An Astronaut’s Guide to Life on Earth

Gravity – Alfonso Cuaróns Weltraumthriller und Kassenschlager 2013 – brachte uns George Clooney im Weltraum, CSA und NASA brachten uns Colonel Chris Hadfield. Die Schönheit des einen ist stark bemüht, den Sternenhimmel verblassen zu lassen, während der Schnurrbart des anderen mehr vom Universum gesehen hat als Spocks Augenbrauen.

Dem Umstand, dass der kanadische Astronaut während seines All-Aufenthaltes und seiner Funktion als Commander der International Space Station zum Star und Sternchen wurde, wohnt eine gewisse linguistische Poesie inne. Mit seinen Fotografien unseres Planeten aus der Satellitenperspektive brachte er weit mehr als eine abgespeckte Version von Google Maps in unsere Wohnzimmer: der Weltraum wurde greif- und erlebbar, ohne Adams’sche Lensflares, ohne Beamer und ohne grüne oder tentakulöse Besucher, weit ab von Science Fiction und ganz nah an Rocket Science. Und das bedeutet: Zähneputzen wird zur Herausforderung, Tränen sollte man sich dennoch verkneifen, aber immerhin gibt’s Erdnussbuttersandwiches:

Die kollektive Sehnsucht nach den Sternen, sie ist zurück und dank Erdnussbutter, Schnurrbart, Witz, Soyuz und Verstand wieder salonfähig. Zurück ist auch Chris Hadfield, der im Mai 2013 auf die Erde zurückkehrte und seitdem nicht nur begehrter Interviewpartner, sondern auch Autor geworden ist. In seinem Buch An Astronaut’s Guide to Life on Earth beschreibt Hadfield seinen Weg vom mondlandungsbegeisterten Kind zum ersten kanadischen Astronauten, der einen Space Walk vollzog, und nimmt den Leser mit auf eine Reise weg von unserem Planeten, hin zu dem Stoff, aus dem ein ganzes Genre gemacht ist.

Sucht man nach der Lektüre nach einem Wort, was den Autor perfekt beschreibt, wäre es wohl „down to earth“, und auch darin wohnt eine gewisse Poesie. Ehrlich und humorvoll schildert er nicht nur den All-, sondern auch den Erd-Tag und gibt Einblick in ein Leben, das beinah von Anfang an auf ein Ziel ausgerichtet war, das ferner nicht hätte sein können. Neben den Weisheiten, die man vermutlich automatisch erlangt, wenn man in fünf Monaten 62 Millionen Meilen im All zurücklegt und dabei gefilterten Eigenurin trinkt, begeistert vor allem der Enthusiasmus, mit der Hadfield von der wissenschaftlichen Errungenschaft, welche die ISS darstellt, erzählt.

Dabei ist Hadfield alles andere als ein Träumer. Realistisch und bodenständig erzählt er vom Preis, den eine Familie zahlen muss, wenn der Vater es sich zum Ziel gemacht hat, in ein Vehikel zu steigen, dessen Sinn es ist, unter ihm zu explodieren. Und so ist es nicht verwunderlich, dass das Buch direkt und wenig blumig zwar auch von Träumen erzählt, aber die Realität letztlich doch größer, noch mächtiger erscheint:

„It’s every science fiction book come true, every little kid’s dream realized: a large, capable, fully human creation orbiting up in the universe.“

Während man sich dies auf der Zunge zergehen lässt, vielleicht mit einem kleinen Chocolate Pudding Cake dazu, blicken irgendwo auf der Welt – oder darum herum – menschliche Augen und Teleskope noch tiefer ins All. Hadfield blickt zurück auf seine Reise und weckt damit im Leser Forscherdrang, Abenteuerlust, Sternweh und das Gefühl, dass die Menschheit (die zwar auch für den Aralsee verantwortlich ist) gemeinsam auch Dinge schaffen kann, die weitaus phantastischer sind als so mancher Traum.

Nur ein Beispiel:

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Neu rezensiert: The Guild of Xenolinguists

The Guild of Xenolinguists von Sheila FinchAls die Menschheit entdeckt, dass es Aliens gibt, ist eine der ersten Prioritäten, die Sprachbarriere zu überwinden. Dazu wird die Gilde der Xenolinguisten ins Leben gerufen – und im Laufe der Zeit gewinnt sie an Bedeutung für die Zivilisationen des Universums, denn es stellt sich heraus, dass der menschliche Stimmapparat besser als alle anderen dafür ausgestattet ist, die Lautäußerungen unterschiedlicher Spezies zu erlernen. Als ›Lingsters‹ sind die Gildenmitglieder begehrte und teure Experten, die nicht selten an vorderster Front eingesetzt werden und mit dem Verständnis der Sprache auch zwischen den Kulturen vermitteln sollen. Doch all das hat einen Preis …

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Neu rezensiert: Undersea

Undersea von Geoffrey MorrisonNach einer Katastrophe, die das Leben auf der verstrahlten Erdoberfläche unmöglich macht, befinden sich die letzten Überlebenden der Menschheit auf zwei großen Unterseeschiffen. Generationen sind vergangen, als die Stadträtin Ralla eine Entdeckung macht, die das Überleben auf ihrem Schiff, der »Universalis«, gefährdet. Doch ihre Kollegen schenken ihr kein Gehör. Unterdessen schafft es der Fischer und gelangweilte Trunkenbold Thom Vargas, einen Schritt auf der Karriereleiter nach oben zu tun und einen Posten als Shuttle-Pilot zu ergattern. Noch bevor er sich darüber freuen kann, bringt ihn sein erster Passagier, Ralla Gattley, in Schwierigkeiten, denen er sich in keiner Form gewachsen fühlt.

