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Trapped von Kevin HearneEigentlich sind Atticus’ Ansprüche recht niedrig, möchte er doch nichts weiter als Granuailes Training beenden und ihre Tattoos auftragen, die sie zu einem vollwertigen Druiden machen und ihr die Fähigkeiten verleihen, die sie zum Überleben braucht. Doch bevor Atticus sie an die Erde binden kann, platzt Donnergott Perun in die Szene, dicht gefolgt von Loki. Das russische Götterreich wurde völlig niedergebrannt von dem nordischen Gott der Lügen, der sich zu früh aus seinem Gefängnis befreit hat. Steht Ragnarök nun ein ganzes Jahr früher bevor als gedacht? Und wird es Atticus gelingen, seine Schülerin an die Erde zu binden, bevor er, sie oder beide getötet werden?

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Neue Inhalte

Bibliotheka Phantastika erinnert an Richard Burns, der heute 55 Jahre alt geworden wäre. Über den am 01. September 1958 in Sheffield, England, geborenen Richard Burns lässt sich heutzutage selbst im ansonsten schier allwissenden Internet kaum noch etwas finden, da die Spuren, die er hinterlassen haben mag, größtenteils von anderen Personen mit dem gleichen Namen überdeckt werden. Sicher ist immerhin, dass er mit seinem ersten Roman A Dance for the Moon (1986) – in dem es um die traumatischen Auswirkungen geht, die die Erfahrungen des Ersten Weltkriegs bei seinem Protagonisten hinterlassen haben – den Jonathan Cape First Novel Contest gewonnen hat und 1987 im Sunday Express neben u.a. Jeanette Winterson und Kazuo Ishiguro auf einer Liste mit vielsprechenden jungen Autoren und Autorinnen (aka potentiellen zukünftigen Booker-Prize-Gewinnern) auftauchte.
Khalindaine von Richard BurnsIm gleichen Jahr wie sein literarischer Erstling erschien mit Khalindaine auch der erste Band einer zweiteiligen Fantasysequenz bei Allen & Unwin, einer damals sehr angesehenen Adresse für Fantasy. Khalindaine beginnt mit einer beeindruckenden Szene (die ganz gewiss ein heißer Kandidat für eine der nächsten Ausgaben von Unsere liebsten Anfänge ist), in der die alternde Kaiserin Elsban sich dem Rite of Endyear unterzieht und dabei erkennt, dass es an der Zeit ist, sich um die Thronfolge zu kümmern. Am liebsten würde sie ihren Bastardsohn nach ihr auf dem Thron sitzen sehen, doch sie hat den Jungen als Kleinkind aus Gründen der Staatsräson weggegeben und weiß nur, dass er sich vermutlich irgendwo im gebirgigen Norden Khalindaines befindet. Ihr Wunsch passt allerdings so gar nicht in die Pläne zweier mächtiger Adliger, die ihrerseits Anspruch auf den Thron erheben können, da auch in ihren Adern das Blut Akhbars des Goldenen, des Staatsgründers fließt – und dieses Blut ist erforderlich, um das Rite of Endyear durchführen zu können. Während sich alsbald zwei Gruppierungen mit sehr unterschiedlichen Zielsetzungen auf die Suche nach Elsbans Sohn machen, wird der kaiserliche Palast von Verdre zu einem Hort der Intrigen. Und schließlich gesellt sich auch noch eine äußere Bedrohung zur inneren, als die Agaskan die Grenzen des Reichs angreifen.
In Troubadour (1988), dem Nachfolgeband, sitzt dann tatsächlich ein neuer Kaiser auf dem Thron. Doch da er sich – aus nachvollziehbaren Gründen – weigert, sich dem Rite of Endyear zu unterziehen und damit die Legitimität seiner Herrschaft zu bestätigen, gerät er mehr und mehr unter den Einfluss einer fanatischen Bruderschaft, die der Bevölkerung mittels rigider Methoden bis hin zu Autodafés ihre genussfeindliche Doktrin aufzuzwingen versucht – was schließlich zu einem Bürgerkrieg zu führen droht, da sich die einfachen (und auch die nicht ganz so einfachen) Menschen nach und nach aller Vergnügungen beraubt sehen.
Khalindaine und Troubadour sind gelungene Beispiele dafür, was passieren kann, wenn ein Autor mit einem gewissen literarischen Anspruch sich des Genres annimmt. Eher auktorial als personal erzählt (wenn auch mit gelegentlichen Abstechern auf eine personale Erzählebene), entwirft Richard Burns in diesen beiden Romanen eine Welt, die generell eher mit sparsamen Pinselstrichen in Szene gesetzt wird, sich aber gelegentlich als opulentes Gemälde darstellt. Und die vor allem durch ihre allen Gesellschaftsschichten entstammenden Figuren lebt. Wer an Fantasy in erster Linie das Worldbuilding schätzt, dem mag das Setting ein bisschen zu fragmentarisch erscheinen, da es zwar etliche Andeutungen einer langen, reichen Historie gibt, diese aber meist nicht weiter ausgeführt werden. Andererseits erinnern die Szenen am kaiserlichen Hof von Verdre bzw. vor allem die in der Hauptstadt Cythroné mit ihrem krassen Gegensatz zwischen arm und reich und ihren von republikanischen Gedanken erfüllten Studenten an Versailles bzw. Paris am Vorabend der Französischen Revolution – und das war und ist eine angenehme Abwechslung zum weitaus häufigeren Standard-Mittelaltersetting, dessen sich die Fantasy so gerne bedient. Auch was die Magie betrifft, beschreitet Richard Burns eigene Wege, indem er dieses fantasytypische Element zwar recht sparsam einsetzt, aber stimmig und vor allem absolut handlungsrelevant ins Gesamtbild integriert.
Richard Burns war ein überaus vielseitiger Autor: zwischen Khalindaine und Troubadour hatte er bereits The Panda Hunt (1987) – ein in den 20er Jahren des vorigen Jahrhunderts spielender Roman über eine Expedition nach China auf der Suche nach “merkwürdigen schwarz-weißen Bären” – veröffentlicht, und nach seinen beiden Fantasyromanen folgten noch Why Diamond Had to Die (1989; ein Thriller), Fond and Foolish Lovers (1990) und Sandro and Simonetta (1992; ein Boticelli-Roman). Möglicherweise ist ihm genau diese Vielseitigkeit zum Verhängnis geworden, denn kommerziell erfolgreich waren seine Romane allesamt nicht. Kommerzielle Erfolglosigkeit, gepaart mit einer eigenen Einschätzung seiner schriftstellerischen Fähigkeiten, die man vielleicht arrogant nennen könnte (die aber aus meiner Sicht – zumindest in Bezug auf seine ersten drei Romane – gerechtfertigt ist), sowie dem Gefühl, als nicht in London oder Oxford lebender Autor vom literarischen Establishment nicht wahr- bzw. ernst genommen zu werden, und – ganz entscheidend – dem anscheinend vorhandenen Drang, unbedingt schreiben zu müssen, ergeben eine gefährliche Mischung. Eine Mischung, die vermutlich jahrelang gebrodelt und sich schließlich in einem Akt der Verzweiflung entladen hat, denn am 31. August 1992, am Vorabend seines 34. Geburtstags, hat Richard Burns sich das Leben genommen.
Ob Richard Burns ansonsten noch einmal zur Fantasy zurückgekehrt wäre, lässt sich nicht sagen. Vermutlich schon, wenn er im Genre Erfolg gehabt hätte. Dass seine Vielseitigkeit ihm kommerziell nicht gut getan hat, kann man sich hingegen schon gut vorstellen. Faszinierend an der ganzen traurigen Geschichte ist allerdings auch, dass seine beiden Fantasyromane im einzigen online zu findenden Nachruf noch nicht einmal erwähnt werden. Und derart vollkommen in Vergessenheit zu geraten, haben Khalindaine und Troubadour ganz gewiss nicht verdient.

