Subgenre: New Weird

Der eiserne Rat von China MiévilleEin Geschäftsmann aus New Crobuzon plant eine transkontinentale Eisenbahnlinie, und sie entsteht durch Tausende Arbeiter verschiedener Klassen und Rassen mit einem Tross an Huren und Glücksrittern hinter sich, auch Judah Low findet hier sein Auskommen. Doch New Crobuzon wird außenpolitisch bedroht, und nach einem Befreiungsschlag sind die Arbeiter plötzlich die neuen Herren, und aus dem Zug wird etwas wie ein eigener kleiner Stadtstaat, der Eiserne Rat, der durch seine Revolte den Hass der Obrigkeit von New Crobuzon auf sich geladen hat. Während es in New Crobuzon gesellschaftlich bereits zu brodeln beginnt, macht sich Cutter auf, seinen Geliebten, Judah Low, und den Eisernen Rat zu finden.

Zu Der eiserne Rat liegt eine Rezension der Originalausgabe bei Bibliotheka Phantastika vor, dazu bitte hier entlang.

Cover von Embassytown von China MiévilleAvice Brenner Cho ist in Botschaftsstadt auf dem Planeten Arieka aufgewachsen. Umgeben von einer Luftblase, um die Menschen vor der für sie giftigen natürlichen Atmosphäre des Planeten zu schützen, bildet Botschaftsstadt eine kleine Kolonie, die vor allem in linguistischer Hinsicht einzigartig ist. Denn die insektioden Ariekei sprechen mit zwei Stimmen gleichzeitig, können nicht lügen und nur mit Lebewesen kommunizieren, die selbst mit zwei Stimmen sprechen. So hat sich in Botschaftsstadt eine eigene Hierarchie rund um die “Botschafter” gebildet, Beinahe-Klone, geschaffen, um wie ein Wesen mit zwei Stimmen zu wirken. Als jedoch das imperiale Zentrum Bremen einen neuen Botschafter entsendet, gerät Avice’ Welt plötzlich aus den Fugen …

-The miab splits, sending blades of hull matter viciously airborne. Something from the immer comes out. […] It was put down quickly. They hammered it with sometimes-guns, that violently assert the manchmal, this stuff, our everyday, against the always of the immer.- S. 22/23

Wer schon einmal Leseerfahrungen mit China Miéville gesammelt hat, der ahnt wahrscheinlich schon, dass einen wieder ein ganzer Strauß phantastischer Vorstellungen, Szenarien und Kreaturen erwartet. Denn auch wenn sich Embassytown relativ deutlich einem Genre – nämlich der Science Fiction – zuordnen lässt, was ungewöhnlich ist für Miéville, so finden sich darin doch viele Tugenden und Motive wieder, die typisch sind für den britischen Autor. Zwar ist Embassytown ein SF-Roman und bietet in der ersten Hälfte und am Schluss sehr viel Entdeckergeist und Raumfahrerflair, der Großteil des Buches ist jedoch bestimmt von Miévilles Faszination für das Urbane und so bildet die namensgebende Stadt auch den wichtigsten Handlungsschauplatz. Die fremdartigen, faszinierenden und monströsen Aspekte von Botschaftsstadt sowie der sie umgebenden Ariekei-Stadt zu erforschen, die sich darin abspielenden Machtspielchen zwischen verschiedenen Fraktionen und wechselnden Allianzen kennenzulernen, macht einen Großteil des Reizes von Embassytown aus. Denn Miéville versteht es erneut, seine Welt mit einzigartigen Geschöpfen zu füllen und die Fähigkeit der Ariekei organische Materie und Technologie zu chimärenartigen Maschinen, Waffen oder auch Gebäuden zu verschmelzen sowie die ganze sich daraus ergebende Ökonomie sorgen für unfassbar eindrückliche Szenen.

Aber dieses Kennenlernen der Welt passiert quasi im Vorbeigehen, während man in zwei verschiedenen Zeitsträngen einerseits die Ereignisse nach dem Eintreffen des neuen Botschafters verfolgt und andererseits mehr über Avice, ihre Kindheit in Botschaftsstadt, ihre Jahre als Weltraumreisende und ihre Rückkehr in ihre Heimatstadt erfährt. Dieser Art Exposition hat Miéville viel Platz eingeräumt, was dem Roman sehr gut tut. Zwar schreitet dadurch die eigentliche Handlung längere Zeit weniger rasch voran, es halten einen jedoch sowohl das Setting – etwa Miévilles eher philosophische als physikalische Lösung für intergalaktische Reisen durch den zeitlosen Raum des “immer” -, als auch die Heldin selbst bei der Stange, die eine der zugänglichsten ProtagonistInnen ist, die Miéville bisher erschaffen hat.

Das Faszinierendste an Embassytown und zugleich dasjenige, das Lesern und Leserinnen wohl am meisten Kopfzerbrechen bereiten dürfte, ist das Hauptthema des Romans, nämlich Sprache oder konkreter “die Sprache” (im Original: “Language”, im Gegensatz zu jeder anderen “Sprache”, “language”) der Ariekei. Dass sie gleichzeitig mit zwei verschiedenen Mündern in zwei unterschiedlichen Tonlagen sprechen, ist dabei noch das herkömmlichste an der Sache. “Die Sprache” ist nämlich nicht wie jede andere durch Signifikant (das Bezeichnende), Signifikat (das Bezeichnete) und die Beziehung zwischen den beiden bestimmt, sondern sie kann nur das ausdrücken, was in der Welt ist. Das heißt auch, dass die Ariekei nicht lügen können. Durch die Ankunft der Menschen verändert sich diese Beziehung der Ariekei zu ihrer Umwelt jedoch langsam aber nachhaltig und wird schließlich durch den neuen Botschafter erschüttert. Welche dramatischen Folgen dies zeitigt und wie damit umgegangen wird, macht den eigentlichen Plot des Romans aus, der besonders im letzten Drittel des Romans rasant zulegt und trotz des sprach- und gesellschaftsphilosophischen Themas nichts an Spannung vermissen lässt. Dabei vermeidet Miéville gekonnt Exotismen, sondern spielt sogar mit dem Bild vom “edlen Wilden”, so wie der immer mal wieder aufblitzende große Rahmen eines galaktischen Imperiums gewisse Parallelen zur Endphase des Imperialismus im 20. Jahrhundert aufweist und Raum für weitere Romane in diesem Universum böte.

Natürlich ist auch Miévilles idiosynkratischer und neologismenreicher Schreibstil wieder mit von der Partie, der die passenden Wortungetüme zu den fiktiven Monstrositäten liefert. Dieser Roman ist damit sowohl für Miéville-Kenner, als auch für solche, die es noch werden wollen, zu empfehlen, besonders aber jenen, die sich gerne mit Sprache befassen.

