologisch geordnete 16 Geschichten aus dem Jahren 1953 bis 1974.
Der satirische, ironische Unterton und die keineswegs dazu gegenläufige Thematisierung des Sterbens ziehen sich wie ein roter Faden durch den Band. Sheckleys Figuren verkriechen sich zum Sterben oder suchen den heroischen Tod auf einer Hetzjagd; sie inszenieren ihr Ableben im Fernsehen oder finden ganz grundlos den Tod – das Ende des Lebens ist in vielen Geschichten der Dreh- und Angel-, aber nicht unbedingt der Endpunkt. Im Gegenteil: mit einem (zugegebenermaßen kostspieligen) Vertrag mit der Jenseits-Corporation ist der Tod erst der Anfang.
Wer Schwermut erwartet, wird dennoch enttäuscht werden. Sheckley ist bissig, böse und überzeichnet unsere Realität in einer Weise, dass es mitunter weh tut  – denn die Wahrheit zu hören schmerzt bekanntlich –, doch Sheckleys Hang zu Absurditäten, gemischt mit seiner Pointierungskunst machen die Geschichten zu einem ungetrübten Lesevergnügen. Erst in den letzten beiden Geschichten – Ein erster Kontakt und Endstation Zukunft – bricht Sheckleys Humor aus seiner gekonnten Hintergründigkeit aus und weicht einem Witz, der den Leser lauthals lachen lässt. Der geneigte Leser ahnt es schon: auf den singenden Kalkstein trifft man in einer dieser Geschichten. Und gemäß dem Credo von Brian W. Aldiss – „Einmal im Leben sollte jeder eine Robert-Sheckley-Geschichte gelesen haben!“ – möchte ich an dieser Stelle einige aus dem Geschichtenband Der widerspenstige Planet vorstellen. Wer sich das Buch nicht kaufen möchte, dem sei geraten, sich in einer Buchhandlung den Band aus dem Regal zu nehmen und wenigstens eine der im folgenden vorgestellten Geschichten zu lesen – die Kürze erlaubt es, die Qualität verlangt es!

Fütterungszeit, die erste Geschichte im Sammelband, bereitet den Leser in aller Kürze auf Sheckleys literarisches Vorgehen vor, doch schon der zweite Streich – Das siebte Opfer – überwältigt mit seiner skurrilen, dabei aber nicht abwegigen Handlung und thematisiert den unbändigen Drang des Menschen nach Nervenkitzel und dem letzten Kick, den der Protagonist der Erzählung freilich nicht als solchen, sondern als nötiges Aggressionsventil begreift. Verfilmt wurde die Erzählung 1965 von Elio Petri mit dem Titel Das zehnte Opfer – eine unfreiwillig komische Titeländerung, da für einen Film sieben Mordopfer scheinbar nicht ausreichen.
Die Geschichte Spezialist stellt als erste ein extraterrestrisches Wesen in den Mittelpunkt. Geschildert wird die Geschichte aus den, nun, Sinnensorganen von mehreren hochspezialisierten Wesen, die zusammen ein organisches Raumschiff bilden und das Weltall durchpflügen. Während die Wände mit ihrem ungezügelten Alkoholkonsum die Moral der Gruppe ins Wanken bringen, droht schon bald dem ganzen Schiff Gefahr: sie müssen sich in ihrer Not auf das wohl unspezialisierteste Wesen verlassen, welches sich im Universum die Ehre gibt: den Menschen.
Scharfzüngig spielt der Autor mit der anthropologischen Betrachtungsweise des unspezialisierten Menschen und verleiht zugleich den ungemein fremd anmutenden, außerirdischen Wesen bemitleidenswert menschliche Züge. Eine ähnliche Grundidee verfolgt Sheckley auch in seiner Geschichte Pfadfinderspiele, die den Menschen einmal mehr zum Gejagten werden lässt. Auch in dieser Geschichte beweist der Autor, dass er nicht nur ein begnadeter Phantast ist, sondern auch ein Menschenkenner: in allen Erzählungen begegnen uns Wesen – Menschen wie Außerirdische –, die wir meinen, gut zu kennen. Sie ähneln unseren Nachbarn, fernen Bekannten, guten Freunden und zuletzt auch uns selbst. In ihren Dia- und Monologen erscheinen sie arrogant, verängstigt, furchtlos, tollkühn, kurz: zutiefst menschlich. In dieser Hinsicht gleichen Sheckleys Erzählungen einem Spiegel, in dem wir uns, trotz Tentakel oder einer Vielzahl an Augen, selbst erkennen.
Utopia mit kleinen Fehlern
führt einen selbsterklärenden Titel. In der Geschichte spielt Sheckley gewohnt brillant-boshaft mit den scheinbar naiven Wünschen nach einer besseren Welt, die uns allen in Momenten der Resignation nicht fremd sind. Ein Staat ohne Arbeitslosigkeit, ohne Schulden, ohne Verbrechen – in Utopia ist all das bittere Realität.

