Category: Zettelkasten

Kane - Der Blutstein von Karl Edward WagnerKürzlich hat eines der spannendsten Projekte das Licht der Welt erblickt, an denen ich letztes Jahr gearbeitet habe, und damit tritt ein Gigant der Sword & Sorcery erneut auf den Plan: Kane, der rothaarige Hüne, der aber kein Barbar ist, sondern ein gebildeter, sogar in dunklen Künsten bewanderter Reisender, ein erfahrener Stratege und ein Kämpfer vieler Schlachten. Darüber hinaus hat er ein paar richtig miese Charaktereigenschaften, die zum Teil schlicht aus Langeweile resultieren, der Mann streift nämlich schon mehr oder weniger seit Anbeginn der Zeit verflucht durch die Welt. Und zwar durch eine ganz großartige: Weit und alt und erhaben, bevölkert von den merkwürdigsten Wesen und voller Magie, von der aber die meisten vernünftigen Leute lieber die Finger lassen, weil man einen hohen Preis dafür bezahlt (und der Sache ohnehin nicht ganz traut).
Magie und der Preis der Macht, den sie verleiht, und die normalen, mehr oder weniger vernünftigen Herrscher zweier Stadtstaaten, die sich in einem guten alten Nachbarschaftskonflikt befinden und eine Intrige nach der anderen spinnen, stellen das Thema des ersten Bandes der Neuauflage der Kane-Romane, Der Blutstein (ISBN: 978-3-942396-91-2). Für einen Mann wie Kane ist so ein Szenario die reinste Spielwiese …

Die Sammelbände mit den Kane-Geschichten waren jahrelang nur gebraucht erhältlich, und das nicht einmal zu ganz kleinen Preisen. Nochmal (oder auch überhaupt) sollte man sich Der Blutstein aber nicht nur wegen der schicken einheitlichen Aufmachung kaufen, sondern vor allem, weil der Text im Vergleich zur alten Fassung nicht nur kosmetisch behandelt, sondern komplett angepasst und vervollständigt wurde. Eine Übersetzung vom Ende der 1970er, als der Band ursprünglich auf Deutsch erschien, kann man mit heutigen Übersetzungen nicht vergleichen: Sie waren nicht selten gekürzt (z.B. um bestimmte Längenvorgaben nicht zu überschreiten), manchmal hatte auch der Jugendschutz seine Finger im Spiel und nicht zuletzt waren die Recherchemöglichkeiten deutlich geringer. Die Übersetzung wurde bisweilen um ganze Szenen ergänzt und vollständig durchgesehen, und auch der ursprüngliche Übersetzer Martin Baresch hat sie noch einmal überarbeitet – man bekommt also einen wirklich rundum überholten Kane.

Aber auch, wenn man Kane noch nicht im Regal hat, lohnt es sich durchaus, ihn kennenzulernen. Damit erkundet man nicht nur ein Stück Genre-Historie, sondern hat einen alles in allem gut gealterten, stilistisch ansprechenden Roman mit viel Action, wunderbaren Beschreibungen und einem schönen Figurenensemble, denn die Herrscher der Stadtstaaten, sei es der gebildete, als unmännlich verunglimpfte Dribeck oder sein Rivale, der rustikale Haudrauf Malchion, machen viel Spaß, ebenso ihre Schergen, und vor allem die faszinierende Hauptfigur Kane. Besonders hervorzuheben ist auch die weibliche Hauptfigur, die heute noch progressiv wirkt und eine tragende (und schlagkräftige) Rolle spielt – anders als der düstere, abgehobene Kane ist sie auch eine für Leserinnen und Leser zugängliche Figur.
Da das Original ziemlich harter Tobak ist, gibt es sozusagen keine bessere Gelegenheit, sich einen der ambivalentesten Helden der Sword & Sorcery einmal anzuschauen!

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Cover von The Books of the South von Glen CookNach dem Fall des Dominators macht sich die Black Company auf den Weg nach Süden und damit zu einer Reise in die eigene Vergangenheit – nach Khatovar. Dabei finden sich nicht nur neue Rekruten für die geschrumpfte Truppe, sondern auch neue Herausforderungen. Denn als die Gruppe die Stadt Taglios erreicht, sieht sie sich erneut dunklen Mächten gegenüber, die ihren Weg blockieren. Im Auftrag der Stadt Taglios, mit der die Black Company scheinbar mehr verbindet als ein Vertrag, muss Croaker nun seine Rolle als Hauptmann tatsächlich voll ausfüllen.

Zur ganzen Rezension bitte hier entlang.

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Am vergangenen Wochenende war es im Rahmen des BuCon wieder soweit: Der Deutsche Phantastikpreis 2013 wurde verliehen, und in diesem Jahr gibt es Bewegungen in den ersten Reihen. So stammt der beste deutschsprachige Roman (Die zerbrochene Puppe) in diesem Jahr von Judith & Christian Vogt, die beste deutsche Kurzgeschichte (Der Automat) kommt von Bernd Perplies. Diese und weitere Gewinner findet ihr auf der Homepage des dpp.
Die fleißigen Helferlein der Bibliotheka Phantastika möchten sich auch wieder ganz herzlich bei all denen bedanken, die für uns in der Kategorie »Beste Internetseite« abgestimmt und mit uns den 2. Platz verteidigt haben. Wir werden uns freilich nicht auf den Loorbeeren ausruhen und weiterhin in den tückischen Tiefen der Regale graben, um euch auch in Zukunft spannende Bücher und Artikel liefern zu können. 🙂

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Da kommt ein neuer Film ins Kino oder ich entdecke zufällig einen im Fernsehen, den ich thematisch interessant finde, und das erste, was ich denke, ist: ist das eine Buchverfilmung? Auf diese Weise sind mir schon ein paar Bücher in die Hände gefallen, die ich ohne ihre Verfilmungen gar nicht wahrgenommen hätte. Hier kommen fünf Beispiele:

1. The Last Unicorn (Das letzte Einhorn) – Peter S. Beagle
Das letzte Einhorn: FilmauszugWer kennt nicht die Geschichte vom letzten Einhorn, das loszieht, um seine Artgenossen zu finden? Die Verfilmung aus dem Jahr 1982 gehört zu den schönsten Filmerinnerungen, die ich aus meiner Kindheit habe. Erst knapp zwanzig Jahre später wurde mir klar, dass es dazu eine Buchvorlage gab. Obwohl der Roman wirklich schön ist und viel mehr Handlungsdetails enthält, kann das Buch in diesem Fall aber nicht an den Zauber heranreichen, den ich schon als Kind beim Betrachten des Films empfand. Vielleicht ist es hier eine Frage des Alters und dessen, was einen zuerst verzaubert hat, aber für mich bleibt der Film knapp Favorit vor dem Buch!

2. Stardust (Der Sternwanderer) – Neil Gaiman
Stardust - Sternwanderer von Neil GaimanHier sehe ich schon eine Protestwelle auf mich zukommen, doch sei es drum: das Buch war nett, der Film war besser!
Selten so gelacht im Kino wie bei Stardust, mit Darstellern wie Robert De Niro, die in ihrer Rolle aufgehen, tollen Kostümen und visuell farbenprächtigen Designs. Der Buchvorlage dagegen fehlt der Witz völlig und sie ist nur ein schwacher Schatten verglichen mit der lebendigen Verfilmung. Da hatte ich mir deutlich mehr versprochen und war, da ich den Film zuerst gesehen habe, von dem Buch anschließend doch ziemlich enttäuscht.

3. The Lovely Bones (In meinem Himmel) – Alice Sebold
The Lovely Bones - In meinem Himmel von Alice SeboldAuch hier bin ich erst durch den Film auf das Buch aufmerksam geworden. Eine recht traurige Geschichte, die mit der Ermordung der fünfzehnjährigen Susie Salmon beginnt, deren allessehender Geist die Folgen und Ereignisse nach ihrer Ermordung erzählt. Sowohl in Film als auch Buch gibt es nur wenige Berührungspunkte zwischen der realen Welt und dem Geist, die phantastischen Elemente spielen sich daher eher im Kopf ab. Dafür ist die Erzählweise sehr eindringlich und der Hauch von Mystik reicht völlig aus, um eine ganz spezielle Atmosphäre zu schaffen. Als Bonus gibt es ein paar sehr malerische Bilder aus Susies “Himmel”.
Wenn es auch mal ein wenig ans Herz gehen darf, sind sowohl Film als auch Buch sehr empfehlenswert.