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Wintermärchen

Die Essenz unseres Buchs des Monats im Dezember sind Schnee und Kälte, wie sie eigentlich nur in Geschichten oder winternostalgischen Anfällen auftreten: Mark Helprins Wintermärchen zeichnet die Entwicklung einer Stadt und eines dieser Stadt verpflichteten Zeitungshauses nach, verbindet die Zeiten durch einen jungen Mann und ein weißes Pferd, und die bedeutenden Szenen oder vielmehr beinahe die ganze Handlung spielt sich im tiefsten Winter ab, wenn sich der Schnee auf dem Land bergehoch türmt und über den Straßenschluchten ein eiskalter Sternenhimmel steht.
Die Geschichte des Waisenjungen Peter Lake beginnt in einem magisch verfremdeten New York um die Jahrhundertwende – Gangs ziehen durch die Straßen, der technische Aufbruch ist an allen Ecken spürbar, und mitten darin begegnet man Lichtgestalten und irrwitzigen Questen, so dass man schnell begreift, dass sich aus der historischen Anmutung eine märchenhafte, entrückte Weltsicht entfaltet.
Wintermärchen von Mark HelprinPeter hat ein außergewöhnliches Talent für den Umgang mit Maschinen, ist aber stattdessen gezwungen, einer kriminellen Karriere zu folgen, und noch dazu immer auf der Flucht vor seinem Todfeind, dem Anführer einer rivalisierenden Gang. Zum Glück hat er einen treuen Freund, auf den er sich in brenzligen Situationen verlassen kann: den weißen Hengst Athansor. Und dieser ist auch nicht ganz unbeteiligt daran, dass Peter sein Schicksal an das der Verlegerfamilie Penn (und vor allem der Tochter des Hauses) knüpft.
Der nostalgische Grundton, der durch die schwelgerische, poetische Sprache getragen wird, bleibt auch erhalten, wenn die Handlung über einige Zeit- bzw. Pferdesprünge in der Moderne angelangt ist: Das Gefühl des Fortschritts wird eher über die wachsende Größe der Stadt, einer Maschinerie aus Menschen und Architektur, erreicht, während das eigentliche Technikbild altmodisch wirkt, aber durchaus abstruse Auswüchse hervorbringt.
Die Zusammenhänge und Querverbindungen innerhalb des ansehnlichen Ensembles aus teils überlebensgroßen Figuren klären sich mitunter erst am Ende, dann wird die Geschichte auch zunehmend phantastischer, ohne dabei auf bewährte oder gar ausgelutschte Elemente des Genres zurückzugreifen: Es gibt zwar märchenhafte Rettungen und ein relativ klares Bild von Gut und Böse, doch das eigentlich Magische ist die Art, wie Helprin den Winter heraufbeschwören kann, ob heimelig oder gnadenlos frostig, ob zart klirrend oder wuchtig. In keinem anderen Roman wird so stilvoll gebibbert, und wer bei grandiosen Bildern wie den Kutschfahrten durch verschneite Seenlandschaften oder der funkelnden Buden- und Marktlandschaft für Eisläufer auf dem zugefrorenen Hudson River keine leuchtenden Augen bekommt, der träumt sich vermutlich ohnehin schon längst in die Tropen.

Von Winter’s Tale (1984, dt. 1984, ISBN: 3404113144) steht übrigens im kommenden Jahr eine Verfilmung an, und im Zuge dessen wird auch die deutsche Übersetzung von Hartmut Zahn neu aufgelegt werden – bis dahin ist das Buch nur antiquarisch erhältlich.

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Zum 90. Geburtstag von John James

Bibliotheka Phantastika erinnert an John James, der heute 90 Jahre alt geworden wäre. Wer diesen Namen nicht kennt, sollte nicht allzu überrascht sein, schließlich haben wir für diese Beiträge schon einige generell oder auch nur hierzulande kaum bekannte bzw. vollkommen unbekannte Autoren und Autorinnen ausgegraben, und der am 30. November 1923 in Aberavon, Wales, geborene David John James ist gewiss ein Autor der etwas obskureren Art.
Votan von John JamesWas mehr als nur ein bisschen bedauerlich ist, denn gleich mit seinem ersten Roman Votan (1966) hat er einen wirklich originellen Fantasyroman geschrieben hat, der sich auf ziemlich einzigartige Weise bekannter Themen und Motive annimmt. Votan erzählt die Geschichte des griechischstämmigen römischen Bürgers Photinus, eines reisenden Händlers, der im ersten oder zweiten nachchristlichen Jahrhundert auf einer seiner Reisen in Germanien mit der falschen – nämlich einer verheirateten – Frau anbändelt und überstürzt gen Norden fliehen muss. Er taucht in einem kleinen Dorf unter und wird dort aus einer Reihe von Gründen für einen Gott gehalten. Photinus erkennt natürlich die Vorteile, die ihm das bringen kann, und hat verständlicherweise kein Interesse, den Irrtum aufzuklären. Was letztlich dazu führt, dass seine Taten und Erlebnisse als die Votans (bzw. Odins) in die nordische Mythologie eingehen. Das Ganze ist auf überaus humorvolle Weise erzählt, und auch wenn der Humor manchmal ein bisschen platt ist, macht das vergleichsweise dünne Buch – das man vielleicht als eine Art nordisches (und deutlich vorweggenommenes!) Äquivalent des Monthy-Python-Films Life of Brian bezeichnen könnte – mehr als ein bisschen Spaß.
Zwei Jahre später verschlägt es Photinus in Not for All the Gold in Ireland (1968) nach Irland, wo es natürlich alles, nur kein Gold zu finden gibt, und er sich auf ähnliche Weise im Mabinogion verewigt. Außer diesen beiden Romanen – deren TB-Ausgaben in den frühen 70er Jahren als “normale” historische Romane und keineswegs in einer Genrereihe erschienen sind – hat John James noch eine Handvoll weiterer historischer Romane verfasst, von denen nur noch zwei im weitesten Sinne phantastisch (oder phantastisch angehaucht sind): Men Went to Cattraeth (1969) basiert auf dem Y Gododdin (einem mittelalterlichen walisischen Gedicht) und kommt ohne Photinus aus – was dazu passt, dass der Roman wesentlich düsterer sein soll als Votan und Not for All the Gold in Ireland – und in The Bridge of Sand geht es um eine geheimnisvolle entsprechende Brücke, die die römischen Truppen für die Invasion Irlands benutzen wollen.
John James’ Romane waren auch in England trotz einer Neuauflage in den 80ern lange Zeit ziemlich vergessen; in den USA ist ohnehin nur Votan jemals veröffentlicht worden. Neil Gaiman, der ein großer Fan der Photinus-Romane ist, wollte diesen Roman 2009 in seiner bei Dark Horse erscheinenden Reihe Neil Gaiman Presents der amerikanischen Leserschaft wieder zugänglich machen, allerdings scheint diese Ausgabe nie erschienen zu sein. Da trifft es sich gut, dass man sich bei Gollancz plötzlich wieder an John James erinnert hat, denn dort wird nächstes Jahr im Rahmen der Fantasy Masterworks der Sammelband Votan and Other Novels erscheinen. Ursprünglich war das Buch (in dem Votan, Not for All the Gold in Ireland und Men Went to Cattraeth enthalten sein werden) sogar bereits für diesen November geplant gewesen, was irgendwie wunderbar zu James’ 90. Geburtstag gepasst hätte – aber da der Autor bereits am 02. Oktober 1993 verstorben ist, hätte er selbst von dieser Art Geburtstagsgeschenk nichts mehr gehabt.

