Zum 60. Geburtstag von Lisa Goldstein

Bibliotheka Phantastika gratuliert Lisa Goldstein, die heute 60 Jahre alt wird. Bereits mit ihrem ersten Roman erwies sich die am 21. November 1953 in Los Angeles, Kalifornien, geborene Elizabeth Joy Goldstein als ungewöhnliche Autorin, denn The Red Magician (1982) geht mit den Mitteln der Phantastik ein heikles Thema an.
The Red Magician von Lisa GoldsteinIm Mittelpunkt von The Red Magician steht die anfangs elfjährige Kicsi, die kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs in einem Dorf irgendwo im Nirgendwo zwischen Russland, Ungarn und Tschechien lebt. In diesem Dorf hat der zauberkundige Rabbi das Sagen, der sehr auf Traditionen bedacht ist, jeglichen Fortschritt verabscheut und davon überzeugt ist, das Dorf mithilfe seiner Fähigkeiten vor den Wirren des Krieges bewahren zu können. Als eines Tages ein Fremder namens Vörös – ein Magier, der die Zukunft sehen kann – auftaucht und die Dorfbewohner vor dem ihnen drohenden Verhängnis warnt und sie wegführen will, geraten Der Rabbi und der Magier (so der deutsche Titel, 1985) rasch aneinander. Natürlich glauben die Dorfbewohner an das Altbewährte und damit dem Rabbi. Nur Kicsi nimmt sich Vörös’ Warnungen zu Herzen – doch auch das bewahrt sie nicht davor, ins KZ verschleppt zu werden, als die Deutschen bald darauf das Dorf überfallen …
Ein Fantasyroman, in dem der Holocaust thematisiert wird (worauf übrigens in der deutschen Ausgabe ausdrücklich hingewiesen wird, denn ihr Untertitel lautet: “Ein Märchenroman aus der Zeit des Holocaust”) – ist das nicht ein bisschen gewagt oder gar geschmacklos? Wenn man weiß, dass Lisa Goldsteins in Deutschland geborener Vater Bergen-Belsen überlebt hat, und ihre in Tschechien geborene, ungarisch-stämmige Mutter Ausschwitz (wobei andere Angehörige beider Familien weniger Glück hatten), wird rasch klar, dass hier persönliche Beweggründe eine Rolle gespielt haben dürften. Die vermutlich mit dazu beigetragen haben, dass sie überaus sensibel mit dem Thema umgegangen ist. So verzichtet Lisa Goldstein auf jegliche vordergründig effekthascherische Darstellung des Lagerlebens, und dennoch sorgen die Szenen im KZ für beklemmende, Unbehagen erzeugende Lesemomente. Auch wenn – so viel sei verraten – die Sache zumindest für Kicsi gut ausgeht, verpasst The Red Magician nicht nur an diesen Stellen all den Fantasy-ist-nichts-als-Fluchtliteratur-Apologeten einen kräftigen Tritt dahin, wo’s richtig weh tut.
Auch in den Romanen, die auf ihren mit dem National Book Award ausgezeichneten Erstling folgten, widmete Lisa Goldstein sich ungewöhnlichen Themen: In The Dream Years (1985) verbindet sie das von den Ideen der Surrealisten geflutete Paris der 20er Jahre mit der 1968 ihren Höhepunkt erreichenden Studenten- und Bürgerrechtsbewegung in den USA, während A Mask for the General (1987) im 21. Jahrhundert in einem dystopischen Nordamerika spielt, über das ein General herrscht, der sich mit auf Stammestraditionen zurückgreifenden und nach den alten Regeln lebenden Maskenmachern auseinandersetzen muss, und Tourists (1989) die Geschichte einer amerikanischen Familie erzählt, die in einem im Nahen Osten gelegenen Land nach einem 1000 Jahre alten Manuskript sucht – nur scheinen die Amerikaner und das Land Amaz unterschiedlichen Realitäten anzugehören.