4. Die Triffids – John Wyndham
Die Triffids von John WyndhamDas einzig gute an der Verfilmung war, dass ich dadurch erst auf einen wirklich guten dystopischen Roman aufmerksam wurde, der wohl schon bei meiner Geburt als alt galt. Solche alten Schätze zu finden, geschieht bei mir fast immer zufällig und durch mittelmäßige Filme, deren Thema eigentlich spannend klingt. Wer sich also mit den Killerpflanzen näher befassen will, spart sich die zahlreichen Verfilmungen und schnappt sich die deutlich spannendere Buchvorlage.

5. Die Brautprinzessin (Die Braut des Prinzen) – William Goldman
Die Brautprinzessin von William Goldman»Hallo, mein Name ist Inigo Montoya. Du hast meinen Vater getötet. Jetzt bist du des Todes.«
Noch so ein Film aus den 80ern, der zeitlos ist und dessen Zitate über verschiedene Generationen hinweg verstanden werden. Wilde Scharmützel, eine vorlaute Jungfrau in Nöten, ein gewitzter Prinz und verwunschene Landschaften, die von phantastischen Kreaturen bewohnt werden. Die klassische Queste eines Fantasy-Films/-Romans mit durchaus typischen Rollenverteilungen, die aber einen sehr unterhaltsamen Film ergeben. Leider ist das Buch nur halb so lustig und die weibliche Hauptfigur dafür dreimal so dumm und unsympathisch, da bleibe ich lieber bei der Verfilmung und erfreue mich an ein wenig mehr Intelligenz bei der Dame, als es ihr der Autor des Buches zugesteht.

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Matthew Woodring Stover schreibt nicht nur famose Star-Wars-Romane, sondern entfaltet seine genre-sprengenden und wegweisenden Ideen in den Acts of Caine, die die Geschichte Hari Michaelsons erzählen, der sich als Caine zur Unterhaltung des irdischen Publikums durch die Parallelwelt Overworld metzelt, auf dem Höhepunkt seiner Karriere aber andere Prioritäten setzt.
Die Acts of Caine sind in diesem Jahr als Ebooks neu erschienen, allerdings sind sie bisher nicht in deutscher Übersetzung erhältlich. Matthew Stover hat uns ein paar Fragen beantwortet und zum Einstieg seine Fans für uns gefragt, weshalb die deutschen Verlage den Arsch hochkriegen und sich Caine holen sollten. Folgende Ideen kamen dabei heraus:

1. Aus dem gleichen Grund, weshalb es auch alle anderen machen sollten: Wer sich Caine nicht holt, den holt sich Caine.
2. Ich habe das dumpfe Gefühl, dass Nietzsche dabei eine Rolle spielen sollte – und hat nicht Caine in der Handlung von „Retreat“ ein Monokel von Zeiss benutzt? Beides deutsche Produkte. Damit packt man sie bei ihrer Eitelkeit.
3. Außerdem, weil Caines Spitzname auf Deutsch „Blutworst“ lauten würde.

Noch mehr Gründe findet ihr auf Facebook

Bibliotheka Phantastika: Du hast eine schauspielerische Ausbildung; Hari Michaelson, der Protagonist der Acts of Caine ist Schauspieler; und in deinen Romanen, vor allem in Heroes Die, geht es um das Verhältnis zwischen Schauspieler und Publikum, oder im weitesten Sinn zwischen der Geschichte und ihrer Wahrnehmung. Hast du für deine Romane Techniken des filmischen Erzählens übernommen? Was verdankst du Film und Theater?

Matthew Woodring Stover: Bei der Ausbildung von Schauspielern kommen eine Reihe von verschiedenen Techniken zum Einsatz; die brauchbarste für mich stammt aus dem Filmschauspiel, auch wenn ich fürs Theater ausgebildet wurde. Anstatt eine Figur als Konstrukt zu sehen, in das ich meine Darstellung einpasse, prüfe ich als erstes jeden Berührungspunkt, den es zwischen dem Leben der Figur und meinem gibt. Die Figur und ich sind nie voneinander getrennt, ganz im Gegenteil. Ich habe eigentlich immer die Person gespielt, die ich gewesen wäre, hätte ich über den Hintergrund, die Ziele, Fähigkeiten und Beschränkungen der Figur verfügt. Sobald man die Welt so sieht wie die Figur, ist man in der Rolle; dann kann man sich auf Stil und Timing konzentrieren.
Ein Schlüsselerlebnis während meiner Ausbildung war die Darstellung von John Tarleton in Shaws Falsch verbunden. Es ist vermutlich das Stück von Shaw, das einer frivolen Farce am nächsten kommt – im Prinzip ist es eine lange Abfolge von (sehr lustigen) Debatten, die ausgesprochen kluge und sprachgewandte Leute über Geschlechterrollen, Klasse und den potentiellen Nutzen von Scheinheiligkeit und moralischer Verblendung für den Erhalt glücklicher Familienbande führen. Der Regisseur dieser Produktion, der großartige William S. E. Coleman, gab dem ganzen Ensemble ein Geheimnis mit auf den Weg, das seiner Ansicht nach ausschlaggebend für eine erfolgreiche Shaw-Aufführung war: “Jeder von euch muss im Kopf behalten, dass er der einzige ist, der recht hat. Alle anderen liegen falsch. Du bist der Star dieser Aufführung. Du bist der moralische Mittelpunkt des Stückes, und sein intellektueller Held. Und du hast nur Erfolg, wenn du alle anderen dazu bringst, zuzugeben, dass du die ganze Zeit recht hattest.”
Damit hat er eine grundlegende Wahrheit des guten Erzählens deutlich gemacht: Jede Figur ist der Held/die Heldin seiner oder ihrer Geschichte – das müssen sie sogar. Jede Figur, die ich schreibe (auch die Nebenfiguren), sind die Personen, die ich sein könnte, wenn ich über ihre Hintergründe, Ziele, Fähigkeiten und Beschränkungen verfügen würde – und ich schreibe diese Figur, als wäre er oder sie der Held.
Dadurch wird es allerdings etwas beunruhigend, Leute wie Berne oder Kollberg zu schreiben.
Am meisten habe ich der Erzählweise des Schauspiels wohl eine starke Präferenz dafür zu verdanken, meine Geschichten als Abfolge scharf umrissener Szenen zu erzählen anstatt in einem kontinuierlichen Fluss. Mir fällt es beim Schreiben am schwersten, Veränderung über Zeit aufzubauen; ich springe lieber zur nächsten guten Szene weiter und überlasse die Entwicklungen dazwischen den Vorstellungen der Leser und Leserinnen. Und ich finde durchaus, dass ich filmisch erzähle. Ein befreundeter Drehbuchautor hat mir einmal gesagt, dass er im Handumdrehen ein Drehbuch aus Heroes Die machen könnte, gleich aus dem Text des Romans; er meinte, dass sogar die Kamerawinkel schon in jeder Szene aufgeführt wären. Ich habe das als Kompliment genommen. Meine Bücher sind im Grunde eine Niederschrift der Filme, die sich in meinem Kopf abspielen.

BP: Der Monolog, eine Art Voice-over, das wir zu lesen bekommen, wenn Caine auf Sendung geht, ist nicht dasselbe, als wären wir in seinem Kopf und würden jeden seiner Gedanken mitbekommen. Ist das von Vorteil? Ist die Auslassung ein Werkzeug, das man einbüßt, wenn man zur Charakterisierung vollkommen in die Figuren eintaucht?