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Neu rezensiert: Das Geheimnis des goldenen Reifs

Das Geheimnis des goldenen Reifs von Martin SchemmVor Jahren ist den unter dem norddeutschen Süllberg lebenden Zwergen der zauberkräftige Armreif Wurdbouga gestohlen worden, der es seinem Träger gestattet, Macht über das Schicksal jedes beliebigen Menschen zu erlangen. Nun endlich gibt es eine Spur des Schmuckstücks, das ausgerechnet dem machthungrigen Pfalzgrafen Friedrich von Goseck in die Hände gefallen ist. Der junge Lindfell, Sohn eines menschlichen Wechselbalgs und einer Zwergin, wird ausgesandt, um Wurdbouga zurückzugewinnen. Zwar findet er bei seinem Vorhaben Unterstützung, doch seine Gefährten und er geraten alsbald mitten in den Sachsenkrieg gegen Kaiser Heinrich IV. hinein …

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Zum 75. Geburtstag von William Kotzwinkle

Bibliotheka Phantastika gratuliert William Kotzwinkle, der heute 75 Jahre alt wird. Zwar ist der Ruhm des am 22. November in Scranton, Pennsylvania, geborenen William Kotzwinkle heutzutage – zumindest in Deutschland – schon ziemlich verblasst, doch in den 70er Jahren waren mehrere seiner Bücher diesseits und jenseits des Atlantiks schlicht Kult. Und in einigen dieser Bücher spielte die Phantastik eine nicht ganz unbedeutende Rolle.
Nachdem William Kotzwinkle bereits mehrere Romane und Erzählungen für Kinder und Jugendliche geschrieben hatte, erschien mit Elephant Bangs Train (1971; dt. Elefant rammt Eisenbahn (1983)) eine erste Kurzgeschichtensammlung für Erwachsene, deren Inhalt bereits eine Ahnung dessen vermittelte, was in späteren Jahren nachfolgen sollte. Die Stories in Elephant Bangs Train sind eine wilde Mischung aus versponnenen, überraschenden und anrührenden Kurzgeschichten, die alle einen magischen, wenn nicht gar phantastischen Einschlag haben. In den insgesamt 16 Geschichten lebt Kotzwinkle nicht nur seine Sympathie für Elefanten aus (indem er z.B. den Titelhelden Rache an der Eisenbahn nehmen lässt oder einen seiner prähistorischen Vorfahren heraufbeschwört), er führt Leser und Leserinnen an unterschiedlichste Schauplätze, die von Trickstern oder mechanischen Maschinen bevölkert werden, und dass er damit etliche Themen aufs Tableau bringt, die auch später wieder bei ihm auftauchen, soll nicht heißen, dass man diese prägnanten, witzigen und trotzdem melancholischen Geschichten heute nicht mehr lesen kann – sie geben einen umfassenden Einblick in die verschiedenen Stile und Erzählmodi, die Kotzwinkle auffahren kann.

Ein Jahr nach dieser Sammlung veröffentlichte er mit Hermes 3000 seinen ersten, aus mehr oder weniger zusammenhanglos nebeneinander gestellten, in Fragmente zerschnittenen Kurzgeschichten bestehenden phantastischen “Roman”, der dem Vernehmen nach mehr an einen Drogentrip als alles andere erinnern soll. 1974 folgte mit The Fan Man (dt. Fan Man (1978)) der Roman, der ihn nicht nur in Hippiekreisen schlagartig bekannt machte, sondern z.B. auch im New Yorker überaus positiv besprochen oder von Kurt Vonnegut hochgelobt wurde (was wohl ernst gemeint war – immerhin hat Vonnegut für eine spätere Ausgabe ein begeistertes Vorwort verfasst). Zwar ist dieser Roman nicht phantastisch, aber die von ihm selbst in einem Stream-of-consciousness-ähnlichen Stil erzählte Geschichte Horse Badorties’, der sich am Geräusch laufender Ventilatoren ergötzt, ständig zugedröhnt ist und an hochgradigem ADS leidet, aber gleichzeitig davon träumt, den Auftritt eines Chors von ihm selbst ausgewählter 16-jähriger Mädchen in einer Kirche zu organisieren, wo sie zum Klang elektrischer Ventilatoren ein von ihm komponiertes Liebeslied vortragen sollen, ist so bizarr, dass man sie einmal im Leben gelesen haben sollte.

Doctor Rat von William KotzwinkleAuch in Doctor Rat (1976; dt. Dr. Ratte (1984)) gibt es einen Ich-Erzähler. Allerdings ist die titelgebende Laborratte im Gegensatz zu Horse Badorties keine tragikomische Figur, sondern anfangs ein echter Unsympath. Oder wie soll man sonst ein Wesen nennen, das den ringsum versammelten Mäusen, Ratten, Katzen, Hunden und noch ein paar anderen Tieren immer wieder allen Ernstes erklärt, dass es zum Wohle der Menschheit notwendig ist, dass sie auf jede erdenkliche Weise malträtiert werden? Andererseits hat Doc eigentlich gar keine andere Wahl; nach der Geburt kastriert und aufgrund der an ihm durchgeführten Versuche komplett wahnsinnig geworden, hat er sich seine eigene Sicht auf die Welt erschaffen müssen – und indem er uns diese Sicht mitteilt, lässt er uns einen Blick auf unsere Unmenschlichkeit werfen, wie er drastischer kaum sein könnte. Von daher ist es nicht verwunderlich, wenn der Professor, der mit einer Handbewegung entscheidet, welche Ratten in die Todeskammer müssen, wie ein moderner Dr. Mengele wirkt. Auch wenn Mutter Natur sich irgendwann zur Wehr setzt und die Tiere den Aufstand planen, bleibt Doctor Rat ein erschütterndes, böses und teilweise schwer erträgliches Buch, das 1977 völlig zu recht mit dem World Fantasy Award ausgezeichnet wurde. Was Doc selbst angeht – der nimmt am Aufstand der Tiere nicht teil, sondern bleibt seinen Herren treu ergeben. Was soll er denn sonst auch tun?