Strange Devices of the Sun and Moon von Lisa GoldsteinNach diesen Büchern, die – wie Lisa Goldstein selbst einmal gesagt hat – auch Versuche waren, “literarisch” zu schreiben, kehrte sie mit Strange Devices of the Sun and Moon (1993; dt. Im Zeichen von Sonne und Mond (1994)) wieder zu etwas handfesteren Themen zurück: Man schreibt das Jahr 1590, über England herrscht Königin Elizabeth. Doch für die normalen Menschen unsichtbar agieren Mitglieder des Alten Volkes nicht nur in den dunklen Straßen und Gassen von London, sondern auch am in ein Netz aus Intrigen gehüllten königlichen Hof. Die Faeries sind auf der Suche nach König Arthur – ihrem König Arthur, einem als Mensch aufgewachsenen Wechselbalg, der sie nun in ihre letzte große Schlacht führen soll, ehe sie diese Welt – diese Realität – für immer verlassen. Und nicht nur der bekannte Theaterdichter Christopher Marlowe (der nebenbei auch als Geheimagent im Dienste der Krone unterwegs ist) muss feststellen, dass an etwas nicht zu glauben keineswegs gewährleistet, dass es diese Dinge tatsächlich nicht gibt. Ein Gefühl von historischer Authentizität, überzeugend gestaltete Figuren – allen voran Christopher Marlowe – und ein Feenvolk, das ebenso faszinierend wie bedrohlich wirkt, machen aus Strange Devices of the Sun and Moon einen mehr als lesenswerten historischen Fantasyroman über das thinning, das Verschwinden der Magie aus der Welt.
Ein Jahr später erschien mit Travellers in Magic nicht nur der erste Sammelband mit Fantasy-Kurzgeschichten, sondern mit Summer King, Winter Fool auch Lisa Goldsteins einziger unter ihrem richtigen Namen veröffentlichter, ausschließlich in einer Anders- oder Sekundärwelt spielender Fantasyroman; in ihm geht es um höfische Intrigen, wahre und falsche Thronerben, Theateraufführungen und Götter des Winters und des Sommers, deren richtige Anbetung für den Wechsel der Jahreszeiten sorgt. Walking the Labyrinth (1996) und Dark Cities Underground (1999) haben wieder ein zeitgenössisches Setting; im erstgenannten Roman muss eine junge Frau feststellen, dass es in ihrer Familie mehr (magische) Geheimnisse gibt, als sie es sich jemals hätte träumen lassen, während in Dark Cities Underground eine unter der Erdoberfläche gelegene andere Welt existiert, in der sich die Settings aller phantastischen Kinderbücher wiederfinden lassen – und die man durch U-Bahnstationen betritt.
The Alchemist’s Door (2002) ist wieder ein historischer Fantasyroman, in dem der ehrgeizige Alchemist John Dee versehentlich einen Dämon beschwört und mit seiner Familie und seinem Mitarbeiter Edward Kelley nach Prag flieht, um beim exzentrischen König Rudolf Schutz zu suchen. Dort lernt er den Rabbi Judah Loew kennen, und gemeinsam machen sie sich auf die Suche nach den 36 Gerechten aus den jüdischen Legenden, die allein durch ihre Existenz verhindern, dass die Welt dem Bösen anheimfällt. Dummerweise hat der leicht beeinflussbare König Rudolf in dieser Hinsicht seine eigenen Ideen – und bald darauf sehen Dee und Loew sich gezwungen, einen Mann aus Lehm zu bauen, um das Judenviertel vor den Soldaten des Königs zu schützen. Allerdings erweist sich auch hier wieder, dass etwas herbeizubeschwören ungeahnte Folgen haben kann …
Einen weitereren Versuch, Anderswelt-Fantasy zu schreiben, stellte der unter dem (allein aus Vermarktungsgründen verwendeten und frühzeitig offengelegten) Pseudonym Isabel Glass erschienene Zweiteiler Daughter of Exile (2004; dt. Tochter der Verbannung (2008)) und The Divided Crown (2005, dt. Die geteilte Krone (2009)) dar, während ihr neuester, wieder unter ihrem richtigen Namen veröffentlichter und mit dem Mythopoeic Fantasy Award ausgezeichneter Roman The Uncertain Places (2011) wieder zeitgenössische Gegenwart mit magischen Untertönen vermischt.
Lisa Goldstein ist eine Autorin der leisen Töne. Oder, anders gesagt: Während man die Werke vieler anderer Autoren und Autorinnen als farbenprächtige oder vor Details überquellende Ölgemälde bezeichen könnte, sind ihre Romane wie in sanften Farben gehaltene Aquarelle. Wer allerdings auch stilistisch sehr ansprechende Fantasy abseits des Mainstreams mag und ein in die Tiefe gehendes Worldbuilding oder einen geradlinigen bzw. zumindest stringent durchgezogenen Plot nicht für die allein seligmachenden Bestandteile eines Romans hält, ist mit etlichen ihrer Romane nicht schlecht bedient.

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