Zum 80. Geburtstag von Edward Whittemore

Bibliotheka Phantastika erinnert an Edward Whittemore, der heute 80 Jahre alt geworden wäre. Es ist nicht ganz leicht, das literarische Schaffen des am 26. Mai 1933 in Manchester im US-Bundesstaat New Hampshire geborenen Edward Whittemore, zu dessen Bewunderern so unterschiedliche Autoren wie Jonathan Carroll, Tom Robbins und Jeff VanderMeer zählen, in einigen wenigen Sätzen zu umreißen, da es sich einerseits erzählerisch und stilistisch den typischen Genrekonventionen entzieht, andererseits aber auf ebenso typische Genremotive wie Geheimgesellschaften bzw. die großen unbekannten Strippenzieher im Hintergrund, Unsterblichkeit und übermenschliche Heldenfiguren zurückgreift. In Quin’s Shanghai Circus (1974), Whittemores Erstling, wird das noch nicht ganz so deutlich wie in seinem Hauptwerk, dennoch lässt sich hier bereits die Saat finden, die dann im Jerusalem Quartet aufgehen und zur Blüte kommen sollte.
Quin’s Shanghai Circus erzählt vordergründig und vor allem die Geschichte des jungen Quin, der im Jahre 1965 von dem mit einer riesigen Sammlung japanischer Pornographie in der Bronx aufgetauchten fetten Amerikaner Geraty auf die Suche nach seiner Vergangenheit geschickt wird, denn Quins Eltern sind in den Wirren des Zweiten Weltkriegs in Shanghai verschollen. Natürlich begibt Quin sich auf die Reise, in deren Verlauf er Dinge erlebt und erfährt und Menschen begegnet, die seinen Blick auf die Welt und die jüngere Weltgeschichte – so, wie sie sich normalerweise darstellt – völlig verändern. Vergangenheit und Gegenwart beginnen sich in dem Roman, der irgendwie auch ein Spionage- und Kriegsroman ist, zu vermischen, und Whittemore gelingt das Kunststück, nicht nur das Absurde (in Gestalt teils grotesk überzeichneter Figuren und bizarrer Geschehnisse) mit dem Schrecklichen (in Gestalt einer realistischen, erschütternden Passage über das Massaker von Nanking) zu verbinden, sondern das Buch auf eine versöhnliche Weise enden zu lassen.
Die BedeutunSinai Tapestry von Edward Whittemoreg der Vergangenheit für die Gegenwart (und letztlich für die Zukunft) spielt in Quin’s Shanghai Circus bereits eine wichtige Rolle, die im Jerusalem Quartet noch einmal deutlich größer wird. Denn diese vier Romane umfassen vordergründig zwar nur einen Handlungszeitraum von rund 200 Jahren, doch die Geschehnisse, die in ihnen geschildert werden, haben ihre Wurzeln in einer Vergangenheit, die bis ins neunte Jahrhundert vor Christus (genauer betrachtet sogar noch weit darüber hinaus) zurückreicht. In Sinai Tapestry (1977) entfaltet sich nicht nur der historische Hintergrund der Handlung, sondern es werden auch die Figuren vorgestellt, die bzw. deren Nachkommen und Schüler in den Folgebänden eine mehr oder weniger wichtige Rolle spielen werden. Da wäre zunächst einmal Plantagenet Strongbow, ein sieben Fuß sieben Inch großer Hüne aus einem alten englischen Adelsgeschlecht, der sich schlicht geweigert hat, der Familientradition zu folgen und schon in jungen Jahren einem dummen Unfall zum Opfer zu fallen. Stattdessen wurde er zum größten Forscher, den sein Land jemals hervorgebracht hat, zu einem hervorragenden Schwertkämpfer und Botaniker sowie zum Verfasser einer 33-bändigen Geschichte des Sex in der Levante – und zeitweise zum Besitzer des gesamten Osmanischen Reiches, kurzum: zu einer wahrhaft legendären Gestalt (für die nebenbei bemerkt Richard Francis Burton Pate stand). Ein Mann von ähnlich mythologischen Proportionen ist Skanderberg Wallenstein, ein 1802 in Albanien geborener Trappistenmönch, der zufällig in einem vergessen Winkel eines Klosters in Jerusalem ein uraltes Manuskript entdeckt, das sich als älteste und einzig wahre Bibel entpuppt. Das und die Erkenntnisse, die er über die bisher als “richtig” erachtete Bibel gewinnt, bringen ihn dazu, Pläne in Bewegung zu setzen, die Das Buch der Bücher (1987) – so der deutsche Titel – zum zentralen Plotelement des Romans machen. Ebenfalls alles andere als unwichtig sind der Ire Joe O’Sullivan Beare, der nach dem Osteraufstand von 1916 als Nonne verkleidet ins Heilige Land geflohen ist und gelegentlich für Prester John bzw. den mythischen Priesterkönig Johannes gehalten wird, und Haj Harun, der 3000 Jahre alte Besitzer eines Antiquitätenladens, der im Assyrischen Reich als Steinmetz gearbeitet hat und in dessen Keller unter seinem Laden sich nicht nur Relikte aus unzähligen Städten und dreißig Jahrhunderten sondern auch 800 Jahre alter Cognac finden lassen. Die eigentliche Handlung von Sinai Tapestry lässt sich nur schwer in Worte fassen, denn sie besteht – nomen es omen – aus zeitlich und räumlich weit verstreuten Episoden der auf unterschiedliche Weise miteinander verwobenen Lebensgeschichten der vier Hauptfiguren und etlicher Nebenfiguren. Und natürlich aus Wallensteins Plan, eine neue Bibel zu schaffen, in der einerseits die wesentlichen Glaubensinhalte von Judentum, Christentum und Islam erhalten bleiben, aber um die wesentlichen Inhalte seines von ihm geheimgehaltenen Funds ergänzt werden sollen.