Die Falter von China MiévilleIn New Crobuzon leben Menschen und Mutanten, Arbeiter und Sklaven, Künstler und Huren, Magier und Wissenschaftler … es ist ein Moloch von einer Stadt. Eine brutale Miliz sorgte über tausende von Jahre für Frieden, bis eines Tages ein Fremder in die Stadt kommt. Mit einem schier unmöglichen Anliegen und reichlich Gold in den Taschen wird er schließlich zum Auslöser einer Katastrophe, als ein “Falter”, ein gefährlicher Mutant, aus den Laboren entkommt und beginnt die Stadt zu vernichten.

– Wir schaukeln. Wir rollen in einer tiefen Strömung. –
Seite 7

Zu Die Falter liegt eine Rezension der Originalausgabe bei Bibliotheka Phantastika vor, dazu bitte hier entlang.

Anmerkung: Das englischsprachige Original wurde in der deutschen Übersetzung gesplittet. Die verlinkte Rezension bezieht sich daher auf die beiden deutschsprachigen Bücher Die Falter und Der Weber.

Cover von Iron Council von China MiévilleEin Geschäftsmann aus New Crobuzon plant eine transkontinentale Eisenbahnlinie, und sie entsteht durch Tausende Arbeiter verschiedener Klassen und Rassen mit einem Tross an Huren und Glücksrittern hinter sich, auch Judah Low findet hier sein Auskommen. Doch New Crobuzon wird außenpolitisch bedroht, und nach einem Befreiungsschlag sind die Arbeiter plötzlich die neuen Herren, und aus dem Zug wird etwas wie ein eigener kleiner Stadtstaat, der Eiserne Rat, der durch seine Revolte den Hass der Obrigkeit von New Crobuzon auf sich geladen hat. Während es in New Crobuzon gesellschaftlich bereits zu brodeln beginnt, macht sich Cutter auf, seinen Geliebten, Judah Low, und den Eisernen Rat zu finden.

-In years gone, women and men are cutting a line across the dirtland and dragging history with them. They are still, with fight-shouts setting their mouths.-

Iron Council (Der Eiserne Rat) ist Miévilles dritter Bas-Lag-Roman. Auch, wenn die einzelnen Romane unabhängig voneinander zu lesen sind, so bietet sich Iron Council nicht unbedingt als Einstieg an, da es doch verhältnismäßig wenige Erklärungen zu New Crobuzon liefert und außerdem einige Anspielungen auf Perdido Street Station, den ersten Bas-Lag-Roman, für den Kenner oder die Kennerin bereithält.
Hatte in Perdido Street Station der Stadtmoloch New Crobuzon die düster-faszinierende Kulisse geliefert und in The Scar die schwimmende Piratenstadt Armada für Seefahrerflair gesorgt, so verleiht Iron Council der Bau einer Bahnlinie von New Crobuzon aus quer über den Kontinent Westernatmosphäre mit allem, was dazugehört: skrupellose Unternehmer, einsame Revolverhelden und selbstbewusste Prostituierte. Wie schon in The Scar wird die Welt außerhalb des autoritär regierten Stadtstaates New Crobuzon weiter erkundet. Die politische Landschaft bleibt zwar weiterhin eher schemenhaft, nimmt aber konkretere und bedrohlichere Formen an, das eigentliche Schmankerl des Romans in dieser Hinsicht ist aber die faszinierende Geographie, die Miéville wieder mit phantastischen Naturerscheinungen und Lebewesen füllt, aber auch mit einfallsreichen Kulturen, die unter die Räder des Eisenbahnexpansionismus geraten.

Besonders der Handlungsstrang rund um Judah Low, der die Vorgeschichte und die Entstehung des titelgebenden Eisernen Rats schildert, profitiert vom Wilder-Westen-Flair, aber auch von den interessanten Nebenfiguren. Die Suche Cutters nach seinem Geliebten dagegen leidet hauptsächlich unter dem spröden Protagonisten. Der dritte Handlungsstrang rund um den jungen Ori spielt dagegen in New Crobuzon und ist auf vielfache Weise mit den anderen beiden verwoben. Wieder lernt man die Metropole etwas besser kennen, andere Stadtviertel und Milieus geraten in den Mittelpunkt. Gerade die Figur des jungen, ebenso idealistischen wie ungeduldigen Ori, der die soziopolitischen Verhältnisse in seiner Heimatstadt unbedingt verändern möchte, und seine Geschichte tragen durch den Roman, auch weil sie eine andere Perspektive auf die zugrundeliegende Thematik politischer Veränderungen liefern.

Iron Council ist somit Miévilles bisher politischster Bas-Lag-Roman, ist allerdings weit davon entfernt ein Manifest zu sein. Wer mit der sozialen und politischen Thematik nichts anfangen kann, der bekommt zwar immer noch eine spannende und wendungsreiche Geschichte, wer sich aber auch nur ein wenig für gesellschaftliche und politische Themen und die Frage, wie man eine Gesellschaft gerechter machen kann (Reform oder Revolution?) interessiert, dem/der eröffnet sich eine zusätzliche Ebene des Romans, die ebendies vielschichtig behandelt, ohne eine endgültige Antwort liefern zu wollen. Das verdeutlicht auch das Ende, das einen genialen Kontrapunkt zu den sich zunehmend überschlagenden Ereignissen des Romans setzt und einen nachdenklich zurücklässt. (Weswegen wir es auch in einem Blog zum Thema “Buchenden” angesprochen haben.)

Neben den politischen Fragestellungen greift Miéville auch phantastische Ideen auf, diesmal ist es das Schaffen eines Golems, wobei das Konzept im Verlauf der Handlung weiter entwickelt wird und die Kontrolle über tote wie lebendige Materie (und anderes) im Mittelpunkt steht.
Wie auch schon in den vorangegangenen Werken ist Miévilles Stil ein zweischneidiges Schwert. Einerseits passt seine Sprachkraft wunderbar zu der von ihm erschaffenen Welt und es gelingt ihm mit seinem schon monströsen Wortschatz bildgewaltige Szenen zu erschaffen, andererseits wird das Lesen und Verstehen des Romans so selbst für geübte Leser/Leserinnen zu einer echten Herausforderung und der Grat zwischen überbordend und Schreiben um der Sprache willen ist schmal. Wer sich den Griff zum Original daher nicht zutraut, kann die Geschichte von Judah Low, Cutter und Ori in der deutschen Übersetzung Der Eiserne Rat (die erste ungesplittete Bas-Lag-Übersetzung) genießen.

Leviathan von China MiévilleBellis Coldwine muß ihre Heimatstadt New Crobuzon verlassen und mit einem Schiff in eine ferne Kolonie zu flüchten. Mit ihr an Bord sind andere Passagiere und ein ganzer Rumpf voller Gefangener – Arbeitssklaven für die Kolonie. Doch sie erreichen niemals ihr Ziel: Nach einem Überfall werden alle Reisenden zwangsweise zu Bürgern von Armada gemacht – einer Piratenstadt, die über die Meere von Bas-Lag treibt. Während die Gefangenen nun frei sind und Armada loyal gegenüberstehen, kann sich Bellis nicht damit abfinden, bis ans Ende ihrer Tage dort bleiben zu müssen. Als sie herausfindet, daß die Führer der Stadt nach dem größten aller Meeresungeheuer fischen wollen, versucht sie ihr Wissen zur Flucht einzusetzen.

