Das Geheimnis des goldenen Reifs

Das Geheimnis des goldenen Reifs von Martin SchemmVor Jahren ist den unter dem norddeutschen Süllberg lebenden Zwergen der zauberkräftige Armreif Wurdbouga gestohlen worden, der es seinem Träger gestattet, Macht über das Schicksal jedes beliebigen Menschen zu erlangen. Nun endlich gibt es eine Spur des Schmuckstücks, das ausgerechnet dem machthungrigen Pfalzgrafen Friedrich von Goseck in die Hände gefallen ist. Der junge Lindfell, Sohn eines menschlichen Wechselbalgs und einer Zwergin, wird ausgesandt, um Wurdbouga zurückzugewinnen. Zwar findet er bei seinem Vorhaben Unterstützung, doch seine Gefährten und er geraten alsbald mitten in den Sachsenkrieg gegen Kaiser Heinrich IV. hinein …

Es war der Tag des heiligen König Oswald im Jahre des Herrn 1073. Die Sommersonne stand hoch am wolkenlos klaren Himmel und brannte auf die Landschaft hernieder. Sie ließ die Welt in leuchtendem Grün erstrahlen, während über allem eine bleierne Stille hing. Von der Hitze wie ermattet, schien die Natur in ihrem lebendigen Treiben innezuhalten. Kein Vogel zog am Himmel seine Bahn oder ließ seinen Gesang ertönen, kein Wild war zu sehen auf der gerodeten Bergkuppe und im angrenzenden Gehölz. Auch kein menschlicher Laut war zu hören. Das einzige Geräusch, das zur Burg herübertönte, war das helle Zirpen der Grillen.
(Prolog – Goldener Adler auf blauem Grund)

History meets Fantasy – so charakterisiert Martin Schemm selbst im Nachwort Das Geheimnis des goldenen Reifs, die in sich abgeschlossene Fortsetzung seines Romans Der Goldschatz der Elbberge, und verspricht damit nicht zu viel. Wie schon im ersten Band bilden die politischen Wirren der Salierzeit den Rahmen für übernatürliche Geschehnisse. Ein eindeutiger Pluspunkt im Vergleich zu manch anderer Historienfantasy ist dabei die Tatsache, dass der Autor sich an die überlieferte Ereignisgeschichte hält und die phantastischen Elemente geschickt so einfügt, dass sie dem, was man über den sächsischen Aufstand weiß, nicht widersprechen. Selbstironisch lässt er sogar bei einem Vorfall, bei dem der Leser “weiß”, dass Zauberei im Spiel war, eine abergläubischen Vorstellungen abholde Romanfigur eine alternative rationale Erklärung anbieten. Fans von Fantasy und historischem Roman gleichermaßen werden zu schätzen wissen, dass die uns in vielem ferne Welt des 11. Jahrhunderts dabei in ihrer Andersartigkeit ernst genommen wird. So lässt etwa die Darstellung der von vielen Charakteren durchaus inbrünstig gelebten christlichen Frömmigkeit (aber auch der parallel dazu wortwörtlich im Untergrund weiterwirkenden heidnischen Praktiken) zu keinem Zeitpunkt den Verdacht aufkommen, es nur mit in eine historisierende Kulisse versetzten modernen Menschen zu tun zu haben.

Auf ein gewisses Maß an Pathos und Dramatik muss man sich bei der Schilderung der geschichtlichen Vorgänge und ihrer Akteure allerdings einlassen: Wenn der schurkische Friedrich von Goseck in finsteren Plänen schwelgt oder Kaiser Heinrich sich über die Opposition gegen seine Herrschaft ereifert, malt Schemm mit recht kräftigen Pinselstrichen. Zwischentöne finden sich eher bei den fiktiven Figuren, wenn beispielsweise ein siegreich überstandener Kampf die überwiegend nicht unbedingt kriegerischen Helden mit gemischten Gefühlen erfüllt oder wenn man sich dabei ertappt, mit Friedrichs Handlanger Gerald mitzufiebern, der, obwohl er in Diensten des Antagonisten steht, selbst beileibe kein Bösewicht ist und großes Talent dafür zu haben scheint, von einer unheimlichen Situation in die nächste zu stolpern. Von Besuchen bei undurchsichtigen Hexen über im Hinterhalt lauernde Fabelwesen bis hin zu einer Begegnung mit der Wilden Jagd bleibt dem armen Mann wahrlich nichts erspart. Für die Leser dagegen ist die Entdeckungsreise durch regionale Sagen und germanische Mythologie höchst unterhaltsam, ganz gleich, ob geheimnisvolle Zwergenreiche erkundet werden oder Wodan persönlich einen starken Auftritt hinlegt.

Die Ausweitung der Schauplätze gegenüber dem ersten Teil der Reihe ist unter diesem Aspekt ein Gewinn. Auch generell ist Das Geheimnis des goldenen Reifs kein schwächerer Nachfolgeband, sondern übertrifft seinen Vorgängerroman womöglich in mancherlei Hinsicht. Wohl unter anderem durch die eindeutige Zielsetzung der Quest bedingt wirken Handlungsführung und Figurenensemble klarer strukturiert und ausgewogener als zuvor, und auch die Landschafts- und Wetterschilderungen haben an Intensität noch gewonnen. Erfreulich ist zudem, dass Schemm diesmal seinen Frauenfiguren nicht nur einen Platz am Rande des Geschehens einräumt, sondern sie vielfach aktiv in die Handlung eingreifen lässt. Neben der tatkräftigen Iva, die sich den Gefährten anschließt und glücklicherweise keine Minute zur damsel in distress verkommt, bleibt einem vor allem die Hexe Watelinde im Gedächtnis, der man zwar lieber nicht im Dunkeln (und vermutlich noch nicht einmal im Hellen) begegnen möchte, die aber eine durchaus eindrucksvolle Gestalt ist.

Darüber hinaus bleibt jedoch erhalten, was schon den ersten Band ausgezeichnet und zu etwas Besonderem gemacht hat: Unabhängig von kurzlebigen Modetrends und Massengeschmack wird hier einfach eine spannende, abenteuerliche Geschichte erzählt, die einen in ein phantastisches Mittelalter entführt und einen insgeheim davon träumen lässt, selbst einmal an passender Stelle herumzustöbern, um vielleicht doch den Einstieg in ein Zwergenreich zu finden oder einen Blick auf ein Ungeheuer am Wegesrand zu erhaschen.

Stand: 25. November 2013
Erscheinungsjahr: 2013
Verlag: Ellert & Richter
ISBN: 978-3-8319-0527-0
Seitenzahl: 480