MWS: Mein Interesse an den erzählerischen Einsatzmöglichkeiten der ästhetischen Distanz wurde geweckt, als ich zum ersten Mal Fitzgeralds Der große Gatsby las (in einem für einen Amerikaner sehr fortgeschrittenen Alter, weil ich es irgendwie geschafft habe, die Lektüre in der Schule zu überspringen). Die Faszination, die Gatsby auf Nick ausübt – und damit indirekt auch auf den Leser – schien mir unmittelbar aus Gatsbys Undurchsichtigkeit zu erwachsen. Gatsby ist eine Performance – eine von Jay Gatz geschaffene Figur, der damit nicht nur den Menschen darstellt, als der er von allen gesehen werden will, sondern den Menschen, der er sich wahrhaft zu sein wünscht. Aus diesem Grund ist Gatsby hypnotisierend: er wurde bewusst als wunderschöne Maske entworfen. Ein Kunstwerk im Kunstwerk.
Ich wollte, dass den Lesern klar wird, dass auch Caine eine Performance ist. Dass er eine Figur ist, die Hari Michaelson geschaffen hat, um derjenige sein zu können, der er sein muss: mächtig, gefürchtet und frei. Ich hatte gehofft – und ich hoffe nach wie vor – dass die Leser dadurch angeregt werden, sich zu überlegen, was er jenseits der Vorstellung, die er vor dem Publikum des Studios gibt, wirklich denkt. Und dass sie ein Auge darauf haben, wie genau und weshalb er diese Performance einsetzt, um sein Publikum (und meins) zu beeinflussen. Sprich, dass sie sich ganz kreativ ihr eigenes Bild von dem Mann hinter der Maske erschaffen. Und ich habe gehofft, dass nach und nach klar werden könnte, dass auch Hari Michaelson eine Perfomance ist – mit dem Unterschied, dass das Publikum, vor dem Hari spielt, er selbst ist.
Wenn ich richtig verstehe, was ihr mit “vollkommenem Eintauchen in die Figur” meint – also, dass man dem Leser ungefilterten Zugang zum wahren Charakter gewährt – dann glaube ich, dass es eine Mogelpackung ist. Man kann niemals ganz in eine Figur eintauchen, außer an ihr ist schon von vornherein nicht viel dran. Ich denke, auch unser Charakter ist zum Großteil ein Konstrukt der Vorstellungskraft – dass vieles von dem, was wir zu sein glauben, eigentlich eine Performance ist, die wir für uns selbst vorführen. Rezensenten merken hin und wieder an, dass ich meine Figuren immensem psychologischen Druck aussetze; ich sehe das eigentlich gar nicht so. Ich versuche nur, ihre Masken aufzubrechen.

Acts of Caine
BP: In deinen Romanen geht es oft um die Erkenntnis der Wahrheit, und der Wahrheit näherst du dich häufig in Metaphern (oder auch andersherum, wie es Duncan Michaelson, Haris Vater, ausdrücken würde: “Ist eine Metapher stark genug, schafft sie ihre eigene Wahrheit.”) Hast Du das Gefühl, dass Sprache bzw. Erzählen stark genug ist, um die Wahrheit in einer Zeit zu zeigen, in der vielleicht Bilder und Film die dominierende Kunstform sind? Gibt es etwas, das man erzählen, aber nicht zeigen kann?

MWS: Um es frei nach Nietzsche zu sagen – der im Rahmen seiner bekannteren Beobachtungen zum Wesen des Menschen etliche interessante Dinge über die Kunst des Erzählens zum Besten gegeben hat –, wird die Wahrheit durch die Masken enthüllt, die sie trägt. Dafür ist Kunst da. Es ist eines, jemandem zu sagen, dass es zerstörerisch ist, gegen das Schicksal anzukämpfen, und etwas anderes, wenn man ihm König Ödipus vorführt.
Um nicht zu tief in die Erkenntnistheorie einzutauchen, will ich es einfach dabei belassen, dass die Wahrheit, die mich interessiert, nicht aus Fakten entsteht. Sie ist nicht verifizierbar, messbar oder (genau genommen) auch nur berechenbar. Die Wahrheit, nach der meine Figuren streben, ist Sinnhaftigkeit, und daher ist sie dem Wesen nach subjektiv – man könnte sogar sagen, ein Fantasiegebilde. Es sollte aber klar sein, dass ich mit Fantasiegebilde nicht meine, dass sie nicht vorhanden ist, oder auf irgendeine Weise unwirklich. Fantasie ist nicht nur wirklich, sie ist die Wurzel aller menschlichen Errungenschaften. Sie ist die einzige Superkraft der Menschheit.
Um also auf die Frage zu antworten, ob man mit Worten Wahrheiten ausdrücken kann, die nicht zu zeigen sind, dann würde ich nein sagen. Natürlich nicht. Worte sind nur Zeichen auf Papier. Vibrationen in der Luft. Allerdings haben Worte eine einzigartige Fähigkeit, die Fantasie derjenigen anzuregen, die sie lesen oder hören … und an dieser Stelle spielt sich dann die ganze Magie ab.

BP: Alle, die von stereotypen Frauenfiguren in der Genreliteratur die Nase voll haben, werden positiv überrascht sein, wenn sie einen deiner Romane zur Hand nehmen: Ob man sich nun Barra ansieht, die piktische Söldnerin und ehemalige Prinzessin aus Eiserne Dämmerung und Mond über Jericho, oder die schonungslos effektive Avery Shanks, kämpferisch als Großmutter und Unternehmer, und natürlich die Pferdehexe, die schlicht und ergreifend die coolste Heldin ist, der ich bisher in einem Buch begegnen durfte – sie alle scheinen sich Klischees zu entziehen, und sogar deine Prinzessin Leia ist dafür bekannt, ordentlich auf den Putz zu hauen. Was hat dich dazu bewogen, einen anderen Pfad als deine Kollegen einzuschlagen?

MWS: Irgendwie habe ich es geschafft, einen Bogen um die männliche “Mädchen sind eklig”-Entwicklungsstufe zu machen. Was mich im Lauf der Jahre zu dem unausweichlichen Schluss geführt hat, dass Frauen Menschen sind. Und dass Menschen zuallererst Menschen sind, und Männer, Frauen, jedwede Zusammenstellung aus beidem (oder sonst etwas; ich bin da offen) erst an zweiter Stelle. Vielleicht auch an fünfter Stelle. Ich weiß, das klingt radikal, aber da habt ihr es. Es ist mir jedoch ganz klar, dass es nicht zweckmäßig ist, eine Frau als Mann mit Titten zu schreiben, genauso wenig wie ein Mann lediglich eine Frau mit einem Schwanz ist.
Schaut mal: Es gibt etliches, was Frauen freiwillig machen und ich als Mann gar nicht. Zum Beispiel Make-up tragen. (Und das liegt nicht daran, dass ich nicht weiß, wie das geht; ich war Schauspieler. Ich weiß ziemlich genau, wie ich mich hübsch machen kann.) Es ist nur so, dass ich nach und nach erkannt habe – auch wenn mir dabei von Natur aus im Wege steht, dass ich als männlicher, heterosexueller Amerikaner geboren wurde -, dass eine Frau, die sich schminkt, das nicht macht, weil sie eine Frau ist. Sie schminkt sich vielleicht, weil sie sich einer gesellschaftliche Norm anpasst. Um ihre Attraktivität zu erhöhen, oder um anzudeuten, für welche Arten zwischenmenschlicher Interaktion sie offen ist und von welchen sie lieber verschont bleiben möchte. Um jünger auszusehen, oder älter, oder einfach anders. Um persönliche Macht auszudrücken, oder um ihre Bereitschaft zur Unterwerfung anzuzeigen, oder beides. Um aufzufallen oder sich einzufügen. Vielleicht ist es aber auch nur eine Gewohnheit, über die sie gar nicht richtig nachdenkt. Oder ein anderer aus einer Vielzahl von Gründen, oder überhaupt kein Grund.
Etliche Männer schminken sich übrigens aus einem oder allen der oben genannten Gründe – das Problem, das einige (meist männliche) Autoren offenbar haben, ist jedoch, dass sich der Autor für den Grund interessiert, wenn eine seiner männlichen Figuren Make-up auflegt, aber wenn eine weibliche Figur das tut, interessiert sich der Autor eigentlich gar nicht dafür, denn Mädchen schminken sich nun mal. Jedes Mädchen will doch hübsch aussehen, stimmt’s? Stimmt’s?
Nun ist es eigentlich so, dass sich viele der Frauen in meinen Büchern nicht groß schminken (auch wenn eine gewisse alderaanische Prinzessin eine ziemlich raffinierte Barra/Schicksal-ZyklusFrisur hat). Es ist auch so, dass sie, wie sich einige Leute beschwert haben, keine sonderlich typischen Frauen sind. Die Frauen in meinen Büchern neigen dazu, klug, wagemutig, findig, mitunter grausam und von Verletzungen gezeichnet zu sein, die sie außerordentlich gefährlich machen. Was diejenigen, die sich beschweren, häufig nicht sehen, ist die Tatsache, dass die Männer in meinen Büchern auch dazu neigen, klug, wagemutig, findig, mitunter grausam und von Verletzungen gezeichnet zu sein, die sie außerordentlich gefährlich machen. Das liegt daran, dass normale Leute meistens ein bisschen dumm sind, vorsichtig, wenn nicht gar ängstlich, wenig einfallsreich, nett und so unversehrt, dass sie im Allgemeinen ungefährlich sind, und daher ist es nicht sonderlich interessant, über sie zu schreiben.
Zum Teil mag es auch daran liegen, dass sich Barra ursprünglich meine Ex-Frau (und sehr gute Freundin) Robyn Drake ausgedacht hat, und einige andere Frauen in meinen Büchern wurden von ihr inspiriert, und Robyn ist selbst klug, wagemutig, findig, mitunter grausam und von Verletzungen gezeichnet, die sie außerordentlich gefährlich machen.
Vielleicht schreibe ich nur über das, was ich kenne.