Zu Leviathan liegt eine Rezension der Originalausgabe bei Bibliotheka Phantastika vor, dazu bitte hier entlang.

Anmerkung: Das englischsprachige Original wurde in der deutschen Übersetzung gesplittet. Die verlinkte Rezension bezieht sich daher auf die beiden deutschsprachigen Bücher Die Narbe und Der Leviathan.

Die Narbe von China MiévilleBellis Coldwine muß ihre Heimatstadt New Crobuzon verlassen und mit einem Schiff in eine ferne Kolonie zu flüchten. Mit ihr an Bord sind andere Passagiere und ein ganzer Rumpf voller Gefangener – Arbeitssklaven für die Kolonie. Doch sie erreichen niemals ihr Ziel: Nach einem Überfall werden alle Reisenden zwangsweise zu Bürgern von Armada gemacht – einer Piratenstadt, die über die Meere von Bas-Lag treibt. Während die Gefangenen nun frei sind und Armada loyal gegenüberstehen, kann sich Bellis nicht damit abfinden, bis ans Ende ihrer Tage dort bleiben zu müssen. Als sie herausfindet, daß die Führer der Stadt nach dem größten aller Meeresungeheuer fischen wollen, versucht sie ihr Wissen zur Flucht einzusetzen.

– Eingezwängt in das winzige Tauchboot mit seinen wuchernden Eingeweiden aus Kupferrohren und Skalen, musste Bellis den Hals recken, um an Cumbershum und Kapitän Myzovic und dem Steuermann vorbeisehen zu können, die ihr die Sicht versperrten. –
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Zu Die Narbe liegt eine Rezension der Originalausgabe bei Bibliotheka Phantastika vor, dazu bitte hier entlang.

Anmerkung: Das englischsprachige Original wurde in der deutschen Übersetzung gesplittet. Die verlinkte Rezension bezieht sich daher auf die beiden deutschsprachigen Bücher Die Narbe und Der Leviathan.

Cover von Das Paradies der Schwerter von Tobias O. MeißnerEine Flugschrift erreicht die sechzehn Kämpfer und Hauptfiguren in Tobias O. Meißners Paradies der Schwerter und bringt sie alle, nach unterschiedlichen Vorgeschichten und Biographien, in der Hölzernen Arena zusammen, wo sie Mann gegen Mann auf Leben und Tod ein grausames Turnier bestreiten.

– Großes Kampfturnier in der Befestigten Stadt! Sechzehn Teilnehmer streiten auf Leben und Tod um einen goldenen Stirnreif. Wert: Eintausend neue Taler. Kommt, um teilzunehmen! Kommt, um zu schauen! Eintritt nur fünf neue Taler. Das Turnier findet statt am Achten des Achten, ab morgens um acht. –
Flugschrift

Die Tendenz in moderner Fantasy zu düsteren, mittelalterlichen Welten, die von Intrigen, Egoismus, Machtgier und Herrschaftssucht gezeichnet sind, – als Beispiel seien hier George R.R. Martins Lied von Eis und Feuer oder auch Markolf Hoffmans Zeitalter der Wandlung genannt – greift Meißner spielerisch auf und erhebt dieses Prinzip sogar zur Regel.
Wobei “Regel” in diesem Fall mehr als wörtlich zu verstehen ist, immerhin erschuf Meißner alle 16 Kombatanten in einem dem Rollenspiel ähnlichen Verfahren, bestimmte durch das Los die Kampfpaarungen und schlussendlich erwürfelte er ebenso das Schicksal seiner Protagonisten. Eben jene jedoch sind von solch schauerlicher Mensch- und Unmenschlichkeit, Tragik und Traurigkeit, dass der Leser immer zwischen Depression und Delirium gefangen gehalten wird. In der ersten Hälfte des Buches erfahren alle Mitstreiter eine mehr oder weniger ausführliche Vorstellung. Dieser expositorische Teil des Werkes zeigt Meißners schriftstellerische Kreativität.

Die eigentliche Welt, in der Meißners Roman spielt, bleibt eine Skizze und ist auch historisch nur schwer einzuordnen. Krieg herrscht im Land, es gibt nur wenige große Städte und überall verspürt man eine depressive und gewalttätige Stimmung. Dennoch erscheinen die Charaktere gar nicht wie skizzenhafte Stereotype. Die Bandbreite an Waffen und Kampfstilen ist dabei so groß wie die Verschiedenheit ihrer Hintergrundgeschichten, ihrer Motive und Triebfedern. Geltungssucht, Selbstbestätigung, Schicksal, Suche, Armut, Lebensmüdigkeit und Geldgier finden neben Hass, Verehrung und Brüderlichkeit alle durchaus auch mehrfach ihr Pendant in den durchweg interessanten und moralisch oftmals fragwürdigen Figuren.
Dieser Vielfalt an Protagonisten ist es auch zu verdanken, dass das Paradies der Schwerter nicht bloß zur Allegorie über Zufall und Schicksal wird oder lediglich eine harsche Kritik an Voyeurismus und Gladiatorenspielen (respektive wohl auch modernerer Unterhaltung: reality TV) bleibt, sondern auch das tragische Schicksal der Gladiatoren mitfühlen und -fiebern lässt. Ohne diese Beziehung zu den Charakteren, die durch deren Vorgeschichte aufgebaut wurde, wäre man wohl ebenso wie das Publikum in der Hölzernen Arena. Denn Meißners Sprache in den Kämpfen ist eindringlich, der ständige Wechsel der Erzählerperspektive führt zu einem beinahe filmhaften Erlebnis.
Das eigentlich abstoßende und zugleich faszinierende Element ist aber doch die unübertroffene Spannung, die durch die Unvorhersehbarkeit der Kämpfe aufkommt. Man spürt als Leser das Kribbeln eines ungewissen Kampfes, man setzt unwillkürlich auf den eigenen Favoriten und weiß doch immer, dass man keinen haben sollte.

