Die bewohnte Insel

Maxim Kammerer, Raumpilot der Gruppe für Freie Suche, Erdbewohner und fest verwurzelt in seiner irdischen sozialistischen Utopie, muss auf einem Planeten notlanden und findet sich in einem Land wieder, das lebensfeindlicher nicht sein könnte: der radioaktiv verstrahlte Staat wird von einer Militärdiktatur regiert, die Bürger ergehen sich in blindem Patriotismus. Maxim gerät auf der Suche nach einer Möglichkeit, den Planeten zu verlassen, in die Mühlen der Diktatur und weiß bald nicht mehr Gut von Böse zu unterscheiden …

Von denen, die am Boden lagen, würden einige sterben, andere waren bereits tot. Und jetzt wusste er: Sie waren Menschen, nicht Affen oder Panzerwölfe, wenn auch ihr Atem stank, ihre Berührung schmutzig, die Absichten viehisch und abscheulich waren. Trotz allem empfand er Bedauern und fühlte Verlust. Ihm war, als habe er gerade etwas von seiner Reinheit verloren, ein entscheidendes Stückchen Seele des früheren Maxim. Er wusste, sein früheres Ich war jetzt für immer verschwunden, und das war bitter – weckte aber auch einen bis dahin unbekannten Stolz.
– Robinson, S. 84

Maxim Kammerer, moderner Robinson, Soldat, Terrorist, Sträfling – er ist weit gereist, um Zustände anzutreffen, die wir von unserer Erde kennen. Für ihn jedoch liegen irdische Kriege, atomare Zerstörung und Diktatoren so weit in der Vergangenheit, dass ihre Namen bereits in Vergessenheit geraten sind; der Diktator „Hilmer oder so ähnlich“ und seine Verbrechen sind nicht mehr gegenwärtig. Umso härter trifft ihn die geistige Verrohung der Bevölkerung der „bewohnten Insel“, deren Weltbild eine perfekte Parabel ihrer Egomanie ist: in ihrem diktierten, unangefochtenen Weltbild leben sie auf der Innenseite einer Kugel; der Blick ist immer auf das eigene System gerichtet, dessen zentrales Merkmal die Unveränderlichkeit ist.
In dieser Welt wird Maxim, der von außen kommt und nicht dem System zugehörig ist, als Übermensch angesehen. Die Anstrengungen, ihn in das diktatorische System zu integrieren, müssen jedoch auf Dauer zwangsläufig scheitern – die korrumpierenden Strukturen versagen an ihm, die Ideologie, die sich einzig auf gewaltsam eingeforderte Gefügigkeit stützt, ist dem frei denkenden Menschen zutiefst zuwider und nährt seinen Hunger nach Widerstand, Rache und Veränderung.

Bald ist Maxim von Freunden zur Heldenfigur stilisiert, von Feinden als Übermacht gefürchtet, und seine Kraft, sein breitgefächertes Wissen und seine heilenden Fähigkeiten bewirken das ihre. Doch nicht allen ist es vergönnt, sich in blinder Bewunderung zu ergehen: schnell wird dem Leser bewusst, dass Maxim trotz allem keine glorreiche Verheißung bringen kann. Doch die Desillusionierung des gestrandeten Raumfahrers selbst schreitet nur langsam voran; zu übermächtig ist die Hoffnung, die Regierung schließlich doch noch zu stürzen, den Menschen Frieden zu bringen, den Planeten doch noch zu retten.

Dieser ausgedehnte Verstehensprozess verleiht dem Science-Fiction-Klassiker Züge eines Abenteuerromans. Maxim wechselt von einer Terrorzelle – staatlich organisiert oder im Untergrund tätig – in die nächste und stößt auf der Suche nach einer Möglichkeit, seine Ideale durchzusetzen, allerorts auf Widerstand. Die Organisation des staatlichen Militärs wurde durch die Unbekannten Väter, die anonymen Diktatoren des Reiches, perfektioniert; der Widerstand ist in mannigfaltige Splittergruppen mit höchst unterschiedlichen Zielen zerteilt und, wie Maxim schmerzlich erfahren muss, in größerem Rahmen nicht handlungsfähig. Ihr Aktionismus geht über organisierte Himmelfahrtskommandos nicht hinaus; langfristige, gemeinsame Ziele gibt es in der zerstrittenen Untergrundbewegung nicht. Schmerzlich klar formulieren die Strugatzkis die Kraft und die Grenzen des Widerstandes gegen ein übermächtiges System.

Ein wiederkehrendes Thema der Brüder Strugatzki wird auch in diesem Roman subtil bearbeitet: Wann hört der Mensch auf, Mensch zu sein? Die Definition von Menschlichkeit wird von der Militärdiktatur auf optische und biologische Faktoren begrenzt – die Opfer einer Genmutation, „Entartete“ genannt, werden vom Staat erbittert gejagt, obgleich sich die höchsten Ränge aus ihren Reihen rekrutieren. Denn den Entarteten zueigen ist eine besondere Reaktion auf die Emitterstrahlen, die von den Diktatoren eingesetzt werden, um die Bevölkerung zu passiven Akteuren innerhalb des Systems zu degradieren. Diese besondere Reaktion macht sie zu gefährlichen Gegnern – oder zu mächtigen Verbündeten. Es ist eine feine Ironie, dass diese Entarteten und die Mutanten der Wüste, deren bloßer Anblick Maxim in größte Furcht versetzt, mehr Menschlichkeit in sich tragen, als die staatlich anerkannten Menschen, die wie geistlose Maschinen funktionieren. Und so münden alle Kämpfe, Kriege und äußeren Konflikte in der Frage, wie viel Maxim von seiner eigenen Menschlichkeit aufzugeben bereit ist, um seine Ideale den Prinzipien einer Unterdrückungskultur entgegenzustellen.

Arkadi und Boris Strugatzki haben mit Die bewohnte Insel* (Обитаемый остров) eine Studie des Widerstandes geschrieben, ein Plädoyer für Vernunft und einen Roman über die Sinnlosigkeit der durch das Gewissen gebilligten Zerstörungswut. Sie loten die Untiefen des menschlichen Geistes aus, ohne sich daran zu ergötzen und analysieren ihn genau – und deshalb bleibt Maxim immer das, was er ist: kein Held, sondern ein Erdenmensch.

* Eine Anmerkung zu den Ausgaben: vom rezensierten Roman Die bewohnte Insel existieren mehrere gekürzte Versionen. Erstmals ungekürzt ist das Buch 2010 bei Heyne erschienen, im Strugatzki-Sammelband 1. Diese Ausgabe ist deshalb dringend zu empfehlen und hat außerdem den Vorteil, dass die beiden Folgebände ebenfalls enthalten sind.

Stand: 09. September 2012
Originaltitel: Обитаемый остров
Erscheinungsjahr: RU 1969, D 1972, 2010
Verlag: Heyne
Übersetzung: Erika Pietraß
ISBN: 9783453526303
Seitenzahl: 426