Der hier vorgestellte Kurzgeschichtenband enthält zudem den Roman Die Jenseits-Corporation (auch erschienen unter dem Titel Lebensgeister GmbH), der all das bietet, was ein Science-Fiction-Roman so braucht: eine Femme fatale, Zombiehorden, eine dubiose, intransparente Firma, eine ordentliche Spannungskurve und eine beschwingte Prise Gesellschaftskritik. Herausragend wird dieser scheinbar nach Schema F gestrickte Roman durch seine intelligente Verkehrung gewohnter Motive, die Sheckley konsequent, aber nie langweilig anwendet.

Und schließlich: Der erste Kontakt. Die vorletzte Kurzgeschichte im vorliegenden Band schlägt, wie bereits erwähnt, eine völlig neue Saite an Sheckleys literarischem Instrument an. Nicht minder beißend, aber mit unverhohlenem Humor treibt die Geschichte von einem gestrandeten außerirdischen Exilanten mit seinem loyalen Haushaltsroboter, der zufällig das erste Alien ist, auf den die Menschheit trifft und von Journalisten der Zeitungen Chic!, Weltmoden und  New York Times interviewt wird, dem Leser die Lachtränen in die Augen. Ebenso wie Endstation Zukunft, die Geschichte eines missglückten und deshalb glückenden Versuches, eine Zeitmaschine zu bauen. In dieser Erzählung löst Sheckley auch eines der letzten mathematischen Rätsel der Menscheit – die Transformation von Äpfeln in Apfelsinen:

Geschmack
+ √Farbe (Samen)^2
Aroma

Wenn Sie noch weitere Fragen haben, lösen Sie einfach ein Ticket zum Widerspenstigen Planeten. Guten Flug!

Winterplanet von Ursula K. Le GuinGenly Ai, Gesandter der Ökumene, einer interplanetaren Staatengemeinschaft, lebt seit 2 Jahren auf dem unwirtlichen Planeten Winter. Seine Aufgabe ist es, die Herrscher von einem Beitritt in die Ökumene zu überzeugen und so Handelsabkommen und den Austausch von Wissen und Technologien zu ermöglichen.
Neben einem zentralen Staatenkonflikt erschweren besonders die scheinbar unüberbrückbaren kulturellen Unterschiede Ais Arbeit: die Menschen von Winter sind Hermaphroditen, also weder Frau noch Mann. Ai und die Bewohner des Planeten begegnen einander als völlig Fremde. Immer auf der Suche nach einem Dialog begibt sich Ai in große Gefahr, um seine Mission zu erfüllen, wiewohl sie zum Scheitern verurteilt scheint.