BP: Hari/Caine ist selbst zu dem Zeitpunkt, als man ihm in Heroes Die zum ersten Mal begegnet, kein junger Mann, der sich seinen Platz in der Welt erst schaffen muss. Wir treffen sein jüngeres Selbst in Caine Black Knife, aber du hast einmal gesagt, der jüngere Caine, den man im Rückblick sieht, würde dich nur im Unterschied zu seiner älteren Version interessieren. Welche Möglichkeiten siehst du, wenn du die Geschichte eines gereifteren Helden erzählst? Können solche Geschichten auch Leser und Leserinnen ansprechen, die eher typische Coming-of-Age-Geschichten gewohnt sind?

MWS: Unschuld interessiert mich nicht. Wenn ihr mir die unanständige Metapher nachseht: So etwas wie tollen Sex mit einer Jungfrau gibt es nicht.
Mir gefallen Profis. Mir gefallen Experten. Mir gefallen intelligente, kreative Leute. Ich sehe gerne intelligenten Profis dabei zu, wie sie ihre Expertise auf kreative Art und Weise ausüben. Stümperei in allen Formen langweilt mich schnell – um nicht zu sagen sofort.
Schaut, es gibt jede Menge tolle (habe ich zumindest gehört) Coming-of-Age-Fantasy-Abenteuer. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich zu diesem Thema etwas Brauchbares beizutragen hätte. Ob nun meine Bücher Fans der Tapferen Prinzessen, die das Königreich rettet, ansprechen können – nun, alle Anzeichen deuten darauf hin, dass das nicht der Fall ist.

BP: Fantasy und SF Marke grim&gritty und zynische Helden sind groß in Mode gekommen, seit du vor fünfzehn Jahren Heroes Die veröffentlicht hast. Aber in deinen Romanen geht es auch um das Erhabene und Trost. Wo hat für dich der Zynismus seine Grenzen oder gar ein Ende?

MWS: Zynismus? Caine ist ein Idealist (wenn auch mit einer nicht gerade sentimentalen Vorstellung vom Wesen des Menschen). Er weiß, dass wir besser sein können, als wir sind. Es macht ihm nicht einmal etwas aus, dass wir uns dagegen entscheiden, solange wir nicht jemanden behelligen, der ihm wichtig ist. Leider landen Leute, die sehr gute schlechte Menschen abgeben, häufig in mächtigen und einflussreichen Positionen, wo sie die Welt (wenn sie es wollten) etwas weniger beschissen gestalten könnten, aber sich stattdessen entscheiden, noch mehr Scheiße beizusteuern, und wenn ihr ganzer Scheißhaufen dann in Caines Leben hinüberschwappt, nun, dann …
Ich selbst bin nur im klassischen Sinne ein Zyniker oder vielmehr Kyniker – ich halte es also wie Diogenes: Die mich beschenken, umwedle ich, die mir nichts geben, belle ich an, und die Schufte beiße ich.
Ich habe einmal eine Kurzgeschichte ganz konkret über die Grenzen des modernen Zynismus (oder, wie man eigentlich sagen müsste, Nihilismus) geschrieben. Sie heißt “In the Sorrows” und darin geht es – alles andere als zufällig – um den jungen Hari Michaelson, der eines Tages zu Caine heranwachsen wird. Ihr findet sie hier.
Sie fasst alles zusammen, was ich zu diesem Thema zu sagen habe.

BP: Gewalt ist ein Kernthema in deinen Romanen. Ist extreme Gewalt ein notwendiges Werkzeug, um gute Geschichten zu erzählen? Was, wenn man sie als reine Unterhaltung betrachtet, wie in den “Rollenspiel”-Abenteuern, die die Massen in der gar nicht mal so weit entfernten Zukunft der Acts of Caine konsumieren?

MWS: Eine sorgfältige Untersuchung von Gewalt als Form der Unterhaltung ist das Hauptthema von Heroes Die. Danach würde ich sagen, dass es weniger ein Thema als eine Grundgegebenheit des Universums ist, vor allem, wenn eine der Hauptfiguren auf so spektakuläre Weise zur Gewalt neigt, wie es bei Caine der Fall ist.
Ich glaube nicht, dass Gewalt allgemein ein grundlegendes Werkzeug des Geschichtenerzählens ist … aber für mich trifft das offenbar schon zu. Ich habe einmal einen Schreibkurs bei Gary Gildner belegt, einem renommierten Dichter; seine Bemerkung zum meinem Abschlussprojekt war wortwörtlich: “Sie könnten eines Tages ein guter Schriftsteller sein, wenn Sie nur Ihre Besessenheit mit Gewalt, Wahnsinn und Tod hinter sich lassen.” Ich erinnere mich lebhaft daran, dass ich dachte: “Gewalt, Wahnsinn und Tod hinter mir lassen? Was gibt es denn sonst noch?”
Auch der Faktor der künstlerischen Verantwortung spielt hier mit hinein. Ich fühle mich verpflichtet, Gewalt so ehrlich darzustellen, wie es mir möglich ist: Dass sie immer traumatisch, häufig entsetzlich, manchmal lebenserschütternd ist, aber trotzdem auch unendlich faszinierend, bisweilen läuternd, und von Zeit zu Zeit macht sie richtig Spaß.

BP: Mit Figuren wie Berne und Kollberg trägt das reine Böse sehr menschliche Züge, dahinter steht aber auch ein göttlicher Antrieb. Glaubst du, dass das Böse als Eigenschaft des Menschen (oder manchmal sogar als Gabe, denn die Welt scheint ihren soziopathischen Helden zu brauchen) eine Institution benötigt, um sich zu entfalten? Oder ist die Neigung zum Weg des geringsten Widerstands letztlich verheerender und anfälliger für Institutionalisierung?

MWS: Das Wort böse ist mir in diesem Zusammenhang nicht ganz geheuer. Eigentlich in fast keinem Zusammenhang. Es ist zu abstrakt, als dass man es für etwas anderes als einen Begriff der allgemeinen Missbilligung nutzen könnte. Nicht alles Böse ist gleich beschaffen.
Um genauer zu sein:
Berne hat das, was Kriminalpsychologen als malignen Narzissmus klassifizieren würden; in seiner Vorstellung existieren andere Menschen ganz zu seinem Vergnügen, das reicht von der Befriedigung seiner niederen Gelüste bis dahin, einfach angemessen ehrfürchtig vor der ihm eigenen Herrlichkeit zu erstarren. Der institutionelle Anteil an Bernes Bösem ist eine Frage der Zweckmäßigkeit – er könnte auf sich gestellt genauso fröhlich Leute vergewaltigen, foltern und ermorden. Durch seine Beziehung zu Ma’elKoth wird es ihm lediglich möglich, das Ganze zu tun, ohne sich um negative Folgen Gedanken machen zu müssen. Bernes Konzept von richtig und falsch ist in der Praxis Spaß und Ma’elKoth könnte sich aufregen.
Kollberg ist dagegen ein reiner Angestellten-Typ; er misst seinen persönlichen Wert daran, wie gut er seiner Institution und seiner Gesellschaft dient. Er wird gerne für seine Fähigkeiten belohnt, aber ihm reicht auch ein freundliches Kopftätscheln und ein ernst gemeintes: “Gut gemacht!” Er strebt wirklich danach, ein guter Administrator zu sein – um das Ansehen seiner ganzen Kaste zu erhöhen, indem er den Gewinn und die gesellschaftliche Einflussnahme des Studios maximiert.
Ich will die Unterscheidung jedoch nicht überbewerten – immerhin besteht zwischen Berne und Kollberg eine eindeutige metaphorische Verbindung, denn Kollberg wird in einer sehr ähnlichen Funktion zum Diener des Blinden Gottes, wie Berne Ma’elKoth dient – aber der Kontrast zwischen beiden sagt genauso viel aus wie die Übereinstimmungen. Ma’elKoth strebt zum Beispiel danach, Bernes schlimmste Regungen zu bändigen, während der Blinde Gott sie bei Kollberg freisetzt.
Ich leide schon an einer instinktiven Abneigung und Argwohn gegen Institutionalisierung – aber nur, weil sie offenbar dazu führt, dass Einzelpersonen sich für den Charakter und das Vorgehen der Institution weniger verantwortlich fühlen. Wie Caine sagt: “Der Blinde Gott ist nicht böse. Menschen sind böse. Er ist zerstörerisch, weil wir es sind.”

