Die Stadt der Heiligen & Verrückten ist ein Kompendium der Stadt Ambra. Die Geschichte der Eroberung Ambras wird genauso geschildert wie der Aufstieg der Hoegbottons zur einflußreichsten Familie der Stadt oder die Schicksale einzelner ihrer mehr oder weniger berühmten Bewohner. Außerdem enthält das Buch eine Abhandlung über den Königskalmar, der eine besondere Rolle in Ambra spielt, samt einer ausführlichen Bibliographie zu diesem Thema.
– Dradin, verliebt, unterm Fenster seiner Liebsten, wie er zu ihr hochstarrt, indes die Menge rings um ihn brandet und braust, ihn anrempelt, ihm blaue Flecke verpaßt, allesamt unabsichtlich, die derbgekleideten, leuchtend rot geschminkten Tausende.-
Dradin verliebt
Allein die akribisch zusammengestellte Bibliographie mit ihren 264 (!) Titeln ist schon fünf Sternchen wert. (Die Redaktion von bp interessiert sich brennend für die nur schwer erhältlichen Bücher “Die Folterkalmare mischen ein paar Priester auf”, und “Die Folterkalmare schmoren im Knast”, beide geschrieben von Vivian Price Rogers und erschienen in der Kleine Bücher/Große Träume Verlagsgesellschaft. Rezensionsexemplare bitte an die bekannte Adresse. Danke!) Allerdings werden Leser, die keine besondere Affinität zu Königskalmaren haben, die anderen Kapitel des Buches für spannender halten, z.B. die Geschichte der Eroberung Ambras, dargestellt in “Hoegbottons Führer zur Frühgeschichte der Stadt Ambra”. Dort wird erzählt, wie der Walfänger und Pirat Katten John Manzikert die Siedlung am Mott-Fluß eroberte und was danach geschah. Manzikerts Vorgehensweise ist der der spanischen Eroberer Südamerikas nicht unähnlich, doch muß er einen furchtbaren Preis dafür zahlen, denn wie sich bald herausstellt, wissen die Ureinwohner, die Grauhüte, sich zu wehren und auch wenn sie die Übernahme ihrer Heimat letztlich nicht verhindern konnten, so ist ihr Widerstand auch in der ambraischen Gegenwart nicht gebrochen – ganz im Gegenteil.
Die Geschichte von der Verwandlung des Martin See ist ebenfalls hochspannend und gleichzeitig eine herrliche Satire auf den Kulturbetrieb. Der Maler Martin See erhält die Einladung eines Unbekannten zu einer Enthauptung, mit der Aufforderung kostümiert zu erscheinen. Bis der Künstler zur verabredeten Zeit im Hause seines mysteriösen Gastgebers erscheint, hat er dem Leser die Gelegenheit gegeben, sich über einen arroganten Kunstkäufer und eine blasierte, ignorante und geschäftstüchtige Galeristin lustig zu machen oder sich über den Kampf der Roten und Grünen zu amüsieren. Die Roten betrachten den Tod des kürzlich verstorbenen großen Komponisten Voss Bender als Segen, die Grünen jedoch als Katastrophe. Beide Parteien vertreten ihre Ansichten fanatisch und vehement. Doch als See über die Schwelle des Hauses tritt ist Schluß mit lustig – das “Kostümfest” endet grausam.
Auch Der Käfig enthält Grausamkeiten, die sensible Gemüter dazu verleiten mögen, zeitweise mit vor die Augen geschlagenen Händen weiterzulesen und vorsichtig zwischen den Fingern hervorzuspähen, nur um festzustellen, daß es in dieser Geschichte nicht nur gewalttätig, sondern auch unheimlich zugeht. Hoegbotton kauft das Inventar einer Anwaltsfamilie auf. Der Vater hat sich umgebracht, infolgedessen sind Mutter und Sohn gezwungen ihr Eigentum zu Geld zu machen. Unter anderem erwirbt Hoegbotton einen leeren Käfig und nimmt ihn mit nach Hause. Doch seine blinde Frau ist fest davon überzeugt, daß ihr Mann ihr ein Haustier mitgebracht hat, schließlich kann sie es in dem Käfig ganz deutlich hören…
Dradin verliebt ist eine weniger grausame und unheimliche Geschichte, doch Freunde von Hoffmanns Erzählungen werden ihre Freude daran haben. Sehr religiöse Menschen könnten sich allerdings von dem dort auftretenden lebenden Heiligen vom Orden der Ejakulation unangenehm berührt fühlen.
Falls sich der geneigte Leser jetzt fragt, ob Ambra denn wirklich existiert und ob die in diesem Buch gesammelten Geschichten alle wahr sind, dann möge er Der seltsame Fall von X lesen, danach wird er es auch nicht wissen, denn Jeff Vandermeer spielt virtuos mit Realität, Fiktion und Wahnsinn und zwar nicht nur in dieser Erzählung.