Neben der sprachlichen Eindringlichkeit der Kämpfe verspürt man aber auch im restlichen Geschehen, dass Meißner ein Experiment geglückt ist. Mal sind die Vorgeschichten der Kämpfer anekdotenhaft, dann wieder kommt eine kühle Distanz durch paragraphenhafte Beschreibung auf oder man verfällt in den Rhythmus des jungen Daimiyo Kriegers, wenn Meißner staccatohaft und präzise seine Bewegungen und Kampffiguren beschreibt.
Mal erklärt ein Bewusstseinsstrom die Gedanken eines Kämpfers und dann weisen nur aphoristische Phrasen auf das Schicksal eines Kämpen hin. Diese Vielschichtigkeit bewahrt sich das Buch, ohne unleserlich zu werden; letztlich bleibt die Lesefreude und das Grübeln über das Geschehene die Hauptaufgabe des Lesers. Ebenso wie das Werk sprachlich ansprechend ist, die dramatis personae überzeugend skurril auftritt, beweist das Buch aber auch interpretatorischen Spielraum.
Die existenzialistische Idee, dass man das eigene Sein gerade in Grenzerfahrungen stärker wahrnimmt, wird ebenso beleuchtet, wie die Psychologie der Masse, die Günstlinge erwählt, nach Blut lechzt und irgendwann saturiert oder frustriert von dannen zieht.
Denn Meißners Hölzerne Arena hat ihren Zenit bereits überschritten, sie ist die letzte Bastion einer ausgehenden Ära von ehrenhaftem Kampf, wie der Arenabesitzer Gillet mehrfach betont. Diese paradoxe Perversität, dieses Ehrverständnis von Kampf auf Leben und Tod wird besonders deutlich, wenn man einen kleinen Kommentar mit einbezieht, der besagt, dass das Paradies der Schwerter in Tobias O. Meißners Roman Neverwake unter dem Titel Rakuen ein berühmter Bestseller wird. Neverwake handelt von einer Welt der Computerspiel-Ligen und von virtuellem (deswegen moralisch hochwertigerem?) Kampf.

Die Hölzerne Arena ist ein Auslaufmodell für die Welt von Neverwake, vielleicht eine dystopische Zukunftsvision für unsere Realität, vielleicht auch ein mahnender Zeigefinger oder einfach nur ein verdammt spannendes Buch über “Kampf, Zufall und das Gegenteil von Nichts”.

Cover des Buches "Perdido Street Station von China Miéville"In New Crobuzon, der riesigen Metropole, taucht ein Fremder auf, der auf der Suche nach einem Wissenschaftler ist, der das Unmögliche mögliche machen kann. Er gerät an Isaac dan der Grimnebulin, einen Freigeist, der wegen seiner Methoden und Anschauungen von der Universität geflogen ist.
Dieser lässt sich, um seinem Auftraggeber zu helfen, aus allen möglichen zwielichtigen Quellen geflügelte Lebewesen beschaffen, um den Flug zu erforschen, und dabei macht er einen entscheidenden Fehler, der dazu führt, dass ein Monster auf die Bewohner der Stadt losgelassen wird, das alle Rassenkonflikte und die brutal durchgesetzten Gesetze der Regierung nebensächlich erscheinen lässt…

-A window burst open high above the market. A basket flew from it and arced towards the oblivious crowd. It spasmed in mid-air, then spun and continued earthwards at a slower, uneven pace.-
Chapter One

Perdido Street Station (Der Falter, Der Weber) heißt der Hauptbahnhof der monströsen Metropole New Crobuzon, die auf der Welt Bas-Lag liegt. Auf Bas-Lag finden sich viele mysteriöse, gefährliche und absonderliche Orte, doch die Geschichte spielt nur in New Crobuzon und außer dem scheinbar unzivilisierten Cymek werden die Gebiete außerhalb der Stadt nicht weiter beschrieben. Das ist aber auch gar nicht notwendig, denn der Moloch bietet mehr als ausreichend Varianz.
Diese manifestiert sich hauptsächlich in den Figuren, denn das Stadtbild ist ein sehr düsteres: Nirgendwo gibt es strahlende oder neue Gebäude, die Dinge sind nicht fragil oder ästhetisch – die Gebäude sind alt und zweckmäßig, das Metall ist verrostet, der Putz bröckelt von den Wänden und das Glas der Fenster ist gesprungen. Verbunden mit der erdrückenden Enge der Bauwerke und ihrer wuchtigen Monumentalität, entsteht der Eindruck eines früh-industriellen-Film-Noir-Londons.

Auch wenn die Stadt in erster Linie eine Stadt der Menschen ist, deren Regierung vor brutaler Gewalt nicht zurückschreckt, um die Interessen der Oberschicht durchzusetzen, haben die unterschiedlichsten Völker hier ihre Ghettos: Die Cactacae, sehr unempfindliche, intelligente Kakteen mit menschlicher Gestalt, leben vielfach im Glashaus; die Khepri, insektenartige Wesen, bei deren Spezies nur die Weiblichen Intelligenz besitzen, bauen ihre fremdartig-organischen Wohnanlagen in Kinken oder Creekside; die Wyrman, intelligente Vogelwesen, leben in der Stadt verstreut.
Doch daneben gibt es unzählige sonderbare Wesen mehr: Die krötenartigen Vodyanoi, die Garuda, Wesen zur Hälfte Mensch, zur Hälfte Vogel, Vampire und sogar die Hölle hat ihren Botschafter in der Stadt – mit dem die Regierung dubiose Geschäfte macht.
Das Buch quillt über vor eigenartigen Figuren; sind sie physisch unauffällig, haben sie einen interessanten Charakter – wie Isaac Dan der Grimnebulin, ein brillianter, aber unorthodoxer Wissenschaftler, der wann immer er kann auf illegale Kanäle zurückgreift, oder Lemuel Pigeon, ein Schieber, der zwar ein persönliches Interesse an der Geschichte hat, aber deshalb nicht auf den Profit verzichten oder gar sein Leben übermäßig riskieren würde. Es gibt aber auch physisch ungewöhnliche Gestalten, wie Lin, eine Khepri-Künstlerin, die mittels ihrer Physiognomie eine Paste produziert aus der sie Plastiken formt, oder Mr. Motley, DER Boss des Organisierten Verbrechens, dessen Körper eine unbeschreibliche Kombination aus einer Vielzahl von verschiedensten Wesen ist, Ausdruck seiner Besessenheit: der Transformation. Dennoch bleiben alle Charaktere glaubwürdig, sowohl was Motivation, als auch was Handlungen angeht, egal ob sie nun Schurken, Wissenschaftler, Wächter, Verräter oder einfach nur Opfer sind.

Drei grundlegende Arten von Kräften beeinflussen das Geschehen der Welt: die physikalischen Kräfte, die gesellschaftlichen Kräfte und die thaumaturgischen Kräfte. Wer eine der Techniken erlernt hat, um die thaumaturgischen Kräfte zu manipulieren, ist zu höchst befremdlichen Dingen in der Lage. So kann eine Communicatrix mittels einiger persönlicher Gegenstände und Informationen die æthero-mental Waves nutzen um eine weit entfernte Person durch sich sprechen zu lassen, ein Bio-Thaumaturg kann Lebewesen völlig neu gestalten. Die Vodyanoi Schamanen können flüssiges Wasser mit der watercræft in festen Positionen halten und so z.B. einen Gang durch einen Fluss schaffen. Insgesamt wirkt die Magie sehr wissenschaftlich und technisch, generell reproduziert sie die Errungenschaften der Moderne und geht leider nur selten darüber hinaus.

