Zyklus: Bas-Lag

Cover des Buches "Perdido Street Station von China Miéville"In New Crobuzon, der riesigen Metropole, taucht ein Fremder auf, der auf der Suche nach einem Wissenschaftler ist, der das Unmögliche mögliche machen kann. Er gerät an Isaac dan der Grimnebulin, einen Freigeist, der wegen seiner Methoden und Anschauungen von der Universität geflogen ist.
Dieser lässt sich, um seinem Auftraggeber zu helfen, aus allen möglichen zwielichtigen Quellen geflügelte Lebewesen beschaffen, um den Flug zu erforschen, und dabei macht er einen entscheidenden Fehler, der dazu führt, dass ein Monster auf die Bewohner der Stadt losgelassen wird, das alle Rassenkonflikte und die brutal durchgesetzten Gesetze der Regierung nebensächlich erscheinen lässt…

-A window burst open high above the market. A basket flew from it and arced towards the oblivious crowd. It spasmed in mid-air, then spun and continued earthwards at a slower, uneven pace.-
Chapter One

Perdido Street Station (Der Falter, Der Weber) heißt der Hauptbahnhof der monströsen Metropole New Crobuzon, die auf der Welt Bas-Lag liegt. Auf Bas-Lag finden sich viele mysteriöse, gefährliche und absonderliche Orte, doch die Geschichte spielt nur in New Crobuzon und außer dem scheinbar unzivilisierten Cymek werden die Gebiete außerhalb der Stadt nicht weiter beschrieben. Das ist aber auch gar nicht notwendig, denn der Moloch bietet mehr als ausreichend Varianz.
Diese manifestiert sich hauptsächlich in den Figuren, denn das Stadtbild ist ein sehr düsteres: Nirgendwo gibt es strahlende oder neue Gebäude, die Dinge sind nicht fragil oder ästhetisch – die Gebäude sind alt und zweckmäßig, das Metall ist verrostet, der Putz bröckelt von den Wänden und das Glas der Fenster ist gesprungen. Verbunden mit der erdrückenden Enge der Bauwerke und ihrer wuchtigen Monumentalität, entsteht der Eindruck eines früh-industriellen-Film-Noir-Londons.

Auch wenn die Stadt in erster Linie eine Stadt der Menschen ist, deren Regierung vor brutaler Gewalt nicht zurückschreckt, um die Interessen der Oberschicht durchzusetzen, haben die unterschiedlichsten Völker hier ihre Ghettos: Die Cactacae, sehr unempfindliche, intelligente Kakteen mit menschlicher Gestalt, leben vielfach im Glashaus; die Khepri, insektenartige Wesen, bei deren Spezies nur die Weiblichen Intelligenz besitzen, bauen ihre fremdartig-organischen Wohnanlagen in Kinken oder Creekside; die Wyrman, intelligente Vogelwesen, leben in der Stadt verstreut.
Doch daneben gibt es unzählige sonderbare Wesen mehr: Die krötenartigen Vodyanoi, die Garuda, Wesen zur Hälfte Mensch, zur Hälfte Vogel, Vampire und sogar die Hölle hat ihren Botschafter in der Stadt – mit dem die Regierung dubiose Geschäfte macht.
Das Buch quillt über vor eigenartigen Figuren; sind sie physisch unauffällig, haben sie einen interessanten Charakter – wie Isaac Dan der Grimnebulin, ein brillianter, aber unorthodoxer Wissenschaftler, der wann immer er kann auf illegale Kanäle zurückgreift, oder Lemuel Pigeon, ein Schieber, der zwar ein persönliches Interesse an der Geschichte hat, aber deshalb nicht auf den Profit verzichten oder gar sein Leben übermäßig riskieren würde. Es gibt aber auch physisch ungewöhnliche Gestalten, wie Lin, eine Khepri-Künstlerin, die mittels ihrer Physiognomie eine Paste produziert aus der sie Plastiken formt, oder Mr. Motley, DER Boss des Organisierten Verbrechens, dessen Körper eine unbeschreibliche Kombination aus einer Vielzahl von verschiedensten Wesen ist, Ausdruck seiner Besessenheit: der Transformation. Dennoch bleiben alle Charaktere glaubwürdig, sowohl was Motivation, als auch was Handlungen angeht, egal ob sie nun Schurken, Wissenschaftler, Wächter, Verräter oder einfach nur Opfer sind.