Fata Morgana (1977; dt. Fata Morgana (1979)) führt in eine andere Art von Düsternis, nämlich die der dekadenten und auf den ersten Blick sehr lebensfrohen Belle Époque. Die in Paris beginnende Odyssee des Inspektor Picard, der einen Scharlatan zur Strecke bringen will, an dem vielleicht mehr dran ist, als Picard bewältigen kann, zieht sich immer weiter nach Osteuropa, wo sich der Inspektor immer tiefer in die zunehmend magischen Vorkommnisse verstrickt. Spielzeugmacher und Wahrsagemaschinen, Hypnose und das pralle (Großstadt-)Leben des neunzehnten Jahrhunderts sorgen für ein Setting, das einerseits stark in einem nicht sonderlich oft für die Fantasy herangezogenen Stück der europäischen Kulturgeschichte verankert ist, andererseits aber ganz mühelos Magie an der Grenze zur Moderne integrieren und mit einem überraschenden Ende auftrumpfen kann.

Nach weiteren Romanen mit mal mehr (Herr Nightingale and the Satin Woman (1978)), mal weniger (Jack in the Box (1980, dt. Jack in the Box (1985)) und Christmas at Fontaine’s (1982; dt. Weihnachten für Wellensittiche (1984)) phantastischen Elementen erhielt er den Auftrag, die Novelisation von E.T. the Extra-Terrestrial zu verfassen – eine Aufgabe, die er mit E.T. the Extra-Terrestrial in His Adventure on Earth (1982; dt. E.T., der Ausserirdische und seine Abenteuer auf der Erde (1982)) bravourös erledigte. Steven Spielberg war so zufrieden mit der literarischen Umsetzung seines Films (die dadurch, dass der Roman teilweise aus der Sicht E.T.s erzählt wird, dem Ganzen eine zusätzliche Komponente hinzufügt), dass Kotzwinkle noch eine Fortsetzung schreiben durfte: in E.T.: The Book of the Green Planet (1985; dt. E. T., das Buch vom grünen Planeten (1985)) ist E.T. “zu Hause”, doch die Ereignisse auf der Erde haben ihn verändert, so dass er sich auf seiner Heimatwelt nicht mehr wohlfühlt und sie lieber heute als morgen verlassen würde, was seine Artgenossen so gar nicht verstehen können.

Hier bei uns derzeit noch am bekanntesten dürfte The Bear Went Over the Mountain (1996; dt. Ein Bär will nach oben (1997)) sein. In dem – je nach Betrachtungsweise phantastischen oder satirischen – Roman geht es um einen Schwarzbären, der in der Hoffnung, in ihr etwas zu essen zu finden, in den Bergen von Maine eine unter einem Baum liegende Aktentasche klaut. Doch statt etwas zu essen findet er nur ein Manuskript. Er liest es, findet es gut, besorgt sich ein paar Klamotten, nimmt den Namen Hal Jam an und macht sich nach New York auf, um sein Glück in der Welt der Literatur zu suchen. Die er im Sturm nimmt … Wer sich ein bisschen damit auskennt, wie es in der großen weiten Welt des Verlegens und Verkaufens zugeht, muss Kotzwinkle zubilligen, hier sehr genau hingeschaut und den Finger auf mehr als eine Wunde gelegt zu haben.

Fata Morgana von William KotzwinkleKotzwinkle ist zuerst und vor allem ein Fabulierer, der im wahrsten Sinne des Wortes häufig ohne Rücksicht auf Verluste drauflosfabuliert. Das klappt manchmal, aber nicht immer. So hat z.B. das wilde Garn, das er in seinem SF-Roman The Amphora Project (2005; dt. Das Amphora-Projekt (2007)) zusammengesponnen hat, die deutschsprachige Leserschaft nicht gerade begeistert. Aber das ist eben auch das Risiko bei einem Autor wie Kotzwinkle, dessen Werke sich durchgängig so deutlich voneinander unterscheiden, dass man vorher nie weiß, was man bekommt. Dass er auch recht geradlinig und sehr atmosphärisch erzählen kann, beweist er in The Game of Thirty (1994; dt. Das Pharaonenspiel (1996)), einer hardboiled PI novel, die sich vor der Konkurrenz keineswegs verstecken muss. Aber letztlich ist das nicht einmal sehr verwunderlich, denn William Kotzwinkle hat immer wieder bewiesen, dass er in allen Sätteln gerecht ist, ganz egal, wie das Pferd heißt, das er gerade reitet.

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Zum 60. Geburtstag von Lisa Goldstein