Ich werde meinen Bericht schreiben, als wäre er eine Geschichte, denn schon als Kind auf meiner Heimatwelt habe ich gelernt, daß die Wahrheit eine Sache der Einbildungskraft ist.
– Kapitel 1, Ein Festzug in Erhenrang, S. 14

„Ursula K. Le Guin gehört zu jener Sorte Schriftsteller, die für den Rezensenten unbequem sind, weil man nur schwer in knapper Form über sie sprechen kann“, bemerkt der Moskauer Literaturkritiker Wl. Gakow richtig in seinem Nachwort zu Le Guins Roman Winterplanet (The Left Hand of Darkness) (2000 ebenfalls von Heyne neuaufgelegt unter dem Titel „Die linke Hand der Dunkelheit“). Eine Auseinandersetzung mit dem Roman der US-amerikanischen Schriftstellerin kann in diesem Rahmen nicht erschöpfend sein, weshalb ich mich auf einige gute Gründe beschränken möchte, weshalb der anspruchsvolle Phantastikfreund dieses Buch mindestens ein mal im Leben (besser: mehrmals) lesen sollte.

(1) Der Roman Winterplanet ist eine umfassende Antwort auf die Frage: Was kann Science Fiction? Wie die Autorin es in ihrem Vorwort betont, ergibt sich die Relevanz des Genres nicht nur aus dem ‚prophetischen’ Anspruch – also aus der Beantwortung der Frage „Wie wird die Welt in X Jahren gestaltet sein?“ –, sondern vor allem aus der Möglichkeit, alle kulturellen, soziologischen, technischen und biologischen Gesetzmäßigkeiten, die bei der nonfiktionalen Beschäftigung mit unserer Gesellschaft zwingend sind, außer Acht zu lassen. Geschieht dies, verlässt ein Autor das weite Feld der Zukunftsprognosen und wagt sich in eine buchstäblich völlig neue Welt: ein Gedankenexperiment ist geboren.
Le Guins Roman Winterplanet konfrontiert den Leser behutsam mit der Festgefahrenheit der eigenen Denkstrukturen. Die auf dem Planeten Winter ansässigen Menschen sind androgyne Wesen, die in einem monatlichen Zyklus eine Phase der sexuellen Aktivität erleben, in der sie – abhängig von ihrem Partner – ein Geschlecht ausbilden. Welche Tragweite diese scheinbar nur biologische Eigenheit hat, wird sowohl dem Gesandten Genly Ai, als auch dem Leser erst im Laufe der Zeit und des Romans bewusst. Angefangen mit einer Unzulänglichkeit der verfügbaren Sprache – Ai beschreibt alle Bewohner des Planeten in Ermangelung eines wertungsfreien Neutrums mit dem männlichen Personalpronomen – ist es besonders die Vorstellung einer Gesellschaft ohne Rollen, ohne ein bequemes „typisch männlich“ und „typisch weiblich“, auf die sich der Leser nur schwer einlassen kann. Auch Genly Ai schreibt in seinem Unvermögen, die Bewohner Gethens als Menschen ohne Rolle, ohne Muster zu sehen, den Menschen, welchen er begegnet, mal weibliche, mal männliche Eigenschaften zu. Die Auflösung Genly Ais vorgefertigter Denkmuster und der damit einhergehende Neuerwerb einer geschlechtsunabhängigen Betrachtungsweise des Menschen ist eine der wichtigsten und herausragendsten Szenen der Science-Fiction-Literatur.

