Bellis Coldwine muß ihre Heimatstadt New Crobuzon verlassen und mit einem Schiff in eine ferne Kolonie zu flüchten. Mit ihr an Bord sind andere Passagiere und ein ganzer Rumpf voller Gefangener – Arbeitssklaven für die Kolonie. Doch sie erreichen niemals ihr Ziel: Nach einem Überfall werden alle Reisenden zwangsweise zu Bürgern von Armada gemacht – einer Piratenstadt, die über die Meere von Bas-Lag treibt. Während die Gefangenen nun frei sind und Armada loyal gegenüberstehen, kann sich Bellis nicht damit abfinden, bis ans Ende ihrer Tage dort bleiben zu müssen. Als sie herausfindet, daß die Führer der Stadt nach dem größten aller Meeresungeheuer fischen wollen, versucht sie ihr Wissen zur Flucht einzusetzen.
-A mile below the lowest cloud, rock breaches water and the sea begins.
It has been given many names. Each inlet and bay and stream has been classified as if it were a discrete.-
Zum zweiten Mal gelingt China Miéville das Kunststück, vorzuführen, was Fantasy alles könnte und wie wenig davon in vielen Fällen realisiert wird. Zeitlich knüpft The Scar direkt an den Vorgänger Perdido Street Station an, steht aber im Bezug auf Handlung und Figuren seperat und erzählt ein völlig neues Kapitel aus der Geschichte der Welt Bas-Lag.
Komplex, kreativ, realistisch und ausufernd ist Miévilles Bas-Lag, es gibt faszinierende neue Völker und Wesen zu entdecken, die Strukturen der Gesellschaft sind ungewohnt gut ausgearbeitet, und auch wenn die großen Zusammenhänge obskur bleiben, hat man stets das Gefühl, sich in einer Umgebung mit politischem und geschichtlich authentischem Hintergrundgeschehen und verschiedenen koheränten Kulturen zu bewegen – doch Fans klassischer Fantasy seien gewarnt: Das Zeitalter entspricht ungefähr der frühen Moderne, in der Maschinen, Wissenschaft und sozialer Sprengstoff, aber auch Thaumaturgie und “magische” Schwerter an der Tagesordnung sind.
Gerade die sozialkritische Komponente kommt immer wieder zum Tragen – in der freien, anarchistischen Piratenstadt Armada entwickelt sich unweigerlich die altbekannte Dynamik und die Gesellschafts- und Herrschaftsstrukturen bleiben letztendlich unveränderlich. Für Leser, von die brisanten Themen in der Fantasy lieber verschont bleiben möchten, ist der Roman daher wenig empfehlenswert.
Auf der anderen Seite wartet allerdings ein großartiges Entdecker- und Meeres-Abenteuer in The Scar (daß Miéville auch submarine Spezies im Portfolio hat, macht gleich zu Beginn des Romans ganz neue Welten zugänglich), und dort kann sich der Autor beim Schöpfen von Monstern und Schauplätzen und in aberwitzigen Ideen austoben, und hat zugleich eine schillernde Projektsionsfläche für Denkansätze verschiedenster Art geschaffen. The Scar mutet teils wie ein bizarrer Fiebertraum an, bleibt aber doch von einer brutalen Realität, in der einem mit grandioser und auch schonungsloser Sprache verstörende und einprägsame Bilder vermittelt werden.
Damit man nicht ganz von der mitreißenden maritimen Entdeckungsreise weggespült wird, sorgt die Protagonistin Bellis für etwas Distanz – sie ist eine spröde Hauptfigur, die sich nicht mit Armada identifizieren kann und sich ihr erzwungenes neues Dasein um keinen Preis aneignen will, selbst als sich ihr ungeahnte Möglichkeiten auftun. Unterstützt wird sie von weiteren Figuren, aus deren Sicht berichtet wird, und die teils zugänglicher als die Heldin sind. Doch Miéville spielt ohnehin mit dem Leser und seinen Figuren, und die Haupthandlung, die am Anfang eher ruhig vor sich hintreibt, gewinnt Schlag auf Schlag an Dynamik und führt einen immer wieder an der Nase herum.
Helden, Pathos und Vorhersehbarkeit gestattet diese Geschichte nicht, statt dessen hat alles einen hohen Preis und läßt Leser wie Figuren verändert zurück. Schon allein wegen dieser emotionalen Kraft lohnt sich der Besuch in Armada – nebenbei sicherlich eine der außergewöhnlichsten Fantasy-Städte, die je beschrieben wurden.