Bibliotheka Phantastika gratuliert Lisa Goldstein, die heute 60 Jahre alt wird. Bereits mit ihrem ersten Roman erwies sich die am 21. November 1953 in Los Angeles, Kalifornien, geborene Elizabeth Joy Goldstein als ungewöhnliche Autorin, denn The Red Magician (1982) geht mit den Mitteln der Phantastik ein heikles Thema an.
The Red Magician von Lisa GoldsteinIm Mittelpunkt von The Red Magician steht die anfangs elfjährige Kicsi, die kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs in einem Dorf irgendwo im Nirgendwo zwischen Russland, Ungarn und Tschechien lebt. In diesem Dorf hat der zauberkundige Rabbi das Sagen, der sehr auf Traditionen bedacht ist, jeglichen Fortschritt verabscheut und davon überzeugt ist, das Dorf mithilfe seiner Fähigkeiten vor den Wirren des Krieges bewahren zu können. Als eines Tages ein Fremder namens Vörös – ein Magier, der die Zukunft sehen kann – auftaucht und die Dorfbewohner vor dem ihnen drohenden Verhängnis warnt und sie wegführen will, geraten Der Rabbi und der Magier (so der deutsche Titel, 1985) rasch aneinander. Natürlich glauben die Dorfbewohner an das Altbewährte und damit dem Rabbi. Nur Kicsi nimmt sich Vörös’ Warnungen zu Herzen – doch auch das bewahrt sie nicht davor, ins KZ verschleppt zu werden, als die Deutschen bald darauf das Dorf überfallen …
Ein Fantasyroman, in dem der Holocaust thematisiert wird (worauf übrigens in der deutschen Ausgabe ausdrücklich hingewiesen wird, denn ihr Untertitel lautet: “Ein Märchenroman aus der Zeit des Holocaust”) – ist das nicht ein bisschen gewagt oder gar geschmacklos? Wenn man weiß, dass Lisa Goldsteins in Deutschland geborener Vater Bergen-Belsen überlebt hat, und ihre in Tschechien geborene, ungarisch-stämmige Mutter Ausschwitz (wobei andere Angehörige beider Familien weniger Glück hatten), wird rasch klar, dass hier persönliche Beweggründe eine Rolle gespielt haben dürften. Die vermutlich mit dazu beigetragen haben, dass sie überaus sensibel mit dem Thema umgegangen ist. So verzichtet Lisa Goldstein auf jegliche vordergründig effekthascherische Darstellung des Lagerlebens, und dennoch sorgen die Szenen im KZ für beklemmende, Unbehagen erzeugende Lesemomente. Auch wenn – so viel sei verraten – die Sache zumindest für Kicsi gut ausgeht, verpasst The Red Magician nicht nur an diesen Stellen all den Fantasy-ist-nichts-als-Fluchtliteratur-Apologeten einen kräftigen Tritt dahin, wo’s richtig weh tut.
Auch in den Romanen, die auf ihren mit dem National Book Award ausgezeichneten Erstling folgten, widmete Lisa Goldstein sich ungewöhnlichen Themen: In The Dream Years (1985) verbindet sie das von den Ideen der Surrealisten geflutete Paris der 20er Jahre mit der 1968 ihren Höhepunkt erreichenden Studenten- und Bürgerrechtsbewegung in den USA, während A Mask for the General (1987) im 21. Jahrhundert in einem dystopischen Nordamerika spielt, über das ein General herrscht, der sich mit auf Stammestraditionen zurückgreifenden und nach den alten Regeln lebenden Maskenmachern auseinandersetzen muss, und Tourists (1989) die Geschichte einer amerikanischen Familie erzählt, die in einem im Nahen Osten gelegenen Land nach einem 1000 Jahre alten Manuskript sucht – nur scheinen die Amerikaner und das Land Amaz unterschiedlichen Realitäten anzugehören.
Strange Devices of the Sun and Moon von Lisa GoldsteinNach diesen Büchern, die – wie Lisa Goldstein selbst einmal gesagt hat – auch Versuche waren, “literarisch” zu schreiben, kehrte sie mit Strange Devices of the Sun and Moon (1993; dt. Im Zeichen von Sonne und Mond (1994)) wieder zu etwas handfesteren Themen zurück: Man schreibt das Jahr 1590, über England herrscht Königin Elizabeth. Doch für die normalen Menschen unsichtbar agieren Mitglieder des Alten Volkes nicht nur in den dunklen Straßen und Gassen von London, sondern auch am in ein Netz aus Intrigen gehüllten königlichen Hof. Die Faeries sind auf der Suche nach König Arthur – ihrem König Arthur, einem als Mensch aufgewachsenen Wechselbalg, der sie nun in ihre letzte große Schlacht führen soll, ehe sie diese Welt – diese Realität – für immer verlassen. Und nicht nur der bekannte Theaterdichter Christopher Marlowe (der nebenbei auch als Geheimagent im Dienste der Krone unterwegs ist) muss feststellen, dass an etwas nicht zu glauben keineswegs gewährleistet, dass es diese Dinge tatsächlich nicht gibt. Ein Gefühl von historischer Authentizität, überzeugend gestaltete Figuren – allen voran Christopher Marlowe – und ein Feenvolk, das ebenso faszinierend wie bedrohlich wirkt, machen aus Strange Devices of the Sun and Moon einen mehr als lesenswerten historischen Fantasyroman über das thinning, das Verschwinden der Magie aus der Welt.
Ein Jahr später erschien mit Travellers in Magic nicht nur der erste Sammelband mit Fantasy-Kurzgeschichten, sondern mit Summer King, Winter Fool auch Lisa Goldsteins einziger unter ihrem richtigen Namen veröffentlichter, ausschließlich in einer Anders- oder Sekundärwelt spielender Fantasyroman; in ihm geht es um höfische Intrigen, wahre und falsche Thronerben, Theateraufführungen und Götter des Winters und des Sommers, deren richtige Anbetung für den Wechsel der Jahreszeiten sorgt. Walking the Labyrinth (1996) und Dark Cities Underground (1999) haben wieder ein zeitgenössisches Setting; im erstgenannten Roman muss eine junge Frau feststellen, dass es in ihrer Familie mehr (magische) Geheimnisse gibt, als sie es sich jemals hätte träumen lassen, während in Dark Cities Underground eine unter der Erdoberfläche gelegene andere Welt existiert, in der sich die Settings aller phantastischen Kinderbücher wiederfinden lassen – und die man durch U-Bahnstationen betritt.
The Alchemist’s Door (2002) ist wieder ein historischer Fantasyroman, in dem der ehrgeizige Alchemist John Dee versehentlich einen Dämon beschwört und mit seiner Familie und seinem Mitarbeiter Edward Kelley nach Prag flieht, um beim exzentrischen König Rudolf Schutz zu suchen. Dort lernt er den Rabbi Judah Loew kennen, und gemeinsam machen sie sich auf die Suche nach den 36 Gerechten aus den jüdischen Legenden, die allein durch ihre Existenz verhindern, dass die Welt dem Bösen anheimfällt. Dummerweise hat der leicht beeinflussbare König Rudolf in dieser Hinsicht seine eigenen Ideen – und bald darauf sehen Dee und Loew sich gezwungen, einen Mann aus Lehm zu bauen, um das Judenviertel vor den Soldaten des Königs zu schützen. Allerdings erweist sich auch hier wieder, dass etwas herbeizubeschwören ungeahnte Folgen haben kann …
Einen weitereren Versuch, Anderswelt-Fantasy zu schreiben, stellte der unter dem (allein aus Vermarktungsgründen verwendeten und frühzeitig offengelegten) Pseudonym Isabel Glass erschienene Zweiteiler Daughter of Exile (2004; dt. Tochter der Verbannung (2008)) und The Divided Crown (2005, dt. Die geteilte Krone (2009)) dar, während ihr neuester, wieder unter ihrem richtigen Namen veröffentlichter und mit dem Mythopoeic Fantasy Award ausgezeichneter Roman The Uncertain Places (2011) wieder zeitgenössische Gegenwart mit magischen Untertönen vermischt.
Lisa Goldstein ist eine Autorin der leisen Töne. Oder, anders gesagt: Während man die Werke vieler anderer Autoren und Autorinnen als farbenprächtige oder vor Details überquellende Ölgemälde bezeichen könnte, sind ihre Romane wie in sanften Farben gehaltene Aquarelle. Wer allerdings auch stilistisch sehr ansprechende Fantasy abseits des Mainstreams mag und ein in die Tiefe gehendes Worldbuilding oder einen geradlinigen bzw. zumindest stringent durchgezogenen Plot nicht für die allein seligmachenden Bestandteile eines Romans hält, ist mit etlichen ihrer Romane nicht schlecht bedient.

