Bibliotheka Phantastika gratuliert Alan Moore, der heute 60 Jahre alt wird. Es mag manche unserer Leser und Leserinnen überraschen, dass der am 18. November 1953 in Northampton, England, geborene Alan Moore hier im Rahmen unserer Geburtstagstexte auftaucht, denn er hat kaum Fantasy im engeren Sinn geschrieben – und vor allem hat er fast ausschließlich als Comictexter gearbeitet. Das ist natürlich beides richtig, richtig ist aber auch, dass der bei weitem größte Teil der von Moore getexteten Comics auf irgendeine Weise phantastisch ist, und dass er einer der besten und beeindruckendsten (nicht nur phantastischen) Erzähler unserer Zeit ist. Beeindruckend ist schon allein der Umfang seines Oeuvres, der es praktisch unmöglich macht, Moore in diesem Rahmen gerecht zu werden. Deshalb wird sich dieser Beitrag nur um eine seiner längeren Arbeiten drehen. Sinnigerweise wird das aber nicht eines seiner (auch durch mal mehr, mal weniger – aber nie wirklich – werkgetreue Verfilmungen) bekanntesten Werke von V for Vendetta (mit David Lloyd, 1995)* über Watchmen (mit Dave Gibbons, 1987) und From Hell (mit Eddie Campbell, 1999) bis hin zu The League of Extraordinary Gentlemen (mit Kevin O’Neill, 2000) sein, sondern einer seiner generell eher weniger und vor allem in Deutschland wohl kaum bekannten Comics.
Zu Beginn seiner Karriere als professioneller Comic-Autor Anfang der 80er Jahre arbeitete Alan Moore vor allem für zwei (schwarzweiße) englische Comicmagazine: das altehrwürdige 2000 AD (in dem z.B. der auch hierzulande bekannte Judge Dredd seine regelmäßigen Auftritte hat) und das damals neu gegründete Warrior. Für letztgenanntes Magazin, das ihm mehr künstlerische Freiheiten gewährte als 2000 AD und an das er die Rechte an seinen Schöpfungen nicht abtreten musste, schrieb er nicht nur das bereits genannte V for Vendetta, sondern belebte mit Marvelman einen bereits 1954 von Mick Anglo aufgrund von Copyright-Problemen des amerikanischen Lizengebers als urbritisches Substitut für den amerikanischen Captain Marvel geschaffenen Superhelden neu. Marvelman ist eigentlich der jugendliche Reporter Micky Moran, dem seine auf Atomenergie basierenden Superkräfte von einem Astrophysiker verliehen wurden, und der sich in einen Superhelden verwandelt, wenn er das Wort “Kimota” ausspricht. Während der ursprüngliche Marvelman allein oder zusammen mit seinen jugendlichen Sidekicks Young Marvelman und Kid Marvelman allerdings noch typische Superheldenabenteuer erlebt hatte (und das neun Jahre lang bzw. in 346 Comicbooks) fiel Moores Neuschöpfung wesentlich düsterer und bedrückender aus.
In Warrior begegnen wir einem erwachsenen, mittlerweile verheirateten Michael Moran, der sich nicht mehr an seine Superheldenexistenz erinnern kann, aber von Migräne und von seltsamen Träumen geplagt wird, die sich ums Fliegen drehen und in denen ein wichtiges Wort vorkommt – an das er sich beim Aufwachen ebenfalls nicht mehr erinnern kann. Alles ändert sich, als er eines Tages in Ausübung seiner Reportertätigkeit in einen terroristischen Anschlag auf ein neuerbautes Atomkraftwerk gerät und von hinten auf eine Glasscheibe schaut, auf deren Vorderseite das Wort “ATOMIC” steht. Zwar bekommt Michael Moran auf diese Weise seine Superkräfte – und damit seine Superheldenexistenz – zurück, doch dafür gerät sein Leben binnen kürzester Zeit völlig aus den Fugen. Schlimm genug, dass sich seine Frau über seine angeblichen Abenteuer lustig macht, für die es keine Beweise außer … nun ja, Comicbooks gibt, viel schlimmer sind allerdings die Konsequenzen, die sich für Michael Moran ergeben, als er feststellt, dass auch Kid Marvelman aka Johnny Bates noch lebt – und dass er sich verändert hat. Doch Michael Moran wird noch mehrfach feststellen müssen, dass die Dinge nicht so sind, wie sie scheinen – und dass Dr. Gargunza, der Feind, mit dem er es in seinen Träumen zu tun hatte, auch in seiner realen Welt existiert.