Die Geschichte lässt sich am ehesten als Monsterjagd mit Hindernissen beschreiben. Sie lässt sich nur langsam an: ein gutes Drittel befasst sich mit der Einführung der Welt, der Figuren, Isaacs Forschungen und der feinfühligen Romanze zwischen dem Renegaten-Wissenschaftler und Lin, der Renegaten-Künstlerin. Mit Lin nimmt sich Miéville auch sehr vorsichtig des Themas Rassismus an, wobei besonders Lins Reflektionen über ihre Herkunft gelungen sind.

Dann aber setzt abrupt die Erkenntnis um die Katastrophe ein und fast sofort beginnt die Katharsis – und die ist lang und schmerzhaft. Es ist dem Autoren trefflich gelungen, die das Gemüt niederdrückende Stimmung durch die Ereignisse zu vermitteln. Viele Fäden werden zu einem großen Ganzen versponnen, so entsteht ein sehr komplexes Geflecht. Isaacs Geschichte ist der rote Faden, der sich hindurch zieht, die anderen treten mal hinzu, mal nicht. Dieses ist m.E.n. eine Schwäche: Entweder sollten die Fäden gleichberechtigt sein oder nur dann geschildert werden, wenn sie mit Isaac in Verbindung treten. Auch dauert für meinen Geschmack die Katharsis etwas zu lange, so dass zum Ende hin sich die Spannung in Grenzen hält. Ein weiteres Problem ist die mangelnde Transparenz am Ende: Alle kennen den Plan, nur der Leser muss im Dunkeln auf den Ablauf der Ereignisse warten.

Schließlich ist Miéville etwas zu ausführlich, immer wieder werden Stimmung und Situation detailreich erläutert, hinzu kommt, dass einige Szenen keine neuen Informationen bringen; diese Eigenarten nehmen der Geschichte ebenfalls an Spannung. So bleibt festzustellen, dass die Geschichte größtes Potential, viele hervorragende Elemente – aber leider auch einige Schwachstellen aufweist.
Sprachlich ist das Werk sehr gut gelungen, es mangelt an manchen Stellen allerdings ein wenig an Eindringlichkeit, so dass die dargestellte Szene nicht den Horror auslöst, die sie auslösen sollte.

The Scar von China MiévilleBellis Coldwine muß ihre Heimatstadt New Crobuzon verlassen und mit einem Schiff in eine ferne Kolonie zu flüchten. Mit ihr an Bord sind andere Passagiere und ein ganzer Rumpf voller Gefangener – Arbeitssklaven für die Kolonie. Doch sie erreichen niemals ihr Ziel: Nach einem Überfall werden alle Reisenden zwangsweise zu Bürgern von Armada gemacht – einer Piratenstadt, die über die Meere von Bas-Lag treibt. Während die Gefangenen nun frei sind und Armada loyal gegenüberstehen, kann sich Bellis nicht damit abfinden, bis ans Ende ihrer Tage dort bleiben zu müssen. Als sie herausfindet, daß die Führer der Stadt nach dem größten aller Meeresungeheuer fischen wollen, versucht sie ihr Wissen zur Flucht einzusetzen.

-A mile below the lowest cloud, rock breaches water and the sea begins.
It has been given many names. Each inlet and bay and stream has been classified as if it were a discrete.-

Zum zweiten Mal gelingt China Miéville das Kunststück, vorzuführen, was Fantasy alles könnte und wie wenig davon in vielen Fällen realisiert wird. Zeitlich knüpft The Scar direkt an den Vorgänger Perdido Street Station an, steht aber im Bezug auf Handlung und Figuren seperat und erzählt ein völlig neues Kapitel aus der Geschichte der Welt Bas-Lag.

Komplex, kreativ, realistisch und ausufernd ist Miévilles Bas-Lag, es gibt faszinierende neue Völker und Wesen zu entdecken, die Strukturen der Gesellschaft sind ungewohnt gut ausgearbeitet, und auch wenn die großen Zusammenhänge obskur bleiben, hat man stets das Gefühl, sich in einer Umgebung mit politischem und geschichtlich authentischem Hintergrundgeschehen und verschiedenen koheränten Kulturen zu bewegen – doch Fans klassischer Fantasy seien gewarnt: Das Zeitalter entspricht ungefähr der frühen Moderne, in der Maschinen, Wissenschaft und sozialer Sprengstoff, aber auch Thaumaturgie und “magische” Schwerter an der Tagesordnung sind.
Gerade die sozialkritische Komponente kommt immer wieder zum Tragen – in der freien, anarchistischen Piratenstadt Armada entwickelt sich unweigerlich die altbekannte Dynamik und die Gesellschafts- und Herrschaftsstrukturen bleiben letztendlich unveränderlich. Für Leser, von die brisanten Themen in der Fantasy lieber verschont bleiben möchten, ist der Roman daher wenig empfehlenswert.

Auf der anderen Seite wartet allerdings ein großartiges Entdecker- und Meeres-Abenteuer in The Scar (daß Miéville auch submarine Spezies im Portfolio hat, macht gleich zu Beginn des Romans ganz neue Welten zugänglich), und dort kann sich der Autor beim Schöpfen von Monstern und Schauplätzen und in aberwitzigen Ideen austoben, und hat zugleich eine schillernde Projektsionsfläche für Denkansätze verschiedenster Art geschaffen. The Scar mutet teils wie ein bizarrer Fiebertraum an, bleibt aber doch von einer brutalen Realität, in der einem mit grandioser und auch schonungsloser Sprache verstörende und einprägsame Bilder vermittelt werden.
Damit man nicht ganz von der mitreißenden maritimen Entdeckungsreise weggespült wird, sorgt die Protagonistin Bellis für etwas Distanz – sie ist eine spröde Hauptfigur, die sich nicht mit Armada identifizieren kann und sich ihr erzwungenes neues Dasein um keinen Preis aneignen will, selbst als sich ihr ungeahnte Möglichkeiten auftun. Unterstützt wird sie von weiteren Figuren, aus deren Sicht berichtet wird, und die teils zugänglicher als die Heldin sind. Doch Miéville spielt ohnehin mit dem Leser und seinen Figuren, und die Haupthandlung, die am Anfang eher ruhig vor sich hintreibt, gewinnt Schlag auf Schlag an Dynamik und führt einen immer wieder an der Nase herum.
Helden, Pathos und Vorhersehbarkeit gestattet diese Geschichte nicht, statt dessen hat alles einen hohen Preis und läßt Leser wie Figuren verändert zurück. Schon allein wegen dieser emotionalen Kraft lohnt sich der Besuch in Armada – nebenbei sicherlich eine der außergewöhnlichsten Fantasy-Städte, die je beschrieben wurden.