Acts of Caine - Ebooks
BP: Das Fantasy-Setting der Acts of Caine, Overworld, nimmt viele Traditionen des Genres auf – es gibt dort Elfen, Diebesgilden, Zwerge und vieles mehr. Aber anders als die meisten traditionellen Fantasy-Settings ist es auch ein Ort, an dem man erstaunlich moderne Fragen und Themen verhandeln kann. Wo liegen die Grenzen und Möglichkeiten der Fantasy, und muss man das Genre sehr gegen den Strich bürsten, um das Beste herauszuholen?

MWS: Grenzen der Fantasy? Macht ihr Witze? Es gibt keine.
Fantasy ist nicht einmal ein Genre. Jede Literatur ist Fantasy. Andere Literatur”genres” sind nur Fantasien, die von einer gewissen Einengung durch Klischees, Setting und Plot abgezirkelt werden. Die einzigen Grenzen der Fantasy an sich sind die Fähigkeiten ihrer Schöpfer und die Vorstellungskraft des Publikums.
Ich habe einmal eine Rezension von Blade of Tyshalle entdeckt, in der der Rezensent falsch aus einem Interview zitiert hat, das ich vor langer Zeit gegeben habe; er hat behauptet, ich hätte geschrieben: “Alles, was man über das Leben wissen muss, kann man in meinen Büchern finden.” Das habe ich nicht gesagt. Ich habe gesagt: “Alles, was man über mein Leben wissen muss, kann man in meinen Büchern finden.” [Kursiv vom Autor] Ich erhebe nicht den Anspruch darauf, tiefe Einsichten in die Wirklichkeit zu haben, oder in den Sinn des Lebens auf dieser oder einer anderen Welt; ich versuche den Leuten nur zu zeigen, was meinen Figuren widerfährt, und wie meine Figuren mit ihren Erfahrungen umgehen. Ich glaube nicht, dass es an mir ist, die “wahre Bedeutung” der Geschichte oder irgendwelcher Einzelheiten darin zu erklären; meine Aufgabe ist es, euch die Bestandteile zu zeigen, die mir bedeutsam erscheinen, und euch zu euren eigenen Schlüssen kommen zu lassen. Am ehesten erkläre ich grundlegende Wahrheiten noch, wenn ich hin und wieder verlauten lasse, woran bestimmte Figuren glauben. Es liegt an euch, zu entscheiden, wie richtig oder falsch sie liegen.
Ansonsten verweise ich auf meine Anmerkungen weiter oben zum Thema Kunst, Wahrheit und Vorstellungskraft.

BP: Wo wir gerade bei Overworld waren … wie viel davon haben wir bisher zu Gesicht bekommen? Und wie viel das Publikum von Adventures Unlimited, dem Unternehmen, das die Aktiri dorthin schickt, damit sie “auf interessante Weise das Zeitliche segnen”?

MWS: Wollen wir mal sehen. Wir waren in Ankhana, Purthin’s Ford, Thorncleft, Mithondion und der Grafschaft Faltane. Was man alles zusammen locker in einem Stück Westeuropa unterbringen könnte. Als Diskussionsgrundlage kann man sich das übrige Overworld also als “alles außerhalb von Frankreich” vorstellen.
Es ist eine große, alte Welt da draußen.

BP: In den Acts of Caine führt Eskapismus (in der Form von Unterhaltung für die unterdrückte Gesellschaft, und viel direkter für Hari) zu Ausbeutung und Schlimmerem, auch wenn die Flucht von einer gewalttätigen Neigung getrieben wird, weniger vom Wunsch nach einem sicheren Zufluchtsort. In letzter Zeit scheint eine Extra-Portion Düsternis die Antwort auf die Kritik zu sein, dass Fantasy eskapistisch ist. Ist es heutzutage einfacher, in trostlose und grausame Welten zu fliehen, im Gegensatz zu den märchenhaften Welten, die die Fantasy in der Vergangenheit dominiert haben?

MWS: Eskapismus ist nur selten vom Wunsch nach einem sicheren Zufluchtsort getrieben. Der Antrieb ist beinahe immer der Wille zur Macht. Düsternis und Gewalt sind in der Fantasy noch nie eine Antwort auf die Kritik gewesen, das Genre wäre eskapistisch; jede Fiktion ist Eskapismus. In der Fantasy dürfen wir uns zumindest in eine Wirklichkeit flüchten, in der die Figuren die Macht haben, ihr Leben zum besseren zu wenden. Was die “märchenhaften Welten” angeht, also, habt ihr in letzter Zeit mal Robert E. Howard gelesen? Oder Fritz Leiber? Stephen Donaldson vielleicht? Zum Teufel, sogar Mittelerde ist ein verfluchter Alptraum, sobald man das Auenland einmal hinter sich lässt – und die fröhliche Landadel-Behaglichkeit des Auenlands ist eindeutig nur deswegen möglich, weil Gandalf und die Waldläufer es vor dem Rest der Welt sicher halten.

BP: Jeder Roman aus den Acts of Caine (außer vielleicht Caine Black Knife, das enger mit dem Nachfolger Caine’s Law verbunden ist) hat ein zufriedenstellendes und fest umrissenes Ende. Ich zum Beispiel war sogar so glücklich mit dem Ende von Blade of Tyshalle, dass ich gezögert habe, mit Caine Black Knife anzufangen. War es für dich schwer, Neuanfänge nach dem Ende zu finden?

MWS: Nun, es gibt einen Grund, weshalb Caine Black Knife sieben Jahre nach der Veröffentlichung von Blade of Tyshalle erschienen ist … und dieser Grund heißt: den Lebensunterhalt mit Star-Wars-Romanen und etwas anderem Kram bestreiten. Es wird mir niemals schwerfallen, neue Geschichten über Caine zu finden. Aber es macht richtig viel Arbeit, sie gut zu erzählen, und es wirft nicht sonderlich viel ab.
Ich hatte niemals die Absicht, ein Serienautor zu werden. Ich hatte niemals die Absicht, Leute mehr Bücher kaufen zu lassen, damit sie herausfinden, wie eine meiner Geschichten endet – der einzige Grund, weshalb Act of Atonement in zwei Bänden erschienen ist, liegt daran, dass es eigentlich zwei verschiedene Geschichten sind, die zusammen eine größere ergeben (ungefähr so, wie sich die beiden Erzählstränge in Caine Black Knife miteinander verbinden), und ich fand keine Möglichkeit, das alles sinnvoll in einem einzigen Band unterzubringen. Davon, dass es noch länger als Blade gewesen wäre, spreche ich noch gar nicht, und es hätte einen ganz schönen Klotz von einem Taschenbuch ergeben.
Die Acts of Caine sind Bücher mit Ausstiegsoption. Leute, denen Heroes Die gefällt, müssen nicht unbedingt Blade lesen; Leute, denen HD und Blade gefallen, müssen nicht unbedingt CBK und CL lesen. Ich hoffe natürlich, dass ihr es lesen wollt – in meiner Vorstellung eines anständig geführten Universums kauft jeder, der darin lebt, jedes Buch, das ich schreibe – aber bisher habe ich versucht, euch von dem Zug abspringen zulassen, wann immer ihr haltmachen wollt.