Zunächst einmal hatte Marvelman allerdings mit sehr irdischen Problemen zu kämpfen, denn Warrior wurde eingestellt. Zum Glück gelang der Sprung über den großen Teich, und ab Mitte 1985 erschien Marvelman – jetzt (natürlich wieder einmal aus Copyright-Gründen) in Miracleman umgetauft – in den USA als Comicbook beim Independent-Verlag Eclipse. Nachdem in den ersten sechs Heften das von Gary Leach und Alan Davis gezeichnete Material aus Warrior (dieses Mal coloriert) nachgedruckt worden war, schrieb Alan Moore noch zehn weitere, größtenteils von Rick Veitch und John Totleben gezeichnete Ausgaben, in denen er nicht nur die Handlung z.B. durch die Einführung zweier Alienrassen – der Warpsmiths und der Qys – oder die Erweiterung der Miracle-Familie auf eine wesentlich breitere Basis stellte, sondern in denen er auch bewies, immer für einen Aufreger gut zu sein, sei es durch eine sehr plastisch dargestellte Geburtsszene, eine unglaublich drastische, in Superhelden-Comics so noch nie gesehene Kampfszene, in der London buchstäblich dem Erdboden gleichgemacht wird, oder auch durch die – treffenderweise “Olympus” betitelte – letzte Ausgabe, in der Miracleman endgültig zum Gott aufsteigt. Die sechzehn Comicbooks wurden kurz danach in drei Tradepaperback- bzw. Hardcover-Ausgaben gesammelt – Miracleman Book One: A Dream of Flying, Miracleman Book Two: The Red King Syndrome (beide 1990) und Miracleman Book Three: Olympus (1991) – die aufgrund einer überaus unklaren Rechtelage bis heute nicht nachgedruckt wurden und längst vergriffen (und gebraucht kaum zu vernünftigen Preisen zu bekommen) sind. Das Gleiche gilt für die von Neil Gaiman getextete und Mark Buckingham gezeichnete Fortsetzung, von der nur der erste, aus sechs Comicbooks bestehende Teil komplett veröffentlicht wurde (auch gesammelt als Miracleman Book Four: The Golden Age (1992)), während der zweite, “The Silver Age”, nach zwei Heften abgebrochen wurde.
Dass Alan Moores Miracleman bis heute sozusagen im Comic-Limbus verschollen ist, ist in mehrfacher Hinsicht bedauerlich. Denn auch wenn vor allem das Warrior-Material grafisch mit den heutigen (nicht nur Superhelden-) Comics nicht mithalten kann, ist hier im Kern bereits fast alles enthalten, was in vielen von Moores späteren Comics deutlich ausgeprägter zu finden ist. Die Dekonstruktion des Superheldenmythos, die Moore selbst in Watchmen noch weiter vorangetrieben hat (und derer sich beispielsweise auch Mark Waid und Alex Ross in Kingdom Come oder J. Michael Straczynski in Rising Stars bedienen), hat hier ihren Ursprung. Genauso wie die Frage nach der geistigen Gesundheit von Superhelden, der Moore praktisch parallel zu Miracleman auch in Batman: The Killing Joke (1988) anhand einer DC-Ikone nachgeht. Und die tiefen Einblicke in die menschliche Psyche, die z.B. aus Rorschach einen der abgründigsten Charaktere der modernen Comics machen, finden sich bereits in der Darstellung von Kid Miracleman, einer in jeder Hinsicht ebenso tragischen wie entsetzlichen Figur.
Ironischerweise hat Alan Moore später aus Supreme, einem zuvor uninteressanten Superman-Verschnitt, eine Hommage an den Superman des sog. Silver Age gemacht – gesammelt in zwei Trades als Supreme: The Story of the Year (2002) und Supreme: The Return (2003) – und sinngemäß gesagt, dies sei eine Art Entschuldigung für seine ansonsten vorherrschende Dekonstruktion des Mythos.
Es ließe sich noch viel über Alan Moore und seine Comics von Swamp Thing über Brought to Light, A Small Killing und das leider gescheiterte Big Numbers bis hin zu Promethea, Tom Strong und Top Ten sagen, oder über seinen bislang einzigen Roman Voice of the Fire (1996), oder auch über den zweifellos hochinteressanten Menschen, der all diese Werke geschaffen hat, doch hier und heute wollen wir es dabei bewenden lassen. Und nur noch hinzufügen: Happy Birthday, Mr. Moore!
* – gefettete Titel stehen für einen Sammelband als PB- oder HC-Veröffentlichung (bzw. für eine eigenständige Buchausgabe), und die Jahreszahl nennt das Jahr der Erstausgabe der entsprechenden Ausgabe
Toller Bericht. Auch wenn ich “vorbelastet” bin, weil ich a. Moore ebenfalls für einen der beeindruckendsten und besten Comic-Autoren halte und b. weil ich die Miracleman-Reihe zufälligerweise habe und liebe wie kaum eine andere Superhelden-Version.
Was Moore für mich so einzigartig macht, ist seine Kompromisslosigkeit, mit der er für Freiheit, Leben, Selbstbestimmung und vor allem Integrität der Person eintritt. Dafür bricht er auch durchaus Tabus oder geht an oder über manche Grenzen – aber immer mit einem tieferen, nie übersehbaren Sinn, der mit der Frage der Menschlichkeit zu tun hat. Oder mit der Frage danach, was Leben wirklich bedeutet.
Witzigerweise habe ich gerade erst am WE die Verfilmung von “V for Vendetta” gesehen (mit Absicht erst so spät), deshalb ist mir Moores Ansatz gerade wieder sehr präsent. Jetzt noch dein Bericht, und ich würde am liebsten sofort alle meine Moore-Comis hervorholen und nochmal lesen;-)
Tja, dass man das Gefühl bekommen soll, das du im letzten Absatz erwähnst, ist natürlich intendiert. 😉 (Lustigerweise hatte ich es dieses Mal selbst, nachdem bzw. eigentlich schon während ich den Text geschrieben habe.)
Andererseits gibt es gewiss Schlimmeres, als mal wieder Swamp Thing oder Miracleman oder Promethea zu lesen oder sich ins von “Norsefire” beherrschte London zu begeben und V über die Schulter zu schauen.