The Six Gun Tarot von R. S. BelcherMehr tot als lebendig kommt der junge Jim mit seinem treuen Pferd nach der Durchquerung der 40-Meilen-Wüste in Golgotha an, einem Western-Kaff, wie es im Buche steht. Oder vielleicht doch nicht ganz? Es ist auf jeden Fall einiges faul in dem Örtchen, in dem sich zwischen mormonischen Stadtvätern, einem offenbar unsterblichen Sheriff, einem Gemischtwarenhändler mit frankenstein’schen Ambitionen und einer Bankiersgemahlin mit eindeutig zu vielen Messer in der Tasche etwas Böses herumtreibt. Aber auch Jim schleppt ein magisches Artefakt (und ein hohes Kopfgeld, das auf ihn ausgesetzt ist) mit sich herum, und versucht kurzerhand Fuß zu fassen.

-The Nevada sun bit into Jim Negrey like a rattlesnake. It was noon. He shuffled forward, fighting gravity and exhaustion, his will keeping him upright and moving.-
The Page of Wands

Wenn die Fantasy den wilden Westen erobert und damit zwei bildgewaltige, abenteuerliche und kontrastreiche Genres aufeinandertreffen und in einer konzertierten Aktion Zombies, Viehbarone oder Aliens niedermachen, geht es meist ziemlich hoch her. Und wenn man schon mal dabei ist, den Western phantastisch aufzuladen, kann man ja auch gleich noch etwas mehr hinein packen. Und dann nochmal ein Schippchen obendrauf legen.
Das war wohl R.S. Belchers Devise für sein Romandebüt The Six-Gun Tarot, dem man locker eine ausufernde Genrebezeichnung überstülpen könnte, bei der EU-Gesetzgebungs-Bandwurmwörter im Längenvergleich beschämt von dannen ziehen müssten.
Der Roman empfängt Leser und Leserinnen zunächst mit charmant und stilvoll umgesetzten Western-Klischees und einem bunten Figuren-Ensemble, das trotz des rauen Tons, der in Golgotha mitunter angeschlagen wird, eine gewisse Wärme ausstrahlt. Es ist zwar nicht gerade ein idyllisches Western-Städtchen-Leben, aber ein mehr oder weniger respektvoller Umgang, was sich zwischen den Einwohnern abspielt … als da wären: Der junge Neuankömmling (mit finsterer Vergangenheit), der strahlend gute Sheriff (mfV), der zwielichtige Saloon-Betreiber (mfV), die Bankiersgattin (mfV), die Minenarbeiter (mfV), der Bürgermeister (mit Leiche im Keller), der Gemischtwarenhändler (mit Leiche im Speicher), der indianische Hilfsheriff (mit fragwürdiger, vierbeiniger Abstammung), die freundliche Witwe (völlig geheimnis- und leichenfrei). Und das, liebe Leserinnen und Leser, waren noch lange nicht alle Figuren, aus der Perspektive The Six-Gun Tarot erzählt wird.

Eine Weile funktioniert das sehr gut, die Spannung des Romans bezieht sich aus dem Setting und den Figuren. Doch die Masse an Personal und sonstigen Versatzstücken – denn jede Figur bringt eine eigene interessante Geschichte mit neuen Elementen mit – geht schnell auf Kosten der Tiefe und des Tempos.
Dabei machen viele der einzelnen Ideen großen Spaß: Mutt, der Hilfsheriff mit Coyotenverwandtschaft, ist eine gelungene (als Indianer doppelte) Außenseiterfigur, die mehr schlecht als recht in einer kleinen Nische der Gesellschaft zurechtkommt. Der Auftritt einer feministischen Super-Oma bringt die Lage von Frauen im 19. Jahrhundert (und weit darüber hinaus) perfekt auf den Punkt. Die mormonischen Stadtväter von Golgotha (durch deren Ränge sich einige hochinteressante Brüche ziehen) passen nicht nur zur religiös aufgeladenen Haupthandlung, sondern tragen mit dazu bei, aus Golgotha ein hyperamerikanisches Kaff zu machen, das nur von Leuten bewohnt wird, die sich schlicht weigern, aufzugeben.
Bisweilen stellt Belcher einen liebevollen Blick für Details und Charakterentwicklung zur Schau, aber eben nur punktuell. Er schafft es nicht ganz, alles zu einer Einheit zusammenzufügen. Im Gegenteil laufen viele Figurengeschichten ein bisschen ins Leere, während sie gleichzeitig aber auch die Haupthandlung sabotieren, die in ihrer schöpfungsgeschichtlichen Grundannahme eigentlich gewaltig genug ist, allein mehr als einen knapp 400seitigen Roman zu tragen. Der mythische Hintergrund der Geschehnisse in Golgotha ist eine spannende Sache, verliert sich aber im Kuddelmuddel aus Einzelideen.

Hinzu kommen ein paar kleinere Probleme technischer Natur – ob es nun die sich in mehreren Handlungssträngen schnell abnutzende Motivation durch die Kinder der Hauptfiguren ist, oder Dialoge, in denen Belcher seine Helden allzu sehr den Erklärbär geben lässt und dazu auch mal unschön aus der Perspektive fällt.
Inmitten der Infodumps und während das Ganze mit immer neuen Figuren in die Breite geht, flaut die Spannung schnell ab, und man braucht schon eine ausdauernde Freude an neuen Ideen, um am Ball zu bleiben.
The Six-Gun Tarot ist trotz allem ein Roman, den man nur ungern in die Pfanne haut, denn er krankt an einem Autor, der sich redlich bemüht und dabei vieles gut gemacht hat. Aber es sind genau jene vielen zu komplexen und differenzierten Geschichten, die fast alle lobenswert anders sein und ihre Klischees auf den Kopf stellen wollten, die das Debüt letztlich im Graben enden lassen.
R.S. Belcher ist aber trotzdem ein Autor, den man sich merken sollte – vielleicht, wenn er aus seinen hervorragenden Zutaten erst mal Bohnen mit Speck statt ein Zehn-Gänge-Menü kocht.

Stadt der Fremden von China MiévilleAvice Brenner Cho ist in Botschaftsstadt auf dem Planeten Arieka aufgewachsen. Umgeben von einer Luftblase, um die Menschen vor der für sie giftigen natürlichen Atmosphäre des Planeten zu schützen, bildet Botschaftsstadt eine kleine Kolonie, die vor allem in linguistischer Hinsicht einzigartig ist. Denn die insektioden Ariekei sprechen mit zwei Stimmen gleichzeitig, können nicht lügen und nur mit Lebewesen kommunizieren, die selbst mit zwei Stimmen sprechen. So hat sich in Botschaftsstadt eine eigene Hierarchie rund um die “Botschafter” gebildet, Beinahe-Klone, geschaffen, um wie ein Wesen mit zwei Stimmen zu wirken. Als jedoch das imperiale Zentrum Bremen einen neuen Botschafter entsendet, gerät Avice’ Welt plötzlich aus den Fugen …

– Ich kann die folgenden Ereignisse exakt datieren, da sie am Tag nach meinem Geburtstag geschahen. –

Zu Stadt der Fremden liegt eine Rezension der Originalausgabe bei Bibliotheka Phantastika vor, dazu bitte hier entlang.