Reaktionen

Bei manchen Büchern besteht die Gefahr, dass sie die Augen für Dinge öffnen, die lieber ungesehen, ungelesen bleiben wollen. Unser Buch des Monats Der Report der Magd von Margaret Atwood ist kein Buch, das sich beim Leser einschmeichelt. Es erschüttert zutiefst, ist verstörend menschlich und beschreibt schonungslos die Entmenschlichung eines ganzen Geschlechts. Es ist eine Dystopie mit Macht. Es ist eine Warnung. Aber vor allem ist es: ein unbedingt lesenwertes Buch.

Der Report der Magd von Margaret AtwoodDer Report der Magd erzählt das Schicksal einer jungen Frau, die in die Mühlen der religiös-fundementalistischen Militärdiktatur des Staates Gilead geraten ist. Sie trägt keinen Namen mehr, sondern eine Bezeichnung: Desfred – sie ist die Zweitfrau des Kommandanten Fred, oder Frederick? Wir erfahren auch seinen vollen Namen nie, Vornamen sind in der Welt von Gilead eine unaussprechliche Intimität. Desfred ist Besitz und Körper. Ihre Aufgabe ist es, dem Kommandanten ein Kind zu gebären, denn in diesem Amerika der Zukunft verzeichnet die „europide Rasse“ einen drastischen Geburtenrückgang durch Unfruchtbarkeit, Sterilität und der Kindestötungen von „Unbabys“, entstellt zur Welt kommenden Kindern. Desfred ist eine Magd: eine der wenigen noch fruchtbaren Frauen.

Die Instrumentalisierung des Geschlechts ist in Gilead absolut: Frauen sind unterteilt in unfruchtbare, aufrührerische „Unfrauen“, die in Arbeitskolonien auf den Tod warten, in „Marthas“, die als Hausdiener den Kommandanten dienen und in die „Mägde“, die der Reproduktion dienen. Angeleitet und -gelernt werden sie von „Tanten“: Frauen, die sich im Machtgefüge der Diktatur ein Stück Freiheit erkaufen, indem sie selbst zu Unterdrückern werden. Über allen stehen jedoch die Ehefrauen, die an der Seite ihrer einflussreichen Männer leben und dennoch gänzlich elend wirken, wenn sie am Geschlechtsakt zwischen Magd und Mann nur als Zuschauerin teilhaben.

Desfred besaß einst eine Familie: einen Ehemann namens Luke und eine namenlose Tochter. Sie selbst ist Tochter einer radikalen Feministin, die im Kampf für das Recht auf Abtreibung und sexuelle Selbstbestimmtheit Gilead nicht kommen sah. Als die Familie fliehen will, ist es zu spät – und der Leser durchlebt Desfreds Indoktrinierung, ihre Entfremdung von ihrem Körper, erlebt ihr Funktionieren, ihr Aufbegehren und ihr Scheitern. Doch auch wenn Desfred keine Kämpferin ist, eines erlebt der Leser nie: ihre Kapitulation. Es bleibt ihr die Flucht in Gedanken. Inmitten dieses Szenarios ist es das Erstaunlichste, dass uns Desfred vor allem eines lehren kann: Menschlichkeit.

Atwood zeichnet ihre Figuren trotz aller Radikalität wie graue Schatten: weder gut noch böse, undurchsichtig, facettenreich. Männer wie Frauen werden zu Marionetten, die ihre eigenen Fäden aus Angst vor der diktatorischen Gewalt nicht kappen. Das Machtgefüge Gileads scheint unumstößlich, und verführerisch erscheinen die Reden der „Tanten“: in der abgeschlossenen Welt von Gilead müssen sich Frauen nicht mehr fürchten, im Dunkeln auf die Straße zu gehen. Vergewaltiger werden gnadenlos verfolgt, Gewalt gegen (schwangere) Frauen mit dem Henkerstod bestraft. Es ist die diktatorische „Freiheit von“ – eine „Freiheit zu“ gibt es nur noch im Verborgenen, wo selbst die Kommandanten auf der Suche nach Jezebel sind. Die Instrumentalisierung ist absolut: denn wenn unfreiwilliger Sex der verordneten Arterhaltung dient, wird auch Liebe und sexuelle Erfüllung zum Regelbruch. Das Erschütternde des Buches ist nicht die Kühnheit des dystopischen Entwurfs, es ist seine Denkbarkeit.