Drei grundlegende Arten von Kräften beeinflussen das Geschehen der Welt: die physikalischen Kräfte, die gesellschaftlichen Kräfte und die thaumaturgischen Kräfte. Wer eine der Techniken erlernt hat, um die thaumaturgischen Kräfte zu manipulieren, ist zu höchst befremdlichen Dingen in der Lage. So kann eine Communicatrix mittels einiger persönlicher Gegenstände und Informationen die æthero-mental Waves nutzen um eine weit entfernte Person durch sich sprechen zu lassen, ein Bio-Thaumaturg kann Lebewesen völlig neu gestalten. Die Vodyanoi Schamanen können flüssiges Wasser mit der watercræft in festen Positionen halten und so z.B. einen Gang durch einen Fluss schaffen. Insgesamt wirkt die Magie sehr wissenschaftlich und technisch, generell reproduziert sie die Errungenschaften der Moderne und geht leider nur selten darüber hinaus.

Die Geschichte lässt sich am ehesten als Monsterjagd mit Hindernissen beschreiben. Sie lässt sich nur langsam an: ein gutes Drittel befasst sich mit der Einführung der Welt, der Figuren, Isaacs Forschungen und der feinfühligen Romanze zwischen dem Renegaten-Wissenschaftler und Lin, der Renegaten-Künstlerin. Mit Lin nimmt sich Miéville auch sehr vorsichtig des Themas Rassismus an, wobei besonders Lins Reflektionen über ihre Herkunft gelungen sind.

Dann aber setzt abrupt die Erkenntnis um die Katastrophe ein und fast sofort beginnt die Katharsis – und die ist lang und schmerzhaft. Es ist dem Autoren trefflich gelungen, die das Gemüt niederdrückende Stimmung durch die Ereignisse zu vermitteln. Viele Fäden werden zu einem großen Ganzen versponnen, so entsteht ein sehr komplexes Geflecht. Isaacs Geschichte ist der rote Faden, der sich hindurch zieht, die anderen treten mal hinzu, mal nicht. Dieses ist m.E.n. eine Schwäche: Entweder sollten die Fäden gleichberechtigt sein oder nur dann geschildert werden, wenn sie mit Isaac in Verbindung treten. Auch dauert für meinen Geschmack die Katharsis etwas zu lange, so dass zum Ende hin sich die Spannung in Grenzen hält. Ein weiteres Problem ist die mangelnde Transparenz am Ende: Alle kennen den Plan, nur der Leser muss im Dunkeln auf den Ablauf der Ereignisse warten.

Schließlich ist Miéville etwas zu ausführlich, immer wieder werden Stimmung und Situation detailreich erläutert, hinzu kommt, dass einige Szenen keine neuen Informationen bringen; diese Eigenarten nehmen der Geschichte ebenfalls an Spannung. So bleibt festzustellen, dass die Geschichte größtes Potential, viele hervorragende Elemente – aber leider auch einige Schwachstellen aufweist.
Sprachlich ist das Werk sehr gut gelungen, es mangelt an manchen Stellen allerdings ein wenig an Eindringlichkeit, so dass die dargestellte Szene nicht den Horror auslöst, die sie auslösen sollte.

The Scar von China MiévilleBellis Coldwine muß ihre Heimatstadt New Crobuzon verlassen und mit einem Schiff in eine ferne Kolonie zu flüchten. Mit ihr an Bord sind andere Passagiere und ein ganzer Rumpf voller Gefangener – Arbeitssklaven für die Kolonie. Doch sie erreichen niemals ihr Ziel: Nach einem Überfall werden alle Reisenden zwangsweise zu Bürgern von Armada gemacht – einer Piratenstadt, die über die Meere von Bas-Lag treibt. Während die Gefangenen nun frei sind und Armada loyal gegenüberstehen, kann sich Bellis nicht damit abfinden, bis ans Ende ihrer Tage dort bleiben zu müssen. Als sie herausfindet, daß die Führer der Stadt nach dem größten aller Meeresungeheuer fischen wollen, versucht sie ihr Wissen zur Flucht einzusetzen.

-A mile below the lowest cloud, rock breaches water and the sea begins.
It has been given many names. Each inlet and bay and stream has been classified as if it were a discrete.-

Zum zweiten Mal gelingt China Miéville das Kunststück, vorzuführen, was Fantasy alles könnte und wie wenig davon in vielen Fällen realisiert wird. Zeitlich knüpft The Scar direkt an den Vorgänger Perdido Street Station an, steht aber im Bezug auf Handlung und Figuren seperat und erzählt ein völlig neues Kapitel aus der Geschichte der Welt Bas-Lag.