BP: Wir wollen doch mal hoffen, dass der Zug noch etliche Stationen anfährt und eine Menge Leute zusteigen – in diesem Sinne vielen Dank für das Gespräch!

Den englischen Originaltext findet ihr hier.

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Wie bereits im ersten Teil dieser Serie haben wir wieder eine kleine Auswahl von besonders gelungenen Buchanfängen zusammengestellt. Titel und Autoren werden wir später in den Kommentaren ergänzen, ebenso gegebenenfalls die deutschen Versionen der Texte – was euch natürlich nicht von Ratespielen abhalten soll, denn diesmal stammen einige der gewählten Ausschnitte aus wahren Klassikern 😉 :

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Die Welt, werte Herren, hat begonnen größer zu werden. Aber gleichzeitig ist sie auch kleiner geworden.
Ihr lacht? Weil ich, wie es scheint, Unsinn rede? Weil das eine das andere ausschließt? Gleich werde ich Euch beweisen, dass dies keineswegs der Fall ist.

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»Know, oh prince, that between the years the oceans drank Atlantis and the gleaming cities, and the years of the rise of the Sons of Aryas, there was an Age undreamed of, when shining kingdoms lay spread across the world like blue mantles beneath the stars – Nemedia, Ophir, Brythunia, Hyperborea […]. But the proudest kingdom of the world was Aquilonia, reigning supreme in the dreaming west. Hither came Conan, the Cimmerian, black-haired, sullen-eyed, sword in hand, a thief, a reaver, a slayer, with gigantic melancholies and gigantic mirth, to tread the jeweled thrones of the Earth under his sandaled feet.«

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The man in black fled across the desert, and the gunslinger followed.
The desert was the apotheosis of all deserts, huge, standing to the sky for what looked like eternity in all directions. It was white and blinding and waterless and without feature save for the faint, cloudy haze of the mountains which sketched themselves on the horizon and the devil-grass which brought sweet dreams, nightmares, death. An occasional tombstone sign pointed the way, for once the drifted track that cut its way through the thick crust of alkali had been a highway. Coaches and buckas had followed it. The world had moved on since then. The world had emptied.

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They were haunted hills. The villagers of Mon said that, trying to warn the young traveler. They warned of vengeful ghosts who would lead a boy astray, demons which could appear as foxes and owls, and dragons which could take human form. Most persuasive in their estimation – the boy’s quest was useless: the master took no students.

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It was the chill before dawn that woke him, and the snuffling and stamping of the great bull in his stall. The dawns were always cold then, whatever the season, in the Long Winter of the Old World, in the dominion of the ice. So the chronicles record, and though copied and recopied by many hands, the voice of one who has seen, and felt, speaks still from their pages. But now, on this day, it was newly spring, and the keen air was making the great beast impatient to run free in the pastures among its cows. So the boy sprang out of his pile of skins, wincing at the air’s bite, and began scrambling into those of them that were garments. If he let the bull begin bellowing here so early, it would mean a beating. He swung the moth-eaten fur cloak round his shoulders and seized the long goad off the wall, the strange shapes and characters in the icy metal branding his fingers with unknown wisdom. The bull’s tossing head, with its horns as long as his body, was no more than a lighter patch in the blackness high above him, but with the ease of long practice he slipped along the stall wall, a slab split from a sandstone boulder, and quickly looped the goad through the carved ring in the bull’s noistrils. Instantly the outswept horns ceased goring the air, the great head drooped, and the bull stood docile while the boy undid its tethers and urged it out of the stall. It waited placidly while he untied the rest of the herd and shooed and bustled the huge beasts, white as soiled ice, out into the pallid air, their breath billowing in clouds as they lowed and snorted, their hooves crushing the half-frozen mud. Thus the day that was to change all days began, for him, like any other.

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Die Sonne scheint. Vor dem Fenster zirpen die Grillen. Der Lüfter dreht hoch. Und sonst regt sich nicht viel. Aber wir bei bp sind schließlich Profis und wissen deshalb, wie man so einem Sommerloch beikommt. Wir präsentieren: Das Ungeheuer vom Sommerloch-Ness und seine Genossen in unserer großen Schau des Schuppigen, Schlängelnden und Tentakligen.

Ein frühes Exemplar der Seeschlangenkunst ist der sogenannte Hydrarchos, ein aus Knochen verschiedener Arten (vor allem Basilosaurus aka Zeuglodon) zusammengesetztes Schaustück aus dem Jahre 1894:
Hydrarchos

Sea Monsters of Long Ago von Millicent Selsam
Urweltliches Meeresgetier (hier: Cover von Sea Monsters of Long Ago von Millicent Selsam, Künstler: John Hamberger) ist zwar ein Fest für Seeungeheuer-Fans, aber wir wollen im Folgenden vor allem Roman-Cover präsentieren – immerhin haben sich einige der besten Fantasy-Künstler mit dem Sujet auseinandergesetzt.

Cover von Jormundgand (Nigel Frith), Künstler: Terry Oakes
Jormundgand von Nigel Frith

Cover von The River of Shadows (Robert V.S. Redick), Künstler: Edward Miller
The River of Shadows von Robert V.S. Redick

Cover (wraparound) von Ship of Magic (Robin Hobb), Künstler: John Howe
Cover (wraparound) Ship of Magic von Robin Hobb

Cover von Down to a Sunless Sea (Lin Carter), Künstler: Ken W. Kelly
Down to a Sunless Sea von Lin Carter

Cover von Seaserpents! (hg. Jack Dann & Gardner Dozois), Künstler: Hiro Kimura
Seaserpents! von Jack Dann und Gardner Dozois

Cover von Dragon in Chains (Daniel Fox), Künstler: Robert Hunt (Entstehungsprozess)
Dragon in Chains von Daniel Fox

Cover und Illustration aus The Golden Book of the Mysterious von Jane Werner Watson und Sol Chaneles, Künstler: Alan Lee
Golden Book of the Mysterious von Alan Lee

Zwei unterschiedliche Cover (60er und 70er Jahre) von Carson of Venus (Edgar Rice Burroughs), Künstler beidemal: Frank Frazetta
Carson of Venus von Edgar Rice Burroughs

Und ein weiterer Frazetta, der wiederum ein deutsches Cover inspiriert hat (Künstler: Helmut W. Pesch):
Frank Frazetta
DRAGON 47: Der Meisterdieb von Kartug

Cover von Darkness Weaves (Karl Edward Wagner), Künstler: Christos Achilleos
Darkness Weaves von Karl Edward Wagner

Cover von The Serpent Sea (Martha Wells), Künstler: Steve Argyle
The Serpent Sea von Martha Wells

Bob Eggleton hat ein ganzes Buch voller Seeungeheuer: The Book of Sea Monsters (Nigel Suckling, Künstler: Bob Eggleton), und liefert als Experte zu diesem Thema auch eine Interpretation des Kraken und des populärsten der alten Götter, der ebenfalls unter dem Meer schlummert (oder eben auch mal blitzwach ist).
The Book of Sea Monsters von Nigel Suckling und Bob Eggleton
Cover von The Taint (Brian Lumley), Künstler: Bob Eggleton
The Taint von Brian Lumley

Cover von Tales of the Cthulhu Mythos (H.P. Lovecraft), Künstler: Bruce Pennington
Tales of the Cthulhu Mythos von H.P. Lovecraft

Cover von H.P. Lovecraft’s The Haunter Of The Dark, Künstler: John Coulthart
The Haunter Of The Dark

Cover von 20.000 Leagues under the Sea (Jules Verne), Künstler: Gary Gianni; darunter zwei weitere Ausgaben, Künstler: unbekannt
Twenty-Thousand Leagues Under the Sea von Jules Verne
20000 Leagues under the Sea von Jules Verne

Zwei Cover von The Boats of the Glen Carrig (William Hope Hodgson), Künstler: links – Les Edwards (hier das ganze wraparound ansehen), rechts – Robert LoGrippo
Dass William Hope Hodgson auch mit schönen Illus bedacht wurde, kann man sich bei dieser von Philippe Druillet illustrierten Ausgabe anschauen, die auch Bilder zu The Boats of the Glen Carrig enthält.
The Boats of the Glen Carrig von William Hope Hodgson

Bei einer weiteren französischen Ausgabe der Geschichte kommt Bob Eggletons Krake zum Einsatz (hier in groß zu sehen):
Les Canots du Glen Carrig von William Hope Hodgson

Und den Abschluss machen zwei Favoriten des Teams:
The Lurking Sock Puppet, Künstlerin: Ursula Vernon, Quelle
The Lurking Sock Puppet von Ursula Vernon

Künstler: unbekannt, Quelle
Pfützenungeheuer

Über den Tellerrand Zettelkasten

Gestern Nacht haben wir unser Forum umgezogen, das ihr jetzt unter der neuen URL forumos.bibliotheka-phantastika.de finden könnt. Wenn ihr regelmäßig vorbeischaut, ändert bitte eure Bookmarks.