Buch des Monats

Matthew Woodring Stover schreibt nicht nur famose Star-Wars-Romane, sondern entfaltet seine genre-sprengenden und wegweisenden Ideen in den Acts of Caine, die die Geschichte Hari Michaelsons erzählen, der sich als Caine zur Unterhaltung des irdischen Publikums durch die Parallelwelt Overworld metzelt, auf dem Höhepunkt seiner Karriere aber andere Prioritäten setzt.
Die Acts of Caine sind in diesem Jahr als Ebooks neu erschienen, allerdings sind sie bisher nicht in deutscher Übersetzung erhältlich. Matthew Stover hat uns ein paar Fragen beantwortet und zum Einstieg seine Fans für uns gefragt, weshalb die deutschen Verlage den Arsch hochkriegen und sich Caine holen sollten. Folgende Ideen kamen dabei heraus:

1. Aus dem gleichen Grund, weshalb es auch alle anderen machen sollten: Wer sich Caine nicht holt, den holt sich Caine.
2. Ich habe das dumpfe Gefühl, dass Nietzsche dabei eine Rolle spielen sollte – und hat nicht Caine in der Handlung von „Retreat“ ein Monokel von Zeiss benutzt? Beides deutsche Produkte. Damit packt man sie bei ihrer Eitelkeit.
3. Außerdem, weil Caines Spitzname auf Deutsch „Blutworst“ lauten würde.

Noch mehr Gründe findet ihr auf Facebook

Bibliotheka Phantastika: Du hast eine schauspielerische Ausbildung; Hari Michaelson, der Protagonist der Acts of Caine ist Schauspieler; und in deinen Romanen, vor allem in Heroes Die, geht es um das Verhältnis zwischen Schauspieler und Publikum, oder im weitesten Sinn zwischen der Geschichte und ihrer Wahrnehmung. Hast du für deine Romane Techniken des filmischen Erzählens übernommen? Was verdankst du Film und Theater?

Matthew Woodring Stover: Bei der Ausbildung von Schauspielern kommen eine Reihe von verschiedenen Techniken zum Einsatz; die brauchbarste für mich stammt aus dem Filmschauspiel, auch wenn ich fürs Theater ausgebildet wurde. Anstatt eine Figur als Konstrukt zu sehen, in das ich meine Darstellung einpasse, prüfe ich als erstes jeden Berührungspunkt, den es zwischen dem Leben der Figur und meinem gibt. Die Figur und ich sind nie voneinander getrennt, ganz im Gegenteil. Ich habe eigentlich immer die Person gespielt, die ich gewesen wäre, hätte ich über den Hintergrund, die Ziele, Fähigkeiten und Beschränkungen der Figur verfügt. Sobald man die Welt so sieht wie die Figur, ist man in der Rolle; dann kann man sich auf Stil und Timing konzentrieren.
Ein Schlüsselerlebnis während meiner Ausbildung war die Darstellung von John Tarleton in Shaws Falsch verbunden. Es ist vermutlich das Stück von Shaw, das einer frivolen Farce am nächsten kommt – im Prinzip ist es eine lange Abfolge von (sehr lustigen) Debatten, die ausgesprochen kluge und sprachgewandte Leute über Geschlechterrollen, Klasse und den potentiellen Nutzen von Scheinheiligkeit und moralischer Verblendung für den Erhalt glücklicher Familienbande führen. Der Regisseur dieser Produktion, der großartige William S. E. Coleman, gab dem ganzen Ensemble ein Geheimnis mit auf den Weg, das seiner Ansicht nach ausschlaggebend für eine erfolgreiche Shaw-Aufführung war: “Jeder von euch muss im Kopf behalten, dass er der einzige ist, der recht hat. Alle anderen liegen falsch. Du bist der Star dieser Aufführung. Du bist der moralische Mittelpunkt des Stückes, und sein intellektueller Held. Und du hast nur Erfolg, wenn du alle anderen dazu bringst, zuzugeben, dass du die ganze Zeit recht hattest.”
Damit hat er eine grundlegende Wahrheit des guten Erzählens deutlich gemacht: Jede Figur ist der Held/die Heldin seiner oder ihrer Geschichte – das müssen sie sogar. Jede Figur, die ich schreibe (auch die Nebenfiguren), sind die Personen, die ich sein könnte, wenn ich über ihre Hintergründe, Ziele, Fähigkeiten und Beschränkungen verfügen würde – und ich schreibe diese Figur, als wäre er oder sie der Held.
Dadurch wird es allerdings etwas beunruhigend, Leute wie Berne oder Kollberg zu schreiben.
Am meisten habe ich der Erzählweise des Schauspiels wohl eine starke Präferenz dafür zu verdanken, meine Geschichten als Abfolge scharf umrissener Szenen zu erzählen anstatt in einem kontinuierlichen Fluss. Mir fällt es beim Schreiben am schwersten, Veränderung über Zeit aufzubauen; ich springe lieber zur nächsten guten Szene weiter und überlasse die Entwicklungen dazwischen den Vorstellungen der Leser und Leserinnen. Und ich finde durchaus, dass ich filmisch erzähle. Ein befreundeter Drehbuchautor hat mir einmal gesagt, dass er im Handumdrehen ein Drehbuch aus Heroes Die machen könnte, gleich aus dem Text des Romans; er meinte, dass sogar die Kamerawinkel schon in jeder Szene aufgeführt wären. Ich habe das als Kompliment genommen. Meine Bücher sind im Grunde eine Niederschrift der Filme, die sich in meinem Kopf abspielen.

BP: Der Monolog, eine Art Voice-over, das wir zu lesen bekommen, wenn Caine auf Sendung geht, ist nicht dasselbe, als wären wir in seinem Kopf und würden jeden seiner Gedanken mitbekommen. Ist das von Vorteil? Ist die Auslassung ein Werkzeug, das man einbüßt, wenn man zur Charakterisierung vollkommen in die Figuren eintaucht?