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Zum 70. Geburtstag von Allan Cole

Bibliotheka Phantastika gratuliert Allan Cole, der heute 70 Jahre alt wird. Als der am 19. November in Philadelphia, Pennsylvania, geborene, aber in Europa sowie im Nahen Osten und in Fernost aufgewachsene Allan George Cole 1982 mit Sten, The Far Kingdoms von Allan Cole und Chris Bunchdem gemeinsam mit seinem langjährigen Freund Chris Bunch verfassten Auftakt der als The Sten Chronicles bekannten, achtbändigen Military-SF-Serie, seinen ersten Roman veröffentlichte, hatte er bereits knapp zwanzig Jahre lang sein Geld mit Schreiben verdient; anfangs als Journalist, dann als Drehbuchautor etlicher Episoden von Fernsehserien wie Quincy, The Rockford Files, The Incredible Hulk oder Buck Rogers in the 25th Century. In den folgenden Jahren schrieb er weiter für das Fernsehen und verfasste – immer in Zusammenarbeit mit Chris Bunch – die nächsten sieben Sten-Bände, sowie einen während des Vietnamkriegs- (Cole und Bunch sind bzw. waren Vietnam-Veteranen) und einen während des amerikanischen Unabhängigkeitskriegs spielenden historischen Roman, ehe sich die beiden Autoren mit The Far Kingdoms (1993) schließlich der Fantasy zuwandten.
Der auf Deutsch unter dem Titel Die fernen Königreiche (1994) erschienene Roman erzählt die Geschichte von Amalric Emilie Antero, der als alter Mann auf seine Jugend und jene Zeit zurückschaut, in der er sich als reicher Kaufmannssohn von dem Traum des Abenteurers und Magiers Janos Greycloak hat anstecken lassen, der regelrecht besessen davon ist, die legendären fernen Königreiche zu finden, die noch nie ein Mensch gesehen oder betreten hat. Gemeinsam unternehmen sie mehrere Reisen, begegnen Kannibalen, schwarzen Magiern und noch weit schlimmeren Wesen, und erleben Dinge, die sich nie hätten vorstellen können. Und als sie schließlich ihr Ziel erreichen, erweist es sich als anders als erwartet. The Far Kingdoms ist vor allem in Anbetracht seines Erscheinungsjahrs ein ungewöhnliches Buch, dessen Vorbilder viel mehr beim klassischen Abenteuerroman oder Filmen wie The 7th Voyage of Sinbad zu finden sein dürften, als bei der klassischen High Fantasy à la Tolkien. Von daher wirkt der Roman ein bisschen wie aus der Zeit gefallen, auch wenn er als Fantasy-Abenteuerroman hervorragend funktioniert. Und da Cole/Bunch klug genug sind, die Veränderungen zu zeigen, die ihre Reisen und Erlebnisse bei Amalric Antero und Janos Greycloak bewirken, ist The Far Kingdoms sogar noch ein bisschen mehr als einfach nur ein Abenteuerroman.
Ein Jahr später zeigte sich, dass The Far Kingdoms keineswegs ein Einzelband bleiben sollte (auch wenn man ihn problemlos als solchen lesen kann), sondern der Auftakt zu einem locker zusammenhängenden Zyklus gewesen war, denn mit The Warrior’s Tale (1994; dt. Das Reich der Kriegerinnen (1995)) erschien eine Art Fortsetzung. In ihr steht mit Rali Emelie Antero ein weiteres Mitglied der reichen Kaufmannssippe der Anteros im Mittelpunkt, allerdings hat Rali sich für eine soldatische Laufbahn entschieden. Als Hauptmann der Elitetruppe, die für den Schutz ihrer Heimatstadt Orissa verantwortlich ist, erhält sie eines Tages einen überaus gefährlichen Auftrag, der sie auf eine Odyssee ganz besonderer Art führt. Die lesbische Rali unterscheidet sich deutlich von dem zumindest anfangs snobistischen und verweichlichten Amalric, und ihr derber, nicht immer herzlicher Ton verschafft ihr keineswegs nur Freunde, aber das schert weder sie noch ihre nur aus ähnlich gesinnten, kampferprobten Frauen bestehende Truppe.
Auf den inzwischen verwitweten und zum König gewordenen Amalric wartet in Kingdoms of the Night (1995; dt. Das Reich der Finsternis (1996)), dem dritten Band der Anteros Saga, ebenfalls noch einmal ein großes Abenteuer. Irgendwie ist er sich nicht mehr sicher, ob er und Janos damals wirklich die fernen Königreiche erreicht haben, und so lässt er sich nur zu leicht von dessen Urenkelin Janela verleiten, erneut zu einer Reise ins Unbekannte aufzubrechen, an deren Ende sie die wahren fernen Königreiche finden … oder doch nicht?
Irgendwann zwischen dem Erscheinen dieses und des nächsten Bandes ist die langjährige Freundschaft zwischen Allan Cole und Chris Bunch zerbrochen, denn The Warrior Returns (1996; dt. Die Rückkehr der Kriegerin (1997)) wurde von Allan Cole allein verfasst. Hier erlebt Rali ihren zweiten Auftritt, nachdem sie etliche Jahre buchstäblich auf Eis gelegen hat. The Warrior's Tale von Allan Cole und Chris BunchDas hat ihr allerdings nicht sonderlich geschadet – sie ist immer noch so durchsetzungsfähig und wenig diplomatisch wie zuvor. Diplomatie wäre zu einem Zeitpunkt, da fast die gesamte Sippe der Anteros von einem mächtigen Feind ausgelöscht wurde, wohl auch reichlich fehl am Platz …
Mit den vier locker miteinander verbundenen und sich durchaus aufeinander beziehenden, aber jeweils sehr rund abgeschlossenen Romanen der Anteros Saga haben Allan Cole und Chris Bunch das Genre um ein paar Elemente bereichert, die man zeitweise viel zu selten in der Fantasy finden konnte, wie etwa die Neugier auf das, was hinter dem Horizont liegen mag, oder auch das Staunen angesichts unbegreiflich fremdartiger Wesen und Geschehnisse. Die von Rali im vierten Band mehr oder weniger angekündigte Fortsetzung scheint allerdings wirklich nicht mehr nötig zu sein.
1997 erschien mit When the Gods Slept der erste Band der von Allan Cole logischerweise nun ebenfalls allein verfassten Timura Trilogy. In diesem, auch unter dem Titel Wizard of the Winds (ebenfalls 1997; dt. Zauberer der Lüfte (1998)) veröffentlichten Roman und den Folgebänden der Timura-SagaWolves of the Gods (1998; dt. Die Wölfe der Götter (ebenfalls 1998)) und The Gods Awaken (1999; dt. Die Götter erwachen (2000)) – wird die Geschichte des mächtigen Magiers Safar Timura und seines Kindheitsfreundes, des Eroberers Iraj Protarus, erzählt, die zunächst gemeinsam gegen Dämonen und andere Feinde kämpfen, wobei Timura den Herrscher als dessen Großwesir mit all seinen Fähigkeiten unterstützt, bis Protarus beginnt, nach immer mehr Macht zu streben, und die Freundschaft der beiden zunächst zerbricht – und sich dann in eine erbitterte Feindschaft verwandelt …
Irgendwie ist es schon interessant, dass Chris Bunch mehr oder weniger parallel zur Timura Trilogy einen Zyklus veröffentlicht hat, in dem ein Krieger zur rechten Hand eines Magierkönigs wird und seinem Herrscher treu und ergeben dient, bis etwas geschieht, das alles verändert …