Cover von Stadt der Heiligen & Verrückten von Jeff VanderMeerDie Stadt der Heiligen & Verrückten ist ein Kompendium der Stadt Ambra. Die Geschichte der Eroberung Ambras wird genauso geschildert wie der Aufstieg der Hoegbottons zur einflußreichsten Familie der Stadt oder die Schicksale einzelner ihrer mehr oder weniger berühmten Bewohner. Außerdem enthält das Buch eine Abhandlung über den Königskalmar, der eine besondere Rolle in Ambra spielt, samt einer ausführlichen Bibliographie zu diesem Thema.

– Dradin, verliebt, unterm Fenster seiner Liebsten, wie er zu ihr hochstarrt, indes die Menge rings um ihn brandet und braust, ihn anrempelt, ihm blaue Flecke verpaßt, allesamt unabsichtlich, die derbgekleideten, leuchtend rot geschminkten Tausende.-
Dradin verliebt

Allein die akribisch zusammengestellte Bibliographie mit ihren 264 (!) Titeln ist schon fünf Sternchen wert. (Die Redaktion von bp interessiert sich brennend für die nur schwer erhältlichen Bücher “Die Folterkalmare mischen ein paar Priester auf”, und “Die Folterkalmare schmoren im Knast”, beide geschrieben von Vivian Price Rogers und erschienen in der Kleine Bücher/Große Träume Verlagsgesellschaft. Rezensionsexemplare bitte an die bekannte Adresse. Danke!) Allerdings werden Leser, die keine besondere Affinität zu Königskalmaren haben, die anderen Kapitel des Buches für spannender halten, z.B. die Geschichte der Eroberung Ambras, dargestellt in “Hoegbottons Führer zur Frühgeschichte der Stadt Ambra”. Dort wird erzählt, wie der Walfänger und Pirat Katten John Manzikert die Siedlung am Mott-Fluß eroberte und was danach geschah. Manzikerts Vorgehensweise ist der der spanischen Eroberer Südamerikas nicht unähnlich, doch muß er einen furchtbaren Preis dafür zahlen, denn wie sich bald herausstellt, wissen die Ureinwohner, die Grauhüte, sich zu wehren und auch wenn sie die Übernahme ihrer Heimat letztlich nicht verhindern konnten, so ist ihr Widerstand auch in der ambraischen Gegenwart nicht gebrochen – ganz im Gegenteil.

Die Geschichte von der Verwandlung des Martin See ist ebenfalls hochspannend und gleichzeitig eine herrliche Satire auf den Kulturbetrieb. Der Maler Martin See erhält die Einladung eines Unbekannten zu einer Enthauptung, mit der Aufforderung kostümiert zu erscheinen. Bis der Künstler zur verabredeten Zeit im Hause seines mysteriösen Gastgebers erscheint, hat er dem Leser die Gelegenheit gegeben, sich über einen arroganten Kunstkäufer und eine blasierte, ignorante und geschäftstüchtige Galeristin lustig zu machen oder sich über den Kampf der Roten und Grünen zu amüsieren. Die Roten betrachten den Tod des kürzlich verstorbenen großen Komponisten Voss Bender als Segen, die Grünen jedoch als Katastrophe. Beide Parteien vertreten ihre Ansichten fanatisch und vehement. Doch als See über die Schwelle des Hauses tritt ist Schluß mit lustig – das “Kostümfest” endet grausam.

Auch Der Käfig enthält Grausamkeiten, die sensible Gemüter dazu verleiten mögen, zeitweise mit vor die Augen geschlagenen Händen weiterzulesen und vorsichtig zwischen den Fingern hervorzuspähen, nur um festzustellen, daß es in dieser Geschichte nicht nur gewalttätig, sondern auch unheimlich zugeht. Hoegbotton kauft das Inventar einer Anwaltsfamilie auf. Der Vater hat sich umgebracht, infolgedessen sind Mutter und Sohn gezwungen ihr Eigentum zu Geld zu machen. Unter anderem erwirbt Hoegbotton einen leeren Käfig und nimmt ihn mit nach Hause. Doch seine blinde Frau ist fest davon überzeugt, daß ihr Mann ihr ein Haustier mitgebracht hat, schließlich kann sie es in dem Käfig ganz deutlich hören…

Dradin verliebt ist eine weniger grausame und unheimliche Geschichte, doch Freunde von Hoffmanns Erzählungen werden ihre Freude daran haben. Sehr religiöse Menschen könnten sich allerdings von dem dort auftretenden lebenden Heiligen vom Orden der Ejakulation unangenehm berührt fühlen.

Falls sich der geneigte Leser jetzt fragt, ob Ambra denn wirklich existiert und ob die in diesem Buch gesammelten Geschichten alle wahr sind, dann möge er Der seltsame Fall von X lesen, danach wird er es auch nicht wissen, denn Jeff Vandermeer spielt virtuos mit Realität, Fiktion und Wahnsinn und zwar nicht nur in dieser Erzählung.

Der Weber von China MiévilleNachdem der Falter den Versuchslabors entkommen ist vergeudet er keine Zeit und erweckt andere seiner Art. Nur eine kleine Gruppe von Menschen ist fähig Widerstand zu leisten. Unter dem Schutz des Webers, einer zauberkundigen und unberechenbaren Riesenspinne, verschanzen sich die Menschen im zentralen Bahnhof der Stadt, der Perdido Street Station. Dort schmieden sie einen verzweifelten Plan …

Zu Die Weber liegt eine Rezension der Originalausgabe bei Bibliotheka Phantastika vor, dazu bitte hier entlang.

Anmerkung: Das englischsprachige Original wurde in der deutschen Übersetzung gesplittet. Die verlinkte Rezension bezieht sich daher auf die beiden deutschsprachigen Bücher Die Falter und Der Weber.