MWS: Mein Interesse an den erzählerischen Einsatzmöglichkeiten der ästhetischen Distanz wurde geweckt, als ich zum ersten Mal Fitzgeralds Der große Gatsby las (in einem für einen Amerikaner sehr fortgeschrittenen Alter, weil ich es irgendwie geschafft habe, die Lektüre in der Schule zu überspringen). Die Faszination, die Gatsby auf Nick ausübt – und damit indirekt auch auf den Leser – schien mir unmittelbar aus Gatsbys Undurchsichtigkeit zu erwachsen. Gatsby ist eine Performance – eine von Jay Gatz geschaffene Figur, der damit nicht nur den Menschen darstellt, als der er von allen gesehen werden will, sondern den Menschen, der er sich wahrhaft zu sein wünscht. Aus diesem Grund ist Gatsby hypnotisierend: er wurde bewusst als wunderschöne Maske entworfen. Ein Kunstwerk im Kunstwerk.
Ich wollte, dass den Lesern klar wird, dass auch Caine eine Performance ist. Dass er eine Figur ist, die Hari Michaelson geschaffen hat, um derjenige sein zu können, der er sein muss: mächtig, gefürchtet und frei. Ich hatte gehofft – und ich hoffe nach wie vor – dass die Leser dadurch angeregt werden, sich zu überlegen, was er jenseits der Vorstellung, die er vor dem Publikum des Studios gibt, wirklich denkt. Und dass sie ein Auge darauf haben, wie genau und weshalb er diese Performance einsetzt, um sein Publikum (und meins) zu beeinflussen. Sprich, dass sie sich ganz kreativ ihr eigenes Bild von dem Mann hinter der Maske erschaffen. Und ich habe gehofft, dass nach und nach klar werden könnte, dass auch Hari Michaelson eine Perfomance ist – mit dem Unterschied, dass das Publikum, vor dem Hari spielt, er selbst ist.
Wenn ich richtig verstehe, was ihr mit “vollkommenem Eintauchen in die Figur” meint – also, dass man dem Leser ungefilterten Zugang zum wahren Charakter gewährt – dann glaube ich, dass es eine Mogelpackung ist. Man kann niemals ganz in eine Figur eintauchen, außer an ihr ist schon von vornherein nicht viel dran. Ich denke, auch unser Charakter ist zum Großteil ein Konstrukt der Vorstellungskraft – dass vieles von dem, was wir zu sein glauben, eigentlich eine Performance ist, die wir für uns selbst vorführen. Rezensenten merken hin und wieder an, dass ich meine Figuren immensem psychologischen Druck aussetze; ich sehe das eigentlich gar nicht so. Ich versuche nur, ihre Masken aufzubrechen.

Acts of Caine
BP: In deinen Romanen geht es oft um die Erkenntnis der Wahrheit, und der Wahrheit näherst du dich häufig in Metaphern (oder auch andersherum, wie es Duncan Michaelson, Haris Vater, ausdrücken würde: “Ist eine Metapher stark genug, schafft sie ihre eigene Wahrheit.”) Hast Du das Gefühl, dass Sprache bzw. Erzählen stark genug ist, um die Wahrheit in einer Zeit zu zeigen, in der vielleicht Bilder und Film die dominierende Kunstform sind? Gibt es etwas, das man erzählen, aber nicht zeigen kann?

MWS: Um es frei nach Nietzsche zu sagen – der im Rahmen seiner bekannteren Beobachtungen zum Wesen des Menschen etliche interessante Dinge über die Kunst des Erzählens zum Besten gegeben hat –, wird die Wahrheit durch die Masken enthüllt, die sie trägt. Dafür ist Kunst da. Es ist eines, jemandem zu sagen, dass es zerstörerisch ist, gegen das Schicksal anzukämpfen, und etwas anderes, wenn man ihm König Ödipus vorführt.
Um nicht zu tief in die Erkenntnistheorie einzutauchen, will ich es einfach dabei belassen, dass die Wahrheit, die mich interessiert, nicht aus Fakten entsteht. Sie ist nicht verifizierbar, messbar oder (genau genommen) auch nur berechenbar. Die Wahrheit, nach der meine Figuren streben, ist Sinnhaftigkeit, und daher ist sie dem Wesen nach subjektiv – man könnte sogar sagen, ein Fantasiegebilde. Es sollte aber klar sein, dass ich mit Fantasiegebilde nicht meine, dass sie nicht vorhanden ist, oder auf irgendeine Weise unwirklich. Fantasie ist nicht nur wirklich, sie ist die Wurzel aller menschlichen Errungenschaften. Sie ist die einzige Superkraft der Menschheit.
Um also auf die Frage zu antworten, ob man mit Worten Wahrheiten ausdrücken kann, die nicht zu zeigen sind, dann würde ich nein sagen. Natürlich nicht. Worte sind nur Zeichen auf Papier. Vibrationen in der Luft. Allerdings haben Worte eine einzigartige Fähigkeit, die Fantasie derjenigen anzuregen, die sie lesen oder hören … und an dieser Stelle spielt sich dann die ganze Magie ab.

BP: Alle, die von stereotypen Frauenfiguren in der Genreliteratur die Nase voll haben, werden positiv überrascht sein, wenn sie einen deiner Romane zur Hand nehmen: Ob man sich nun Barra ansieht, die piktische Söldnerin und ehemalige Prinzessin aus Eiserne Dämmerung und Mond über Jericho, oder die schonungslos effektive Avery Shanks, kämpferisch als Großmutter und Unternehmer, und natürlich die Pferdehexe, die schlicht und ergreifend die coolste Heldin ist, der ich bisher in einem Buch begegnen durfte – sie alle scheinen sich Klischees zu entziehen, und sogar deine Prinzessin Leia ist dafür bekannt, ordentlich auf den Putz zu hauen. Was hat dich dazu bewogen, einen anderen Pfad als deine Kollegen einzuschlagen?