Komplex, kreativ, realistisch und ausufernd ist Miévilles Bas-Lag, es gibt faszinierende neue Völker und Wesen zu entdecken, die Strukturen der Gesellschaft sind ungewohnt gut ausgearbeitet, und auch wenn die großen Zusammenhänge obskur bleiben, hat man stets das Gefühl, sich in einer Umgebung mit politischem und geschichtlich authentischem Hintergrundgeschehen und verschiedenen koheränten Kulturen zu bewegen – doch Fans klassischer Fantasy seien gewarnt: Das Zeitalter entspricht ungefähr der frühen Moderne, in der Maschinen, Wissenschaft und sozialer Sprengstoff, aber auch Thaumaturgie und “magische” Schwerter an der Tagesordnung sind.
Gerade die sozialkritische Komponente kommt immer wieder zum Tragen – in der freien, anarchistischen Piratenstadt Armada entwickelt sich unweigerlich die altbekannte Dynamik und die Gesellschafts- und Herrschaftsstrukturen bleiben letztendlich unveränderlich. Für Leser, von die brisanten Themen in der Fantasy lieber verschont bleiben möchten, ist der Roman daher wenig empfehlenswert.

Auf der anderen Seite wartet allerdings ein großartiges Entdecker- und Meeres-Abenteuer in The Scar (daß Miéville auch submarine Spezies im Portfolio hat, macht gleich zu Beginn des Romans ganz neue Welten zugänglich), und dort kann sich der Autor beim Schöpfen von Monstern und Schauplätzen und in aberwitzigen Ideen austoben, und hat zugleich eine schillernde Projektsionsfläche für Denkansätze verschiedenster Art geschaffen. The Scar mutet teils wie ein bizarrer Fiebertraum an, bleibt aber doch von einer brutalen Realität, in der einem mit grandioser und auch schonungsloser Sprache verstörende und einprägsame Bilder vermittelt werden.
Damit man nicht ganz von der mitreißenden maritimen Entdeckungsreise weggespült wird, sorgt die Protagonistin Bellis für etwas Distanz – sie ist eine spröde Hauptfigur, die sich nicht mit Armada identifizieren kann und sich ihr erzwungenes neues Dasein um keinen Preis aneignen will, selbst als sich ihr ungeahnte Möglichkeiten auftun. Unterstützt wird sie von weiteren Figuren, aus deren Sicht berichtet wird, und die teils zugänglicher als die Heldin sind. Doch Miéville spielt ohnehin mit dem Leser und seinen Figuren, und die Haupthandlung, die am Anfang eher ruhig vor sich hintreibt, gewinnt Schlag auf Schlag an Dynamik und führt einen immer wieder an der Nase herum.
Helden, Pathos und Vorhersehbarkeit gestattet diese Geschichte nicht, statt dessen hat alles einen hohen Preis und läßt Leser wie Figuren verändert zurück. Schon allein wegen dieser emotionalen Kraft lohnt sich der Besuch in Armada – nebenbei sicherlich eine der außergewöhnlichsten Fantasy-Städte, die je beschrieben wurden.

Cover von Iron Council von China MiévilleEin Geschäftsmann aus New Crobuzon plant eine transkontinentale Eisenbahnlinie, und sie entsteht durch Tausende Arbeiter verschiedener Klassen und Rassen mit einem Tross an Huren und Glücksrittern hinter sich, auch Judah Low findet hier sein Auskommen. Doch New Crobuzon wird außenpolitisch bedroht, und nach einem Befreiungsschlag sind die Arbeiter plötzlich die neuen Herren, und aus dem Zug wird etwas wie ein eigener kleiner Stadtstaat, der Eiserne Rat, der durch seine Revolte den Hass der Obrigkeit von New Crobuzon auf sich geladen hat. Während es in New Crobuzon gesellschaftlich bereits zu brodeln beginnt, macht sich Cutter auf, seinen Geliebten, Judah Low, und den Eisernen Rat zu finden.