(2) Ursula K. Le Guins Werk wartet mit einer Komplexität und einer geistigen Durchdringung auf, an der es anderen Romanen des Genres zuweilen mangelt. Welche Auswirkungen hat ein androgynes Menschengeschlecht auf die kulturelle Entwicklung einer Gesellschaft? Im Rahmen ihres Gedankenexperimentes beantwortet die Autorin die Frage derart stimmig und glaubwürdig, dass man schnell den Fehler begeht, sie in das Lager der ‚Propheten’ einzuordnen.
Die Unterschiede einer Gesellschaft ohne Geschlechterrollen von der uns Vertrauten sind zunächst sehr faßbar: es existieren keine klassischen Familienstrukturen, es gibt keine traditionellen Männer- oder Frauenberufe, das Prinzip des Ernährers und der Hausfrau greift nicht. Doch Le Guin labt sich nicht am Offensichtlichen, im Gegenteil: ihre Analyse einer androgynen Gesellschaft geht viel tiefer.
Das uns zutiefst verinnerlichte Prinzip des Dualismus verliert seine ursprüngliche Motivation: die Unterscheidung in Mann oder Frau. Diese Unterscheidung, so erklärt Ai es einem Bewohner von Winter, determiniert die Sprache, die Arbeit, die Haltung, das Gemüt, den Charakter, kurz: alle Lebensbereiche eines Menschen, die zusammengefasst das ausmachen, was wir landläufig als ‚Persönlichkeit’ bezeichnen. Wie entwickelt sich ein Mensch ohne ein solches Raster?
Der im Roman entscheidende Dualismus ist von einer ganz anderen Natur: es ist der Dualismus von Du und Ich, der jedoch keine trennende, unterscheidende, sondern eine verbindende Funktion besitzt und schließlich auch den Leser anspricht mit der Forderung, diesen Dualismus in ein „Wir“ aufzulösen.

Eine weitere Beobachtung Genly Ais betrifft die völlige Unkenntnis der Bewohner Winters, was Krieg betrifft. Es gibt in keiner Sprache des Planeten ein Wort für Auseinandersetzungen, die unzählige Menschenleben fordern – denn solche Auseinandersetzungen existieren nicht. Auch der Gesandte, in dessen Gedächtnis sich lange Kriegsjahre auf seinem Heimatplaneten eingebrannt haben, weiß den Grund dafür nicht zu benennen. Liegt es an dem Fehlen der Geschlechterrollen, am Fehlen eines „starken Geschlechtes“ mit der Pflicht, ebendiese Stärke unter Beweis zu stellen? Oder liegt es an den extrem unwirtlichen Bedingungen des Planeten, die einen Krieg völlig nutzlos dastehen lassen, da die Bevölkerung Winters Tag für Tag um ihre Existenz bangen muss? Die Beantwortung dieser Frage liefert uns die Autorin nicht, ist es doch letztlich eine ganz persönliche Entscheidung: wie viel Macht gestehen wir Rollenmustern zu?

(3) Die angedeutete inhaltliche Durchdringung wird getragen von einer außergewöhnlich treffenden, glasklaren Sprache. Die Autorin verschwendet in einem Roman, der sich dezidiert mit dem Thema Sexualität beschäftigt, kein Wort an Kitsch oder deplatzierte Romantik, sondern reichert die Welt mit jedem Wort um ein weiteres Detail an, beschert ihr eine weitere Facette und schafft so ein Planeten, der uns unendlich fremd und zugleich vertraut erscheint. Sie verzichtet gänzlich auf eine beschreibende Charakterisierung der Protagonisten und lässt sie ausschließlich für sich selbst sprechen. Mit hoher Kunstfertigkeit lässt sie den aufmerksamen Leser nicht nur die Figuren kennenlernen, sondern ermöglicht es ihm, ihre subtile, aber grundlegende Wandlung mitzuerleben. Auch die Beschreibung der verschiedenen Gesellschaftsformen der Staaten Karhide und Orgoreyn sowie die langsame Technisierung des Planeten – die dem Leser in dieser natur- und klimabestimmten Welt eher wie eine Anomalie erscheint – werden in Zwischentönen festgehalten.

(4) Die Themen des Romans beschränken sich nicht auf Sexualität und das Hinterfragen von Rollenmustern. Vielmehr gelingt es der Autorin, in einem Roman kritisch das Wesen der Loyalität und des Patriotismus auf einer zutiefst menschlichen Ebene darzustellen. Besonders eindrücklich ist der Wandel eines Verrates hin zur menschlichen Aufopferung und die Einsicht, dass beides manchmal nicht zu unterscheiden ist.
Nicht zuletzt gelingt es Le Guin, die Natur des Planeten gleichsam als Parabel und als höchstspannendes und –aufwühlendes Erlebnis zu charakterisieren. Die Schilderung des Überlebenskampfes Ais und seines Begleiters auf dem großen Eis ist nicht nur eine intensive Auseinandersetzung mit den Charakteren, sondern gleichzeitig eine phantastisch -bedrückende Abenteuerzählung.