Außerdem vom Umzug betroffen war das Malazan-Forum, dessen Besucher bitte künftig www.malazanempires.de anpeilen.

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Bibliotheka Phantastika erinnert an Edward Whittemore, der heute 80 Jahre alt geworden wäre. Es ist nicht ganz leicht, das literarische Schaffen des am 26. Mai 1933 in Manchester im US-Bundesstaat New Hampshire geborenen Edward Whittemore, zu dessen Bewunderern so unterschiedliche Autoren wie Jonathan Carroll, Tom Robbins und Jeff VanderMeer zählen, in einigen wenigen Sätzen zu umreißen, da es sich einerseits erzählerisch und stilistisch den typischen Genrekonventionen entzieht, andererseits aber auf ebenso typische Genremotive wie Geheimgesellschaften bzw. die großen unbekannten Strippenzieher im Hintergrund, Unsterblichkeit und übermenschliche Heldenfiguren zurückgreift. In Quin’s Shanghai Circus (1974), Whittemores Erstling, wird das noch nicht ganz so deutlich wie in seinem Hauptwerk, dennoch lässt sich hier bereits die Saat finden, die dann im Jerusalem Quartet aufgehen und zur Blüte kommen sollte.
Quin’s Shanghai Circus erzählt vordergründig und vor allem die Geschichte des jungen Quin, der im Jahre 1965 von dem mit einer riesigen Sammlung japanischer Pornographie in der Bronx aufgetauchten fetten Amerikaner Geraty auf die Suche nach seiner Vergangenheit geschickt wird, denn Quins Eltern sind in den Wirren des Zweiten Weltkriegs in Shanghai verschollen. Natürlich begibt Quin sich auf die Reise, in deren Verlauf er Dinge erlebt und erfährt und Menschen begegnet, die seinen Blick auf die Welt und die jüngere Weltgeschichte – so, wie sie sich normalerweise darstellt – völlig verändern. Vergangenheit und Gegenwart beginnen sich in dem Roman, der irgendwie auch ein Spionage- und Kriegsroman ist, zu vermischen, und Whittemore gelingt das Kunststück, nicht nur das Absurde (in Gestalt teils grotesk überzeichneter Figuren und bizarrer Geschehnisse) mit dem Schrecklichen (in Gestalt einer realistischen, erschütternden Passage über das Massaker von Nanking) zu verbinden, sondern das Buch auf eine versöhnliche Weise enden zu lassen.
Die BedeutunSinai Tapestry von Edward Whittemoreg der Vergangenheit für die Gegenwart (und letztlich für die Zukunft) spielt in Quin’s Shanghai Circus bereits eine wichtige Rolle, die im Jerusalem Quartet noch einmal deutlich größer wird. Denn diese vier Romane umfassen vordergründig zwar nur einen Handlungszeitraum von rund 200 Jahren, doch die Geschehnisse, die in ihnen geschildert werden, haben ihre Wurzeln in einer Vergangenheit, die bis ins neunte Jahrhundert vor Christus (genauer betrachtet sogar noch weit darüber hinaus) zurückreicht. In Sinai Tapestry (1977) entfaltet sich nicht nur der historische Hintergrund der Handlung, sondern es werden auch die Figuren vorgestellt, die bzw. deren Nachkommen und Schüler in den Folgebänden eine mehr oder weniger wichtige Rolle spielen werden. Da wäre zunächst einmal Plantagenet Strongbow, ein sieben Fuß sieben Inch großer Hüne aus einem alten englischen Adelsgeschlecht, der sich schlicht geweigert hat, der Familientradition zu folgen und schon in jungen Jahren einem dummen Unfall zum Opfer zu fallen. Stattdessen wurde er zum größten Forscher, den sein Land jemals hervorgebracht hat, zu einem hervorragenden Schwertkämpfer und Botaniker sowie zum Verfasser einer 33-bändigen Geschichte des Sex in der Levante – und zeitweise zum Besitzer des gesamten Osmanischen Reiches, kurzum: zu einer wahrhaft legendären Gestalt (für die nebenbei bemerkt Richard Francis Burton Pate stand). Ein Mann von ähnlich mythologischen Proportionen ist Skanderberg Wallenstein, ein 1802 in Albanien geborener Trappistenmönch, der zufällig in einem vergessen Winkel eines Klosters in Jerusalem ein uraltes Manuskript entdeckt, das sich als älteste und einzig wahre Bibel entpuppt. Das und die Erkenntnisse, die er über die bisher als “richtig” erachtete Bibel gewinnt, bringen ihn dazu, Pläne in Bewegung zu setzen, die Das Buch der Bücher (1987) – so der deutsche Titel – zum zentralen Plotelement des Romans machen. Ebenfalls alles andere als unwichtig sind der Ire Joe O’Sullivan Beare, der nach dem Osteraufstand von 1916 als Nonne verkleidet ins Heilige Land geflohen ist und gelegentlich für Prester John bzw. den mythischen Priesterkönig Johannes gehalten wird, und Haj Harun, der 3000 Jahre alte Besitzer eines Antiquitätenladens, der im Assyrischen Reich als Steinmetz gearbeitet hat und in dessen Keller unter seinem Laden sich nicht nur Relikte aus unzähligen Städten und dreißig Jahrhunderten sondern auch 800 Jahre alter Cognac finden lassen. Die eigentliche Handlung von Sinai Tapestry lässt sich nur schwer in Worte fassen, denn sie besteht – nomen es omen – aus zeitlich und räumlich weit verstreuten Episoden der auf unterschiedliche Weise miteinander verwobenen Lebensgeschichten der vier Hauptfiguren und etlicher Nebenfiguren. Und natürlich aus Wallensteins Plan, eine neue Bibel zu schaffen, in der einerseits die wesentlichen Glaubensinhalte von Judentum, Christentum und Islam erhalten bleiben, aber um die wesentlichen Inhalte seines von ihm geheimgehaltenen Funds ergänzt werden sollen.
Jerusalem Poker von Edward WhittemoreIn Jerusalem Poker (1978) dreht sich dann fast alles um ein Pokerspiel, das Beare 1921 in Haj Haruns Laden beginnt, und dessen wichtigste Mitspieler Cairo Martyr und Monk Szondi auf mehrfache Weise mit Strongbow und Wallenstein verbunden sind. Natürlich wollen auch andere Menschen bei diesem Poker um Jerusalem (1989) mitmachen, was einer der Gründe sein dürfte, warum das Spiel, bei dem es – wie der deutsche Titel schon sagt – um die Kontrolle über Jerusalem geht, insgesamt zwölf Jahre dauert. Die immer neuen Mitspieler sorgen für immer neue Geschichten, ehe sie – normalerweise, nachdem sie ein gewaltiges Vermögen verloren haben – wieder im Dunkel des Vergessens verschwinden. Parallel dazu werden die Verflechtungen der wichtigsten Figuren deutlicher, ebenso wie ihre Verstrickung in die unterschiedlichsten geschichtlichen Ereignisse. In Nile Shadows (1983; Die Schatten des Nil (1990)) sind dann deutlich weniger phantastische Elemente zu finden; man könnte diesen im von Rommels Afrika-Korps bedrohten Kairo des Jahres 1942 beginnenden Roman wohl am ehesten als Spionageroman bezeichen (als solcher wurde er auch vermarktet), aber wenn man die Vorgängerbände kennt, spürt man die mythologische Dimension, die unter der realistisch geschilderten, sich um rivalisierende Geheimdienste unterschiedlichster Couleur drehenden Handlung liegt. Und außerdem trifft man O’Sullivan Beare wieder, der zeitweise als Schamane bei den Hopi gelebt hat. In Jericho Mosaic (1987; Das Jericho-Mosaik (1990)) sind die mythischen Gestalten der ersten beiden Bände schließlich endgültig zu verblassenden Schatten geworden, an die sich kaum noch jemand erinnert. Stattdessen geht es um die Ausbildung eines Meisterspions und um so reale Dinge wie den Sechstagekrieg, die Ursprünge der PLO, den Jom-Kippur-Krieg oder den Bürgerkrieg im Libanon. Da Whittemore vor seinem Autorendasein knapp zehn Jahre für die CIA gearbeitet hat, wusste er, wovon er schreibt, was unschwer zu bemerken ist.
Jerico Mosaic von Edward WhittemoreWie eingangs schon erwähnt, ist es schwer, das Oeuvre Whittemores – der nur diese fünf von der Kritik hochgelobten, verkaufstechnisch als Flops zu bezeichnenden Romane geschrieben hat – mit wenigen Sätzen griffig darzustellen. Das Jerusalem Quartet beginnt als eine Art Tall Tale of Tall Tales mit ebenso faszinierenden wie übermenschlichen Figuren und wird am Ende zu einer Bestandsaufnahme der Situation im Nahen Osten in den 60er und 70er Jahren. Und all das immer wieder vor dem auch in den bizarrsten Situationen authentisch wirkenden Hintergrund Jerusalems (wobei diese Authentizität nicht weiter verwunderlich ist, denn Whittemore hat etliche Jahre in Jerusalem gelebt). Überhaupt – diese Stadt. Ihre Rolle in der Geschichte ist weit größer, als das bisher deutlich geworden ist. Aber das ist bei einer so geschichtsträchtigen Stadt in einer Roman-Tetralogie, in der es nicht zuletzt um Geschichte, um ihre mythische Überhöhung und ihre Auswirkungen geht, eigentlich nicht verwunderlich.
Edward Whittemore ist ein Autor, der es seinen Lesern und Leserinnen nicht leicht macht. Man muss sich auf ihn einlassen, auf sein Spiel mit wirklicher und erfundener Geschichte, auf seine Geschichten in der Geschichte. Dann kann man vielleicht einen Autor entdecken, der aus gutem Grund von vielen Kritikern mit Thomas Pynchon verglichen wurde. Und der heute – knapp achtzehn Jahre, nachdem er am 03. August 1995 dem Vernehmen nach ziemlich mittellos an Prostatakrebs gestorben ist – zu Unrecht nur noch einer Handvoll (allerdings begeisterter) Anhänger bekannt ist.