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Zum 60. Geburtstag von Alan Moore

Bibliotheka Phantastika gratuliert Alan Moore, der heute 60 Jahre alt wird. Es mag manche unserer Leser und Leserinnen überraschen, dass der am 18. November 1953 in Northampton, England, geborene Alan Moore hier im Rahmen unserer Geburtstagstexte auftaucht, denn er hat kaum Fantasy im engeren Sinn geschrieben – und vor allem hat er fast ausschließlich als Comictexter gearbeitet. Das ist natürlich beides richtig, richtig ist aber auch, dass der bei weitem größte Teil der von Moore getexteten Comics auf irgendeine Weise phantastisch ist, und dass er einer der besten und beeindruckendsten (nicht nur phantastischen) Erzähler unserer Zeit ist. Beeindruckend ist schon allein der Umfang seines Oeuvres, der es praktisch unmöglich macht, Moore in diesem Rahmen gerecht zu werden. Deshalb wird sich dieser Beitrag nur um eine seiner längeren Arbeiten drehen. Sinnigerweise wird das aber nicht eines seiner (auch durch mal mehr, mal weniger – aber nie wirklich – werkgetreue Verfilmungen) bekanntesten Werke von V for Vendetta (mit David Lloyd, 1995)* über Watchmen (mit Dave Gibbons, 1987) und From Hell (mit Eddie Campbell, 1999) bis hin zu The League of Extraordinary Gentlemen (mit Kevin O’Neill, 2000) sein, sondern einer seiner generell eher weniger und vor allem in Deutschland wohl kaum bekannten Comics.
Miracleman: A Dream of Flying von Alan MooreZu Beginn seiner Karriere als professioneller Comic-Autor Anfang der 80er Jahre arbeitete Alan Moore vor allem für zwei (schwarzweiße) englische Comicmagazine: das altehrwürdige 2000 AD (in dem z.B. der auch hierzulande bekannte Judge Dredd seine regelmäßigen Auftritte hat) und das damals neu gegründete Warrior. Für letztgenanntes Magazin, das ihm mehr künstlerische Freiheiten gewährte als 2000 AD und an das er die Rechte an seinen Schöpfungen nicht abtreten musste, schrieb er nicht nur das bereits genannte V for Vendetta, sondern belebte mit Marvelman einen bereits 1954 von Mick Anglo aufgrund von Copyright-Problemen des amerikanischen Lizengebers als urbritisches Substitut für den amerikanischen Captain Marvel geschaffenen Superhelden neu. Marvelman ist eigentlich der jugendliche Reporter Micky Moran, dem seine auf Atomenergie basierenden Superkräfte von einem Astrophysiker verliehen wurden, und der sich in einen Superhelden verwandelt, wenn er das Wort “Kimota” ausspricht. Während der ursprüngliche Marvelman allein oder zusammen mit seinen jugendlichen Sidekicks Young Marvelman und Kid Marvelman allerdings noch typische Superheldenabenteuer erlebt hatte (und das neun Jahre lang bzw. in 346 Comicbooks) fiel Moores Neuschöpfung wesentlich düsterer und bedrückender aus.
In Warrior begegnen wir einem erwachsenen, mittlerweile verheirateten Michael Moran, der sich nicht mehr an seine Superheldenexistenz erinnern kann, aber von Migräne und von seltsamen Träumen geplagt wird, die sich ums Fliegen drehen und in denen ein wichtiges Wort vorkommt – an das er sich beim Aufwachen ebenfalls nicht mehr erinnern kann. Alles ändert sich, als er eines Tages in Ausübung seiner Reportertätigkeit in einen terroristischen Anschlag auf ein neuerbautes Atomkraftwerk gerät und von hinten auf eine Glasscheibe schaut, auf deren Vorderseite das Wort “ATOMIC” steht. Zwar bekommt Michael Moran auf diese Weise seine Superkräfte – und damit seine Superheldenexistenz – zurück, doch dafür gerät sein Leben binnen kürzester Zeit völlig aus den Fugen. Schlimm genug, dass sich seine Frau über seine angeblichen Abenteuer lustig macht, für die es keine Beweise außer … nun ja, Comicbooks gibt, viel schlimmer sind allerdings die Konsequenzen, die sich für Michael Moran ergeben, als er feststellt, dass auch Kid Marvelman aka Johnny Bates noch lebt – und dass er sich verändert hat. Doch Michael Moran wird noch mehrfach feststellen müssen, dass die Dinge nicht so sind, wie sie scheinen – und dass Dr. Gargunza, der Feind, mit dem er es in seinen Träumen zu tun hatte, auch in seiner realen Welt existiert.