Welt aus Stein von Chris WoodingOrna, Elitekämpferin und Attentäterin des Magnaten Ledo, wird in einer tragisch gescheiterten Schlacht von den verfeindeten Eskaranern gefangengenommen und in das berüchtigte, ausbruchsichere Gefängnis Farakza gebracht. Ihre trostlose Situation wird nicht nur von ihren Mitgefangenen durchbrochen, zu denen sie langsam Beziehungen aufbaut, sondern vor allem dadurch, daß sie an Informationen über den fortwährenden Krieg gelangt, die nicht nur ihre Sichtweise umwerfen, sondern ihr offenbaren, in welcher Gefahr ihr ebenfalls als junger Soldat kämpfender Sohn schwebt. Sie entschließt sich zu einem riskanten Gefängnisausbruch …

-Unter meinem Fuß bricht sein Knie zur Seite weg, aber ehe er den Schmerz spürt, habe ich ihn beim Kopf gepackt und ihm das Genick gebrochen.-
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Es gibt Geschichten, die glänzen vor allem an der Oberfläche, wo sie Spannung und Schauwerte bieten, und solche, die eher subtil durch ihre Themen und Strukturen überzeugen. Am besten wird es immer dann, wenn beides zusammenkommt, und das passiert in Welt aus Stein (The Fade).
Wobei Schauwerte an der Oberfläche hier nicht ganz zutreffend sind, denn in Chris Woodings kompaktem Fantasy-Drama steigt man in die Tiefe eines gewaltigen Höhlensytems hinab, eine bunte und imaginative unterirdische Welt, die mit den üblichen Zwergentunneln und Drachenhöhlen der Fantasy nicht viel gemein hat und ökologisch und kulturell weit ausgearbeitet ist: Während die Sonnen der Welt Callespa ein Leben an der Oberfläche unmöglich machen, haben sich unter der Erde Flora und Fauna, eigene Jahreszeiten und vor allem verschiedene Zivilisationen entwickelt – zu modernen Nationen, die sozial und kulturell etwa im Zeitalter des Imperialismus angelangt sind: Drogenhöhlen und Tanzclubs für die Adligen stehen neben Schlachten, die mit Schwert und Dolch ausgetragen werden, Intrigen schmiedet man in seltsamen Höhlengärten oder Palästen, die in die Stämme gigantischer Pilze geschnitzt wurden. Zwei Nationen – eine mit einem rigiden Kastensystem und viel Platz für Laster und Korruption, die andere mit Sklavenhaltung und einem gelehrten, religiös-künstlerischen Ideal – halten sich für die jeweils überlegene Kultur und sind in einen ewigen Krieg verstrickt.

Mitten darin – im Krieg und der Kastengesellschaft – befindet sich die Heldin, eine drahtige kleine Elitekämpferin, die sich das Prädikat ‘tough’ ausnahmsweise wirklich verdient hat. Diese derbe Ich-Erzählerin steckt jede aktuelle Kick-ass-Lady in die Tasche, denn sie bringt zusätzlich zur kämpferischen Qualifikation auch noch die richtige Geisteshaltung für ihren Job mit. Als Killermaschine, Mutter und Liebhaberin läßt sie sich von ihrem miesen Temperament und ihren Vorurteilen in so manche verfahrene Situation treiben.
Während Orna in der Erzählgegenwart im Gefängnis sitzt und aufgrund ihrer Situation gewollt verzweifelt, wird gleichzeitig ihre Vergangenheit aufgerollt. Chris Wooding hat damit eine psychologisch fein ausgearbeitete Heldin geschaffen, deren Verletzungen und Brüche sich nach und nach offenbaren – auch in ihrer fatalen Wirkung auf die Gegenwartshandlung. Konflikte zwischen Mutter und Sohn, Mann und Frau, und in Zweckgemeinschaften, aus denen sich Freundschaft entwickelt, zeichnen Orna in ihrer ganzen, aufrichtigen Widersprüchlichkeit und Selbstbezogenheit, die sie ihre eigene Situation im perfiden Verpflichtungssystem ihrer Gesellschaft nicht zur Gänze erkennen läßt, so daß sie ihren Haß nach außen projiziert und zum Instrument des ewigen Krieges wird.

In Welt aus Stein steckt daher eine Menge Gesellschaftskritik, die auch in der Weltschöpfung immer wieder aufblitzt: die High Society der mondänen, etwas heruntergekommenen Höhlenwelt ergeht sich in Mode-Sperenzchen und ist von gewöhnlichen Lebensproblemen völlig unbeleckt, aber Orna begegnet auch Freiheitskämpfern mit erschreckend wenig Ahnung vom echten Leben, und am anderen Ende der Skala einem schäbigen Giftmischer, der Frau und Kind ernähren muß, und noch größeren Verlierern einer Gesellschaft, die fast nur Verlierer produziert. Wem nicht bereits das an New Weird gemahnende Edward-Miller-Cover aufgefallen ist, der fühlt sich wahrscheinlich spätestens jetzt an China Miéville erinnert, und in diesem Kontext kann man Welt aus Stein durchaus einordnen. Das trifft auch auf die Sprache zu, denn da eignet sich der Roman eher für die Furchtlosen: Es wird ganz angepaßt an die Hauptfigur und ihre Gesellschaft ‘gefickt’ und geflucht, bis die Balken krachen, und wer davor noch nicht zurückschreckt, sollte sich darauf einstellen, daß weite Teile der Handlung im eher ungewöhnlichen Präsens erzählt werden. Im besten Fall verleiht das dem Text eine gewisse (der Action oft angemessene) Atemlosigkeit, aber leider wirkt es auch schnell künstlich und überkandidelt, was dem Autor, der hier Form über Gefälligkeit stellt, des öfteren passiert.
Denn die Präsens-Erzählung und die gleichzeitig eigenwillige Kapitelanordnung (los geht es mit Kapitel 30, Erzählgegenwart im Präsens und abwechselnde Aufarbeitung der Vorgeschichte im Präteritum werden dann jeweils abwärts und aufwärts gezählt) ist nicht nur eine innovative Spielerei, sondern klärt durch die Aufdeckung der Vergangenheit der Heldin über ihr Handeln in der Gegenwart und die tieferen Zusammenhänge auf und wirft immer wieder neues Licht auf ihre Entscheidungen, wie bei einem Mosaik, dessen Bild immer klarer wird, bis man nur noch die Hände über dem Kopf zusammenschlagen möchte.

Bis man von diesen feineren Themen und der geschickten Konstruktion, die eine große Sogwirkung entfaltet, ganz eingefangen ist, serviert Chris Wooding mit seiner im Gefängnis schmachtenden Heldin aber auch astreine Action und Spannung – ein turbulenter Gefängnisausbruch sorgt für Herzklopfen, und dann ist man auch schon mittendrin in dieser Geschichte von Rache und Mißverständnis, in einem tradierten Krieg, bei dem sich immer mehr die Frage stellt, wer eigentlich davon profitiert, und in der von diesem Strudel gefangenen, zerrissenen Heldin, die ihren eigenen Feldzug führt und dabei so viel zertrampelt, daß man der Geschichte eine gewisse Düsternis nicht absprechen kann, hin und wieder durchbrochen vom sardonischen Humor Ornas.
Ihre faszinierende Anti-Heldenreise durch verschiedene Milieus und Kulturen, ihre in mehrfacher Hinsicht finstere Höhlenwelt, in der sich doch hin und wieder ein glitzerndes Geheimnis findet, und ihre innere Werdung und Wandlung sind definitiv einen Blick wert, vor allem für entdeckungs- und experimentierfreudige Leser.