Wie Wl. Gakow es geahnt hat, ist es mir nicht gelungen, den Roman in angemessener Kürze zu besprechen. Doch wenn auch nur jedes zweite Wort das seine dazu beiträgt, den Leser dieser Rezension zur Lektüre des Romans Winterplanet zu überreden, würde er mir sicher verzeihen.

Das Wörterbuch des Viktor Vau von Gerd RuebenstrunkEinige hundert Jahre in der Zukunft: Viktor Vau, Professor der Linguistik und Hobbypsychiater, forscht an einer perfekten Sprache, wie es einst schon Leibniz tat. Mit ihrer Hilfe möchte er Ordnung in das Chaos der Gedankenwelt von Schizophrenie-Patienten bringen, doch bald stellt sich heraus: Vaus perfekte Sprache wird die ganze Welt verändern. Doch diese Gefahr – oder dieses Potential – bleibt nicht unbemerkt. Es dauert nicht lange, bis ein erbitterter Kampf um Vaus Lebenswerk entbrennt, an dem sich Geheimdienste, Agenten und Rebellen gleichermaßen beteiligen.

-Die Welt ist eine Glaskugel.
Jede Sekunde machen Satellitenkameras, Radiowellenempfänger, Überwachungssensoren, Mikrofone und Messstationen das Unsichtbare sichtbar.-
(u: Ankunft)

Eines vornweg: der Klappentext lügt. Das Wörterbuch des Viktor Vau ist mitnichten das „gefährlichste Buch, das Sie je in den Händen halten werden“. Es ist weder das beste aller Bücher, welches alle vorher geschriebenen Bücher hinfällig werden lässt, noch ist es das schlechteste je geschriebene Buch, welches den Verstand zur bedingungslosen Kapitulation zwingt. Es geht keinerlei Gefahr davon aus – es sei denn, man ist angehender Linguist.

Doch beginnen sollte ich lieber am Anfang, denn der ist gut. Hinter der Notizbucheinbandfassade wartet eine zukünftige Welt; die Handlung beginnt in einem fiktiven Überwachungsstaat auf dem afrikanischen Kontinent. Ein unbekanntes Flugobjekt stürzt ins Meer, und dann nimmt die Handlung an Fahrt auf. Unzählige Charaktere werden mit einer ein- bis zweiseitigen Hintergrundgeschichte eingeführt, sind wichtig und verschwinden wieder im Strom der anonymen Masse. Das funktioniert zu Beginn gut, da das Setting außergewöhnlich genug ist, um darüber hinweg zu faszinieren. Und die Idee, einen Linguisten zum (gewünschten Anti-)Helden einer Geschichte zu küren und sich darüber hinaus im Rahmen eines Science-Fiction-Romans mit Plansprachen und perfekten Sprachen auseinanderzusetzen, wird dem Buch immer einen Platz in meinem Herzen sichern.
Doch genug der Sentimentalitäten: was als Idee sehr gut und kreativ ist, kann auf dem Papier noch zehn Mal scheitern. Die Handlung ist bestenfalls als konstruiert zu bezeichnen; der Kunstgriff, alle flüchtig erwähnten Figuren in einem gordischen Handlungsknoten zusammenzuführen, eher als misslungen. Hinzu kommt, dass ausnahmslos alles im Roman handlungsrelevant ist. Es gibt keinen Satz, keine Zeile, die auf dichterische Art und Weise an die Idee des Erzählens und Ausschmückens verschwendet wäre. Durch die fehlenden Wörterpuffer prallt eine Handlung an die Nächste, und dies verkettet sich zu einem nicht atem-, sondern seltsam spannungslosen Reigen an Explosionen, subversiven Treffen und Nervenzusammenbrüchen. Krönung des Handlungspotpourris ist der Ausflug in die Thrillerecke: völlig unmotiviert mordet ein Mörder vor sich hin – immerhin: hier findet eine Ausschmückung der Szenen statt –, doch der Ratlosigkeit des mürrischen Cops kann man sich leider nicht anschließen.