MWS: Irgendwie habe ich es geschafft, einen Bogen um die männliche “Mädchen sind eklig”-Entwicklungsstufe zu machen. Was mich im Lauf der Jahre zu dem unausweichlichen Schluss geführt hat, dass Frauen Menschen sind. Und dass Menschen zuallererst Menschen sind, und Männer, Frauen, jedwede Zusammenstellung aus beidem (oder sonst etwas; ich bin da offen) erst an zweiter Stelle. Vielleicht auch an fünfter Stelle. Ich weiß, das klingt radikal, aber da habt ihr es. Es ist mir jedoch ganz klar, dass es nicht zweckmäßig ist, eine Frau als Mann mit Titten zu schreiben, genauso wenig wie ein Mann lediglich eine Frau mit einem Schwanz ist.
Schaut mal: Es gibt etliches, was Frauen freiwillig machen und ich als Mann gar nicht. Zum Beispiel Make-up tragen. (Und das liegt nicht daran, dass ich nicht weiß, wie das geht; ich war Schauspieler. Ich weiß ziemlich genau, wie ich mich hübsch machen kann.) Es ist nur so, dass ich nach und nach erkannt habe – auch wenn mir dabei von Natur aus im Wege steht, dass ich als männlicher, heterosexueller Amerikaner geboren wurde -, dass eine Frau, die sich schminkt, das nicht macht, weil sie eine Frau ist. Sie schminkt sich vielleicht, weil sie sich einer gesellschaftliche Norm anpasst. Um ihre Attraktivität zu erhöhen, oder um anzudeuten, für welche Arten zwischenmenschlicher Interaktion sie offen ist und von welchen sie lieber verschont bleiben möchte. Um jünger auszusehen, oder älter, oder einfach anders. Um persönliche Macht auszudrücken, oder um ihre Bereitschaft zur Unterwerfung anzuzeigen, oder beides. Um aufzufallen oder sich einzufügen. Vielleicht ist es aber auch nur eine Gewohnheit, über die sie gar nicht richtig nachdenkt. Oder ein anderer aus einer Vielzahl von Gründen, oder überhaupt kein Grund.
Etliche Männer schminken sich übrigens aus einem oder allen der oben genannten Gründe – das Problem, das einige (meist männliche) Autoren offenbar haben, ist jedoch, dass sich der Autor für den Grund interessiert, wenn eine seiner männlichen Figuren Make-up auflegt, aber wenn eine weibliche Figur das tut, interessiert sich der Autor eigentlich gar nicht dafür, denn Mädchen schminken sich nun mal. Jedes Mädchen will doch hübsch aussehen, stimmt’s? Stimmt’s?
Nun ist es eigentlich so, dass sich viele der Frauen in meinen Büchern nicht groß schminken (auch wenn eine gewisse alderaanische Prinzessin eine ziemlich raffinierte Barra/Schicksal-ZyklusFrisur hat). Es ist auch so, dass sie, wie sich einige Leute beschwert haben, keine sonderlich typischen Frauen sind. Die Frauen in meinen Büchern neigen dazu, klug, wagemutig, findig, mitunter grausam und von Verletzungen gezeichnet zu sein, die sie außerordentlich gefährlich machen. Was diejenigen, die sich beschweren, häufig nicht sehen, ist die Tatsache, dass die Männer in meinen Büchern auch dazu neigen, klug, wagemutig, findig, mitunter grausam und von Verletzungen gezeichnet zu sein, die sie außerordentlich gefährlich machen. Das liegt daran, dass normale Leute meistens ein bisschen dumm sind, vorsichtig, wenn nicht gar ängstlich, wenig einfallsreich, nett und so unversehrt, dass sie im Allgemeinen ungefährlich sind, und daher ist es nicht sonderlich interessant, über sie zu schreiben.
Zum Teil mag es auch daran liegen, dass sich Barra ursprünglich meine Ex-Frau (und sehr gute Freundin) Robyn Drake ausgedacht hat, und einige andere Frauen in meinen Büchern wurden von ihr inspiriert, und Robyn ist selbst klug, wagemutig, findig, mitunter grausam und von Verletzungen gezeichnet, die sie außerordentlich gefährlich machen.
Vielleicht schreibe ich nur über das, was ich kenne.

BP: Hari/Caine ist selbst zu dem Zeitpunkt, als man ihm in Heroes Die zum ersten Mal begegnet, kein junger Mann, der sich seinen Platz in der Welt erst schaffen muss. Wir treffen sein jüngeres Selbst in Caine Black Knife, aber du hast einmal gesagt, der jüngere Caine, den man im Rückblick sieht, würde dich nur im Unterschied zu seiner älteren Version interessieren. Welche Möglichkeiten siehst du, wenn du die Geschichte eines gereifteren Helden erzählst? Können solche Geschichten auch Leser und Leserinnen ansprechen, die eher typische Coming-of-Age-Geschichten gewohnt sind?

MWS: Unschuld interessiert mich nicht. Wenn ihr mir die unanständige Metapher nachseht: So etwas wie tollen Sex mit einer Jungfrau gibt es nicht.
Mir gefallen Profis. Mir gefallen Experten. Mir gefallen intelligente, kreative Leute. Ich sehe gerne intelligenten Profis dabei zu, wie sie ihre Expertise auf kreative Art und Weise ausüben. Stümperei in allen Formen langweilt mich schnell – um nicht zu sagen sofort.
Schaut, es gibt jede Menge tolle (habe ich zumindest gehört) Coming-of-Age-Fantasy-Abenteuer. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich zu diesem Thema etwas Brauchbares beizutragen hätte. Ob nun meine Bücher Fans der Tapferen Prinzessen, die das Königreich rettet, ansprechen können – nun, alle Anzeichen deuten darauf hin, dass das nicht der Fall ist.

BP: Fantasy und SF Marke grim&gritty und zynische Helden sind groß in Mode gekommen, seit du vor fünfzehn Jahren Heroes Die veröffentlicht hast. Aber in deinen Romanen geht es auch um das Erhabene und Trost. Wo hat für dich der Zynismus seine Grenzen oder gar ein Ende?

