Die Essenz unseres Buchs des Monats im Dezember sind Schnee und Kälte, wie sie eigentlich nur in Geschichten oder winternostalgischen Anfällen auftreten: Mark Helprins Wintermärchen zeichnet die Entwicklung einer Stadt und eines dieser Stadt verpflichteten Zeitungshauses nach, verbindet die Zeiten durch einen jungen Mann und ein weißes Pferd, und die bedeutenden Szenen oder vielmehr beinahe die ganze Handlung spielt sich im tiefsten Winter ab, wenn sich der Schnee auf dem Land bergehoch türmt und über den Straßenschluchten ein eiskalter Sternenhimmel steht.
Die Geschichte des Waisenjungen Peter Lake beginnt in einem magisch verfremdeten New York um die Jahrhundertwende – Gangs ziehen durch die Straßen, der technische Aufbruch ist an allen Ecken spürbar, und mitten darin begegnet man Lichtgestalten und irrwitzigen Questen, so dass man schnell begreift, dass sich aus der historischen Anmutung eine märchenhafte, entrückte Weltsicht entfaltet.
Peter hat ein außergewöhnliches Talent für den Umgang mit Maschinen, ist aber stattdessen gezwungen, einer kriminellen Karriere zu folgen, und noch dazu immer auf der Flucht vor seinem Todfeind, dem Anführer einer rivalisierenden Gang. Zum Glück hat er einen treuen Freund, auf den er sich in brenzligen Situationen verlassen kann: den weißen Hengst Athansor. Und dieser ist auch nicht ganz unbeteiligt daran, dass Peter sein Schicksal an das der Verlegerfamilie Penn (und vor allem der Tochter des Hauses) knüpft.
Der nostalgische Grundton, der durch die schwelgerische, poetische Sprache getragen wird, bleibt auch erhalten, wenn die Handlung über einige Zeit- bzw. Pferdesprünge in der Moderne angelangt ist: Das Gefühl des Fortschritts wird eher über die wachsende Größe der Stadt, einer Maschinerie aus Menschen und Architektur, erreicht, während das eigentliche Technikbild altmodisch wirkt, aber durchaus abstruse Auswüchse hervorbringt.
Die Zusammenhänge und Querverbindungen innerhalb des ansehnlichen Ensembles aus teils überlebensgroßen Figuren klären sich mitunter erst am Ende, dann wird die Geschichte auch zunehmend phantastischer, ohne dabei auf bewährte oder gar ausgelutschte Elemente des Genres zurückzugreifen: Es gibt zwar märchenhafte Rettungen und ein relativ klares Bild von Gut und Böse, doch das eigentlich Magische ist die Art, wie Helprin den Winter heraufbeschwören kann, ob heimelig oder gnadenlos frostig, ob zart klirrend oder wuchtig. In keinem anderen Roman wird so stilvoll gebibbert, und wer bei grandiosen Bildern wie den Kutschfahrten durch verschneite Seenlandschaften oder der funkelnden Buden- und Marktlandschaft für Eisläufer auf dem zugefrorenen Hudson River keine leuchtenden Augen bekommt, der träumt sich vermutlich ohnehin schon längst in die Tropen.
Von Winter’s Tale (1984, dt. 1984, ISBN: 3404113144) steht übrigens im kommenden Jahr eine Verfilmung an, und im Zuge dessen wird auch die deutsche Übersetzung von Hartmut Zahn neu aufgelegt werden – bis dahin ist das Buch nur antiquarisch erhältlich.