-In years gone, women and men are cutting a line across the dirtland and dragging history with them. They are still, with fight-shouts setting their mouths.-

Iron Council (Der Eiserne Rat) ist Miévilles dritter Bas-Lag-Roman. Auch, wenn die einzelnen Romane unabhängig voneinander zu lesen sind, so bietet sich Iron Council nicht unbedingt als Einstieg an, da es doch verhältnismäßig wenige Erklärungen zu New Crobuzon liefert und außerdem einige Anspielungen auf Perdido Street Station, den ersten Bas-Lag-Roman, für den Kenner oder die Kennerin bereithält.
Hatte in Perdido Street Station der Stadtmoloch New Crobuzon die düster-faszinierende Kulisse geliefert und in The Scar die schwimmende Piratenstadt Armada für Seefahrerflair gesorgt, so verleiht Iron Council der Bau einer Bahnlinie von New Crobuzon aus quer über den Kontinent Westernatmosphäre mit allem, was dazugehört: skrupellose Unternehmer, einsame Revolverhelden und selbstbewusste Prostituierte. Wie schon in The Scar wird die Welt außerhalb des autoritär regierten Stadtstaates New Crobuzon weiter erkundet. Die politische Landschaft bleibt zwar weiterhin eher schemenhaft, nimmt aber konkretere und bedrohlichere Formen an, das eigentliche Schmankerl des Romans in dieser Hinsicht ist aber die faszinierende Geographie, die Miéville wieder mit phantastischen Naturerscheinungen und Lebewesen füllt, aber auch mit einfallsreichen Kulturen, die unter die Räder des Eisenbahnexpansionismus geraten.

Besonders der Handlungsstrang rund um Judah Low, der die Vorgeschichte und die Entstehung des titelgebenden Eisernen Rats schildert, profitiert vom Wilder-Westen-Flair, aber auch von den interessanten Nebenfiguren. Die Suche Cutters nach seinem Geliebten dagegen leidet hauptsächlich unter dem spröden Protagonisten. Der dritte Handlungsstrang rund um den jungen Ori spielt dagegen in New Crobuzon und ist auf vielfache Weise mit den anderen beiden verwoben. Wieder lernt man die Metropole etwas besser kennen, andere Stadtviertel und Milieus geraten in den Mittelpunkt. Gerade die Figur des jungen, ebenso idealistischen wie ungeduldigen Ori, der die soziopolitischen Verhältnisse in seiner Heimatstadt unbedingt verändern möchte, und seine Geschichte tragen durch den Roman, auch weil sie eine andere Perspektive auf die zugrundeliegende Thematik politischer Veränderungen liefern.

Iron Council ist somit Miévilles bisher politischster Bas-Lag-Roman, ist allerdings weit davon entfernt ein Manifest zu sein. Wer mit der sozialen und politischen Thematik nichts anfangen kann, der bekommt zwar immer noch eine spannende und wendungsreiche Geschichte, wer sich aber auch nur ein wenig für gesellschaftliche und politische Themen und die Frage, wie man eine Gesellschaft gerechter machen kann (Reform oder Revolution?) interessiert, dem/der eröffnet sich eine zusätzliche Ebene des Romans, die ebendies vielschichtig behandelt, ohne eine endgültige Antwort liefern zu wollen. Das verdeutlicht auch das Ende, das einen genialen Kontrapunkt zu den sich zunehmend überschlagenden Ereignissen des Romans setzt und einen nachdenklich zurücklässt. (Weswegen wir es auch in einem Blog zum Thema “Buchenden” angesprochen haben.)

Neben den politischen Fragestellungen greift Miéville auch phantastische Ideen auf, diesmal ist es das Schaffen eines Golems, wobei das Konzept im Verlauf der Handlung weiter entwickelt wird und die Kontrolle über tote wie lebendige Materie (und anderes) im Mittelpunkt steht.
Wie auch schon in den vorangegangenen Werken ist Miévilles Stil ein zweischneidiges Schwert. Einerseits passt seine Sprachkraft wunderbar zu der von ihm erschaffenen Welt und es gelingt ihm mit seinem schon monströsen Wortschatz bildgewaltige Szenen zu erschaffen, andererseits wird das Lesen und Verstehen des Romans so selbst für geübte Leser/Leserinnen zu einer echten Herausforderung und der Grat zwischen überbordend und Schreiben um der Sprache willen ist schmal. Wer sich den Griff zum Original daher nicht zutraut, kann die Geschichte von Judah Low, Cutter und Ori in der deutschen Übersetzung Der Eiserne Rat (die erste ungesplittete Bas-Lag-Übersetzung) genießen.