MWS: Zynismus? Caine ist ein Idealist (wenn auch mit einer nicht gerade sentimentalen Vorstellung vom Wesen des Menschen). Er weiß, dass wir besser sein können, als wir sind. Es macht ihm nicht einmal etwas aus, dass wir uns dagegen entscheiden, solange wir nicht jemanden behelligen, der ihm wichtig ist. Leider landen Leute, die sehr gute schlechte Menschen abgeben, häufig in mächtigen und einflussreichen Positionen, wo sie die Welt (wenn sie es wollten) etwas weniger beschissen gestalten könnten, aber sich stattdessen entscheiden, noch mehr Scheiße beizusteuern, und wenn ihr ganzer Scheißhaufen dann in Caines Leben hinüberschwappt, nun, dann …
Ich selbst bin nur im klassischen Sinne ein Zyniker oder vielmehr Kyniker – ich halte es also wie Diogenes: Die mich beschenken, umwedle ich, die mir nichts geben, belle ich an, und die Schufte beiße ich.
Ich habe einmal eine Kurzgeschichte ganz konkret über die Grenzen des modernen Zynismus (oder, wie man eigentlich sagen müsste, Nihilismus) geschrieben. Sie heißt “In the Sorrows” und darin geht es – alles andere als zufällig – um den jungen Hari Michaelson, der eines Tages zu Caine heranwachsen wird. Ihr findet sie hier.
Sie fasst alles zusammen, was ich zu diesem Thema zu sagen habe.

BP: Gewalt ist ein Kernthema in deinen Romanen. Ist extreme Gewalt ein notwendiges Werkzeug, um gute Geschichten zu erzählen? Was, wenn man sie als reine Unterhaltung betrachtet, wie in den “Rollenspiel”-Abenteuern, die die Massen in der gar nicht mal so weit entfernten Zukunft der Acts of Caine konsumieren?

MWS: Eine sorgfältige Untersuchung von Gewalt als Form der Unterhaltung ist das Hauptthema von Heroes Die. Danach würde ich sagen, dass es weniger ein Thema als eine Grundgegebenheit des Universums ist, vor allem, wenn eine der Hauptfiguren auf so spektakuläre Weise zur Gewalt neigt, wie es bei Caine der Fall ist.
Ich glaube nicht, dass Gewalt allgemein ein grundlegendes Werkzeug des Geschichtenerzählens ist … aber für mich trifft das offenbar schon zu. Ich habe einmal einen Schreibkurs bei Gary Gildner belegt, einem renommierten Dichter; seine Bemerkung zum meinem Abschlussprojekt war wortwörtlich: “Sie könnten eines Tages ein guter Schriftsteller sein, wenn Sie nur Ihre Besessenheit mit Gewalt, Wahnsinn und Tod hinter sich lassen.” Ich erinnere mich lebhaft daran, dass ich dachte: “Gewalt, Wahnsinn und Tod hinter mir lassen? Was gibt es denn sonst noch?”
Auch der Faktor der künstlerischen Verantwortung spielt hier mit hinein. Ich fühle mich verpflichtet, Gewalt so ehrlich darzustellen, wie es mir möglich ist: Dass sie immer traumatisch, häufig entsetzlich, manchmal lebenserschütternd ist, aber trotzdem auch unendlich faszinierend, bisweilen läuternd, und von Zeit zu Zeit macht sie richtig Spaß.

BP: Mit Figuren wie Berne und Kollberg trägt das reine Böse sehr menschliche Züge, dahinter steht aber auch ein göttlicher Antrieb. Glaubst du, dass das Böse als Eigenschaft des Menschen (oder manchmal sogar als Gabe, denn die Welt scheint ihren soziopathischen Helden zu brauchen) eine Institution benötigt, um sich zu entfalten? Oder ist die Neigung zum Weg des geringsten Widerstands letztlich verheerender und anfälliger für Institutionalisierung?

MWS: Das Wort böse ist mir in diesem Zusammenhang nicht ganz geheuer. Eigentlich in fast keinem Zusammenhang. Es ist zu abstrakt, als dass man es für etwas anderes als einen Begriff der allgemeinen Missbilligung nutzen könnte. Nicht alles Böse ist gleich beschaffen.
Um genauer zu sein:
Berne hat das, was Kriminalpsychologen als malignen Narzissmus klassifizieren würden; in seiner Vorstellung existieren andere Menschen ganz zu seinem Vergnügen, das reicht von der Befriedigung seiner niederen Gelüste bis dahin, einfach angemessen ehrfürchtig vor der ihm eigenen Herrlichkeit zu erstarren. Der institutionelle Anteil an Bernes Bösem ist eine Frage der Zweckmäßigkeit – er könnte auf sich gestellt genauso fröhlich Leute vergewaltigen, foltern und ermorden. Durch seine Beziehung zu Ma’elKoth wird es ihm lediglich möglich, das Ganze zu tun, ohne sich um negative Folgen Gedanken machen zu müssen. Bernes Konzept von richtig und falsch ist in der Praxis Spaß und Ma’elKoth könnte sich aufregen.
Kollberg ist dagegen ein reiner Angestellten-Typ; er misst seinen persönlichen Wert daran, wie gut er seiner Institution und seiner Gesellschaft dient. Er wird gerne für seine Fähigkeiten belohnt, aber ihm reicht auch ein freundliches Kopftätscheln und ein ernst gemeintes: “Gut gemacht!” Er strebt wirklich danach, ein guter Administrator zu sein – um das Ansehen seiner ganzen Kaste zu erhöhen, indem er den Gewinn und die gesellschaftliche Einflussnahme des Studios maximiert.
Ich will die Unterscheidung jedoch nicht überbewerten – immerhin besteht zwischen Berne und Kollberg eine eindeutige metaphorische Verbindung, denn Kollberg wird in einer sehr ähnlichen Funktion zum Diener des Blinden Gottes, wie Berne Ma’elKoth dient – aber der Kontrast zwischen beiden sagt genauso viel aus wie die Übereinstimmungen. Ma’elKoth strebt zum Beispiel danach, Bernes schlimmste Regungen zu bändigen, während der Blinde Gott sie bei Kollberg freisetzt.
Ich leide schon an einer instinktiven Abneigung und Argwohn gegen Institutionalisierung – aber nur, weil sie offenbar dazu führt, dass Einzelpersonen sich für den Charakter und das Vorgehen der Institution weniger verantwortlich fühlen. Wie Caine sagt: “Der Blinde Gott ist nicht böse. Menschen sind böse. Er ist zerstörerisch, weil wir es sind.”