Zunächst einmal hatte Marvelman allerdings mit sehr irdischen Problemen zu kämpfen, denn Warrior wurde eingestellt. Zum Glück gelang der Sprung über den großen Teich, und ab Mitte 1985 erschien Marvelman – jetzt (natürlich wieder einmal aus Copyright-Gründen) in Miracleman umgetauft – in den USA als Comicbook beim Independent-Verlag Eclipse. Nachdem in den ersten sechs Heften das von Gary Leach und Alan Davis gezeichnete Material aus Warrior (dieses Mal coloriert) nachgedruckt worden war, schrieb Alan Moore noch zehn weitere, größtenteils von Rick Veitch und John Totleben gezeichnete Ausgaben, in denen er nicht nur die Handlung z.B. durch die Einführung zweier Alienrassen – der Warpsmiths und der Qys – oder die Erweiterung der Miracle-Familie auf eine wesentlich breitere Basis stellte, sondern in denen er auch bewies, immer für einen Aufreger gut zu sein, sei es durch eine sehr plastisch dargestellte Geburtsszene, eine unglaublich drastische, in Superhelden-Comics so noch nie gesehene Kampfszene, in der London buchstäblich dem Erdboden gleichgemacht wird, oder auch durch die – treffenderweise “Olympus” betitelte – letzte Ausgabe, in der Miracleman endgültig zum Gott aufsteigt. Die sechzehn Comicbooks wurden kurz danach in drei Tradepaperback- bzw. Hardcover-Ausgaben gesammelt – Miracleman Book One: A Dream of Flying, Miracleman Book Two: The Red King Syndrome (beide 1990) und Miracleman Book Three: Olympus (1991) – die aufgrund einer überaus unklaren Rechtelage bis heute nicht nachgedruckt wurden und längst vergriffen (und gebraucht kaum zu vernünftigen Preisen zu bekommen) sind. Das Gleiche gilt für die von Neil Gaiman getextete und Mark Buckingham gezeichnete Fortsetzung, von der nur der erste, aus sechs Comicbooks bestehende Teil komplett veröffentlicht wurde (auch gesammelt als Miracleman Book Four: The Golden Age (1992)), während der zweite, “The Silver Age”, nach zwei Heften abgebrochen wurde.
Miracleman: Olympus von Alan MooreDass Alan Moores Miracleman bis heute sozusagen im Comic-Limbus verschollen ist, ist in mehrfacher Hinsicht bedauerlich. Denn auch wenn vor allem das Warrior-Material grafisch mit den heutigen (nicht nur Superhelden-) Comics nicht mithalten kann, ist hier im Kern bereits fast alles enthalten, was in vielen von Moores späteren Comics deutlich ausgeprägter zu finden ist. Die Dekonstruktion des Superheldenmythos, die Moore selbst in Watchmen noch weiter vorangetrieben hat (und derer sich beispielsweise auch Mark Waid und Alex Ross in Kingdom Come oder J. Michael Straczynski in Rising Stars bedienen), hat hier ihren Ursprung. Genauso wie die Frage nach der geistigen Gesundheit von Superhelden, der Moore praktisch parallel zu Miracleman auch in Batman: The Killing Joke (1988) anhand einer DC-Ikone nachgeht. Und die tiefen Einblicke in die menschliche Psyche, die z.B. aus Rorschach einen der abgründigsten Charaktere der modernen Comics machen, finden sich bereits in der Darstellung von Kid Miracleman, einer in jeder Hinsicht ebenso tragischen wie entsetzlichen Figur.
Ironischerweise hat Alan Moore später aus Supreme, einem zuvor uninteressanten Superman-Verschnitt, eine Hommage an den Superman des sog. Silver Age gemacht – gesammelt in zwei Trades als Supreme: The Story of the Year (2002) und Supreme: The Return (2003) – und sinngemäß gesagt, dies sei eine Art Entschuldigung für seine ansonsten vorherrschende Dekonstruktion des Mythos.
Es ließe sich noch viel über Alan Moore und seine Comics von Swamp Thing über Brought to Light, A Small Killing und das leider gescheiterte Big Numbers bis hin zu Promethea, Tom Strong und Top Ten sagen, oder über seinen bislang einzigen Roman Voice of the Fire (1996), oder auch über den zweifellos hochinteressanten Menschen, der all diese Werke geschaffen hat, doch hier und heute wollen wir es dabei bewenden lassen. Und nur noch hinzufügen: Happy Birthday, Mr. Moore!

* – gefettete Titel stehen für einen Sammelband als PB- oder HC-Veröffentlichung (bzw. für eine eigenständige Buchausgabe), und die Jahreszahl nennt das Jahr der Erstausgabe der entsprechenden Ausgabe

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