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In einem Genre, in dem die Weltschöpfung (oder –idee) nicht selten eine zentrale Rolle einnimmt, manchmal sogar die Handlung konstituiert oder zumindest auf einer ausgedehnten Tour über die imaginäre Landkarte von Figuren und Lesern und Leserinnen erkundet wird, ist es mir ein bisschen schwer gefallen, fünf ganz besondere Settings aus der Fülle auszusuchen – die Liste ließe sich mühelos erweitern.
Meine Prämisse bei der Auswahl war übrigens, dass mehr oder weniger der ganze Roman im ausgefallenen Setting spielt und man nicht nur einmal unterwegs durch eine kuriose Kulisse spaziert. Außerdem ging es mir nicht unbedingt um ausgeklügeltes Worldbuilding, sondern um im besten Wortsinn phantastische Settingkonzepte, die der Fantasy vielleicht sogar eine neue Facette hinzufügen.

1. The Fade (Chris Wooding):
Callespa ist eine Welt, die ein Leben an der Oberfläche unmöglich macht. Also haben sich Flora und Fauna, Zivilisationen und ihr unvermeidlicher Ballast kurzerhand unterirdisch entwickelt. Verruchte Städte, Pilzwälder und sogar eigene “Jahreszeiten” findet man in der Welt aus Stein, so der deutsche Titel, in der ein erbitterter Krieg Höhle um Höhle erfasst, mit der Attentäterin Orna im Strudel von Ereignissen, die sie durch die fremdartige und erstaunlich moderne Welt führen.

2. Dark Sleeper (Jeffrey E. Barlough):
Dark Sleeper von Jeffrey E. BarloughIn den locker zusammenhängenden Abenteuern der Western-Lights-Reihe ist die Bevölkerung – vermutlich – zum größten Teil ausgelöscht, die Welt einer neuen Eiszeit unterworfen, und inmitten von Säbelzahntiger & Co. hat sich nur ein kleiner Streifen Zivilisation an der amerikanischen Westküste gehalten. Dort allerdings herrscht (viktorianisches) Alltagstreiben, zumindest bis merkwürdige Begebenheiten Professor Tiggs aufscheuchen und schließlich (via Mastodon) zur Investigation auf die gefährlichen Straßen zwischen den verstreuten Siedlungen treiben. Denn dort draußen gibt es neben der Kälte und den wilden Tieren auch übernatürliche Bedrohungen …


3. The Scar (China Miéville):

Armada – der Name ist Programm: Eine Piratenstadt aus unzähligen, teilweise längst miteinander verschmolzenen Schiffen und Booten, die über den Ozean treibt und Freidenkern und Flüchtlingen Zuflucht bietet, die Armadas Ideologie unterstützen. Bei Miéville ist dieses Setting natürlich noch ein bisschen abgefahrener und die politische Struktur von Armada nicht ganz so frei von Repressionen, wie es auf den ersten Blick aussehen mag. Richtig problematisch wird es allerdings erst, als Armada beginnt, nach einer schnelleren Fortbewegungsmöglichkeit zu angeln …

4. Shadow Bridge (Gregory Frost):
Shadow Bridge von Gregory FrostDie Welt, über die sich die Shadowbridge spannt, besteht aus Wasser. Die Gebäude, Pfeiler und Bögen der sich ins Unendliche erstreckenden, vielteiligen Brücke bieten Platz für Städte und Königreiche, Einsiedeleien und festliche Zusammenkünfte. Geschichtenerzähler wandern über die Brücke, und einer von ihnen ist Jax, der Puppenspieler, der mit Licht und Schatten alte Legenden zum Leben erweckt und dabei nicht nur an vergessene Geheimnisse rührt, sondern auch selbst einige davon mit sich herumschleppt. Die bizarre, architektonisch gewagte Welt von Shadow Bridge mit ihrem Flickenteppich aus Geschichten und Kulturen, die nur von den Vaganten zusammengehalten zu werden scheint, wirft unter Garantie ein Studio-Ghibli-Kopfkino an.

5. City of Bones (Martha Wells):
Charisat ist eine Stadt auf einem schwarzen Fels, der sich am Rande eines endlosen, wüstenartigen Ödlands erhebt, das die ganze Welt zu verschlingen droht. So interessant die verschiedenen, sozial streng getrennten Ebenen der Stadt auch sind, der eigentliche Star des Romans ist die Wüste: So heiß, trocken und von tödlichen Gifttieren verseucht, dass ein Trek durchs australische Outback daneben wie ein Sonntagsspaziergang wirkt. Doch natürlich gibt es gute Gründe, der von Canyons und Dolinen durchzogenen Ödnis dennoch einen Besuch abzustatten – nur dort findet man die rätselhaften Überbleibsel einer vergangenen Zivilisation, um die sich knochenharte Reliktjäger wie der katzenhafte Khat streiten, der sich allerdings in der Wüste noch einem ganz anderen Problem gegenübersieht: Einem Überlebenden, den er am liebsten seinem Schicksal überlassen würde.

Die Auswahl der Settings, die mich fasziniert haben, hat vor allem mit persönlichen Vorlieben zu tun, die ich dabei auch gleich wieder ein Stück besser kennengelernt habe: Man gebe mir ein sich hartnäckig festklammerndes Scheibchen Zivilisation inmitten einer großen, leeren, vielleicht noch etwas unheimlichen und feindlichen – und vor allem anderen unbekannten! – Welt, und ich bin erst einmal selig. Na, hat vielleicht jemand eine Empfehlung für mich? Oder faszinieren euch völlig andere Setting-Ideen?

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