Jerusalem Poker von Edward WhittemoreIn Jerusalem Poker (1978) dreht sich dann fast alles um ein Pokerspiel, das Beare 1921 in Haj Haruns Laden beginnt, und dessen wichtigste Mitspieler Cairo Martyr und Monk Szondi auf mehrfache Weise mit Strongbow und Wallenstein verbunden sind. Natürlich wollen auch andere Menschen bei diesem Poker um Jerusalem (1989) mitmachen, was einer der Gründe sein dürfte, warum das Spiel, bei dem es – wie der deutsche Titel schon sagt – um die Kontrolle über Jerusalem geht, insgesamt zwölf Jahre dauert. Die immer neuen Mitspieler sorgen für immer neue Geschichten, ehe sie – normalerweise, nachdem sie ein gewaltiges Vermögen verloren haben – wieder im Dunkel des Vergessens verschwinden. Parallel dazu werden die Verflechtungen der wichtigsten Figuren deutlicher, ebenso wie ihre Verstrickung in die unterschiedlichsten geschichtlichen Ereignisse. In Nile Shadows (1983; Die Schatten des Nil (1990)) sind dann deutlich weniger phantastische Elemente zu finden; man könnte diesen im von Rommels Afrika-Korps bedrohten Kairo des Jahres 1942 beginnenden Roman wohl am ehesten als Spionageroman bezeichen (als solcher wurde er auch vermarktet), aber wenn man die Vorgängerbände kennt, spürt man die mythologische Dimension, die unter der realistisch geschilderten, sich um rivalisierende Geheimdienste unterschiedlichster Couleur drehenden Handlung liegt. Und außerdem trifft man O’Sullivan Beare wieder, der zeitweise als Schamane bei den Hopi gelebt hat. In Jericho Mosaic (1987; Das Jericho-Mosaik (1990)) sind die mythischen Gestalten der ersten beiden Bände schließlich endgültig zu verblassenden Schatten geworden, an die sich kaum noch jemand erinnert. Stattdessen geht es um die Ausbildung eines Meisterspions und um so reale Dinge wie den Sechstagekrieg, die Ursprünge der PLO, den Jom-Kippur-Krieg oder den Bürgerkrieg im Libanon. Da Whittemore vor seinem Autorendasein knapp zehn Jahre für die CIA gearbeitet hat, wusste er, wovon er schreibt, was unschwer zu bemerken ist.
Jerico Mosaic von Edward WhittemoreWie eingangs schon erwähnt, ist es schwer, das Oeuvre Whittemores – der nur diese fünf von der Kritik hochgelobten, verkaufstechnisch als Flops zu bezeichnenden Romane geschrieben hat – mit wenigen Sätzen griffig darzustellen. Das Jerusalem Quartet beginnt als eine Art Tall Tale of Tall Tales mit ebenso faszinierenden wie übermenschlichen Figuren und wird am Ende zu einer Bestandsaufnahme der Situation im Nahen Osten in den 60er und 70er Jahren. Und all das immer wieder vor dem auch in den bizarrsten Situationen authentisch wirkenden Hintergrund Jerusalems (wobei diese Authentizität nicht weiter verwunderlich ist, denn Whittemore hat etliche Jahre in Jerusalem gelebt). Überhaupt – diese Stadt. Ihre Rolle in der Geschichte ist weit größer, als das bisher deutlich geworden ist. Aber das ist bei einer so geschichtsträchtigen Stadt in einer Roman-Tetralogie, in der es nicht zuletzt um Geschichte, um ihre mythische Überhöhung und ihre Auswirkungen geht, eigentlich nicht verwunderlich.
Edward Whittemore ist ein Autor, der es seinen Lesern und Leserinnen nicht leicht macht. Man muss sich auf ihn einlassen, auf sein Spiel mit wirklicher und erfundener Geschichte, auf seine Geschichten in der Geschichte. Dann kann man vielleicht einen Autor entdecken, der aus gutem Grund von vielen Kritikern mit Thomas Pynchon verglichen wurde. Und der heute – knapp achtzehn Jahre, nachdem er am 03. August 1995 dem Vernehmen nach ziemlich mittellos an Prostatakrebs gestorben ist – zu Unrecht nur noch einer Handvoll (allerdings begeisterter) Anhänger bekannt ist.

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