Acts of Caine - Ebooks
BP: Das Fantasy-Setting der Acts of Caine, Overworld, nimmt viele Traditionen des Genres auf – es gibt dort Elfen, Diebesgilden, Zwerge und vieles mehr. Aber anders als die meisten traditionellen Fantasy-Settings ist es auch ein Ort, an dem man erstaunlich moderne Fragen und Themen verhandeln kann. Wo liegen die Grenzen und Möglichkeiten der Fantasy, und muss man das Genre sehr gegen den Strich bürsten, um das Beste herauszuholen?

MWS: Grenzen der Fantasy? Macht ihr Witze? Es gibt keine.
Fantasy ist nicht einmal ein Genre. Jede Literatur ist Fantasy. Andere Literatur”genres” sind nur Fantasien, die von einer gewissen Einengung durch Klischees, Setting und Plot abgezirkelt werden. Die einzigen Grenzen der Fantasy an sich sind die Fähigkeiten ihrer Schöpfer und die Vorstellungskraft des Publikums.
Ich habe einmal eine Rezension von Blade of Tyshalle entdeckt, in der der Rezensent falsch aus einem Interview zitiert hat, das ich vor langer Zeit gegeben habe; er hat behauptet, ich hätte geschrieben: “Alles, was man über das Leben wissen muss, kann man in meinen Büchern finden.” Das habe ich nicht gesagt. Ich habe gesagt: “Alles, was man über mein Leben wissen muss, kann man in meinen Büchern finden.” [Kursiv vom Autor] Ich erhebe nicht den Anspruch darauf, tiefe Einsichten in die Wirklichkeit zu haben, oder in den Sinn des Lebens auf dieser oder einer anderen Welt; ich versuche den Leuten nur zu zeigen, was meinen Figuren widerfährt, und wie meine Figuren mit ihren Erfahrungen umgehen. Ich glaube nicht, dass es an mir ist, die “wahre Bedeutung” der Geschichte oder irgendwelcher Einzelheiten darin zu erklären; meine Aufgabe ist es, euch die Bestandteile zu zeigen, die mir bedeutsam erscheinen, und euch zu euren eigenen Schlüssen kommen zu lassen. Am ehesten erkläre ich grundlegende Wahrheiten noch, wenn ich hin und wieder verlauten lasse, woran bestimmte Figuren glauben. Es liegt an euch, zu entscheiden, wie richtig oder falsch sie liegen.
Ansonsten verweise ich auf meine Anmerkungen weiter oben zum Thema Kunst, Wahrheit und Vorstellungskraft.

BP: Wo wir gerade bei Overworld waren … wie viel davon haben wir bisher zu Gesicht bekommen? Und wie viel das Publikum von Adventures Unlimited, dem Unternehmen, das die Aktiri dorthin schickt, damit sie “auf interessante Weise das Zeitliche segnen”?

MWS: Wollen wir mal sehen. Wir waren in Ankhana, Purthin’s Ford, Thorncleft, Mithondion und der Grafschaft Faltane. Was man alles zusammen locker in einem Stück Westeuropa unterbringen könnte. Als Diskussionsgrundlage kann man sich das übrige Overworld also als “alles außerhalb von Frankreich” vorstellen.
Es ist eine große, alte Welt da draußen.

BP: In den Acts of Caine führt Eskapismus (in der Form von Unterhaltung für die unterdrückte Gesellschaft, und viel direkter für Hari) zu Ausbeutung und Schlimmerem, auch wenn die Flucht von einer gewalttätigen Neigung getrieben wird, weniger vom Wunsch nach einem sicheren Zufluchtsort. In letzter Zeit scheint eine Extra-Portion Düsternis die Antwort auf die Kritik zu sein, dass Fantasy eskapistisch ist. Ist es heutzutage einfacher, in trostlose und grausame Welten zu fliehen, im Gegensatz zu den märchenhaften Welten, die die Fantasy in der Vergangenheit dominiert haben?

MWS: Eskapismus ist nur selten vom Wunsch nach einem sicheren Zufluchtsort getrieben. Der Antrieb ist beinahe immer der Wille zur Macht. Düsternis und Gewalt sind in der Fantasy noch nie eine Antwort auf die Kritik gewesen, das Genre wäre eskapistisch; jede Fiktion ist Eskapismus. In der Fantasy dürfen wir uns zumindest in eine Wirklichkeit flüchten, in der die Figuren die Macht haben, ihr Leben zum besseren zu wenden. Was die “märchenhaften Welten” angeht, also, habt ihr in letzter Zeit mal Robert E. Howard gelesen? Oder Fritz Leiber? Stephen Donaldson vielleicht? Zum Teufel, sogar Mittelerde ist ein verfluchter Alptraum, sobald man das Auenland einmal hinter sich lässt – und die fröhliche Landadel-Behaglichkeit des Auenlands ist eindeutig nur deswegen möglich, weil Gandalf und die Waldläufer es vor dem Rest der Welt sicher halten.

BP: Jeder Roman aus den Acts of Caine (außer vielleicht Caine Black Knife, das enger mit dem Nachfolger Caine’s Law verbunden ist) hat ein zufriedenstellendes und fest umrissenes Ende. Ich zum Beispiel war sogar so glücklich mit dem Ende von Blade of Tyshalle, dass ich gezögert habe, mit Caine Black Knife anzufangen. War es für dich schwer, Neuanfänge nach dem Ende zu finden?