Die herausragende Unglaubwürdigkeit sowie Voraussehbarkeit der Handlung ist umso bedauerlicher, da Ruebenstrunk, wie erwähnt, äußerst gute Ansätze liefert. Die Idee hinter den ‘Stimmen im Kopf’ ist einfallsreich und clever gelöst, viele Details der Welt bieten Potential für richtig gute Geschichten. Doch neben der Handlung fallen auch die Charaktere negativ ins Gewicht. Enrique, der getriebene Mysteriöse, der in dieser Phase seines Lebens „keinerlei Interesse“ an Frauen hat, setzt sich zuerst mit diesem Fakt auseinander, während er drei Absätze später eine Schlägerei riskiert, um einer Frau „mit ungewöhnlicher Schönheit“ beizustehen. Dies, liebe Leser, ist Wandlungsfähigkeit in ihrer reinsten Form – doch gerade diese Eigenschaft führt den speziellen Charakter ad absurdum! Dass Enrique sich in diese Frau verliebt, ist danach noch reine Formsache.
Professor Vau ist das farblose Abziehbild des irr-nervigen, aber dadurch liebenswerten Wissenschaftlers, sein einziger Charakterzug die Verschrobenheit. Dass eine große Geisteskapazität jedoch die Emotionen und charakterlichen Ausprägungen auf ein Minimum schrumpfen lässt, widerlegen die Lebensgeschichten von Feynmann, Einstein oder Newton u.v.m. eindrucksvoll. Vaus Typ ist kein Anachronismus, es hat ihn nie gegeben.

Kommen wir zur oben erwähnten Warnung. Viktor Vau, seines Zeichens brillanter Neurolinguist, fachsimpelt über die „Babysprache, die von Fachleuten als Prosodie bezeichnet wird“ (sic!). Nun ist es gut möglich, dass sich in 500 Jahren die Definitionen für verschiedene Begriffe geändert haben werden – ist ja ’ne lange Zeit für die Forschung –; ich allerdings möchte den Satz mit Rot unterstreichen, „Falsch!“ an die Seite schreiben und an den Verlag zurückschicken. Ein derart oberflächlicher Fehler lässt den guten Viktor ziemlich dumm dastehen, und auch der Rest des eingebrachten Fachwissens – meist durch zeilenlanges Rezitieren von Philosophiezitaten in eh schon arg gebeutelten Dialogen – besticht durch Erwähnung ohne Erläuterung; und dies wiederum läuft noch nicht unter dem Namen ‘Recherche’, sondern verkümmert zur Trivialität. Die Einbeziehung des Voynich-Manuskriptes konnte mir wohl ein glückliches Lächeln entlocken, die haarsträubend gehaltlos-widersinnige Einflechtung der Pirahã-Indianer im zweiten Teil des Romans jedoch nur ein leises Schluchzen.
Die Spannung, welche durch die brisante Handlung ansatzweise aufgebaut wird, wird durch die Erzählperspektive wieder zunichte gemacht. Mit Ausnahme des Präsidenten wird aus der Perspektive aller handelnder Figuren – Rebell wie Regierungsmitglied – einmal erzählt, sodass es dem Spannungsmoment geht wie einem Menschen auf einem flutbelichteten Fußballplatz: nichts liegt im Schatten. Szeneninterne Sprünge in der Erzählhaltung von Person zu Person lassen wirklich keine Fragen offen.
Immer wieder ist man versucht, dass Buch zu schütteln, bis die Buchstaben am rechten Platz sind und den Ideen endlich gerecht werden. Das Wörterbuch des Viktor Vau hat Potential, ist kurzweilig und wartet mit einem storytechnisch soliden Grundgerüst auf. Doch Ruebenstrunks Roman ist leider längst nicht „so außergewöhnlich wie sein Name“.