MWS: Nun, es gibt einen Grund, weshalb Caine Black Knife sieben Jahre nach der Veröffentlichung von Blade of Tyshalle erschienen ist … und dieser Grund heißt: den Lebensunterhalt mit Star-Wars-Romanen und etwas anderem Kram bestreiten. Es wird mir niemals schwerfallen, neue Geschichten über Caine zu finden. Aber es macht richtig viel Arbeit, sie gut zu erzählen, und es wirft nicht sonderlich viel ab.
Ich hatte niemals die Absicht, ein Serienautor zu werden. Ich hatte niemals die Absicht, Leute mehr Bücher kaufen zu lassen, damit sie herausfinden, wie eine meiner Geschichten endet – der einzige Grund, weshalb Act of Atonement in zwei Bänden erschienen ist, liegt daran, dass es eigentlich zwei verschiedene Geschichten sind, die zusammen eine größere ergeben (ungefähr so, wie sich die beiden Erzählstränge in Caine Black Knife miteinander verbinden), und ich fand keine Möglichkeit, das alles sinnvoll in einem einzigen Band unterzubringen. Davon, dass es noch länger als Blade gewesen wäre, spreche ich noch gar nicht, und es hätte einen ganz schönen Klotz von einem Taschenbuch ergeben.
Die Acts of Caine sind Bücher mit Ausstiegsoption. Leute, denen Heroes Die gefällt, müssen nicht unbedingt Blade lesen; Leute, denen HD und Blade gefallen, müssen nicht unbedingt CBK und CL lesen. Ich hoffe natürlich, dass ihr es lesen wollt – in meiner Vorstellung eines anständig geführten Universums kauft jeder, der darin lebt, jedes Buch, das ich schreibe – aber bisher habe ich versucht, euch von dem Zug abspringen zulassen, wann immer ihr haltmachen wollt.

BP: Wir wollen doch mal hoffen, dass der Zug noch etliche Stationen anfährt und eine Menge Leute zusteigen – in diesem Sinne vielen Dank für das Gespräch!

Den englischen Originaltext findet ihr hier.

Zettelkasten

Bibliotheka Phantastika gratuliert Vonda N. McIntyre, die heute 65 Jahre alt wird. Die am 28. August in Louisville, Kentucky, geborene Vonda Neel McIntyre studierte Biologie mit dem Schwerpunkt Genetik, ehe sie sich dem Schreiben zuwandte. Sie war eine der ersten Absolventinnen des Clarion Writers Workshop und gründete ein Jahr später den Clarion West Writers Workshop. Ihre erste Story “Breaking Point” erschien 1970 in dem kurzlebigen SF-Magazin Venture, auf die weitere Erzählungen in diversen Anthologien folgten. Ihren großen Durchbruch hatte sie schließlich 1973 mit der Geschichte “Of Mist, and Grass, and Sand” in der Oktober-Ausgabe von Analog (die Geschichte ist mehrfach auf Deutsch erschienen, siehe Anmerkung), für die sie mit dem Nebula Award ausgezeichnet wurde.
McIntyres erster Roman The Exile Waiting (1975; dt. Die Asche der Erde (1981)) spielt in einer der letzten Städte einer postapokalyptischen Erde und ist eindeutig der SF zuzurechnen, wohingegen ihr zweiter Roman Dreamsnake (1978; dt. Dreamsnake von Vonda McIntyreTraumschlange (1979, NA 1999)), der sich des gleichen Hintergrundszenarios bedient und in den die bereits erwähnte Kurzgeschichte “Of Mist, and Grass, and Sand” eingearbeitet wurde, sich über weite Strecken wie Fantasy liest. Dreamsnake erzählt die Geschichte der jungen Heilerin Snake (aka Schlange), die über eine von einem Atomkrieg verwüstete Erde zieht, auf der die Menschen zwar überlebt haben, die meisten aber kulturell und gesellschaftlich auf eine frühere Zivilisationsstufe zurückgefallen sind. Als Snake einen kleinen Jungen bei einem Wüstenstamm heilen will, töten die übrigen Stammesangehörigen aus Angst und Aberglaube Grass, ihre Traumschlange, deren Biss die Kranken beruhigt und ihnen die Schmerzen nimmt bzw. ihnen in aussichtslosen Fällen auch einen schmerzlosen Tod ermöglicht. Eine Heilerin braucht aber eine Traumschlange, denn ihre anderen beiden Schlangen sind Giftschlangen, die dazu dienen, Impfstoffe und Heilmittel herzustellen. Die Traumschlangen stammen allerdings nicht von der Erde und konnten bisher auch nicht gezüchtet werden, sodass Snake nichts anderes übrigbleibt, als sich zur großen Stadt aufzumachen, wo die Außerirdischen leben, die die Traumschlangen mitgebracht haben. Doch die Reise nimmt alsbald einen unerwarteten Verlauf …
Der mit dem Nebula, dem Hugo und dem Locus Award ausgezeichnete Roman bietet eine überaus gelungene Synthese aus SF- und Fantasyelementen, ein interessantes, glaubhaftes Setting und eine vielleicht ein kleines bisschen zu kompetente Heldin, schreckt aber auch vor Themen wie dem Missbrauch von Frauen und Kindern nicht zurück (die damals in der SF und der Fantasy größtenteils noch tabu waren) und liefert als Dreingabe noch einen originellen Entwurf zukünftiger menschlicher Beziehungen.
Nach Dreamsnake schrieb Vonda McIntyre ein paar Jahre lang fast ausschließlich Stories und wandte sich dann dem Star-Trek-Universum zu, verfasste beispielsweise die Novelisationen der Star-Trek-Kinofilme II, III und IV. Ein paar weitere SF-Romane folgten, doch 1997 erschien schließlich mit The Moon and the Sun ein Roman, der der (in diesem Fall historischen) Fantasy zuzurechnen ist, wobei das Fantasyelement zugebenermaßen eher gering ist. Am Hofe des Sonnenkönigs (1999) spielt größtenteils genau dort und stellt mit der 20-jährigen Marie-Josèphe de la Croix, der Schwester des Jesuiten und Naturphilosophen Père Yves de la Croix, ein weiteres Mal eine überaus – oder eher ein bisschen zu – kompetente Frauenfigur in den Mittelpunkt der Handlung. Besagte Handlung dreht sich einerseits um ein “Seemonster”, das Père Yves im Auftrag des Sonnenkönigs gefangen hat, und in dem Marie-Josèphe früher als alle anderen ein denkendes, fühlendes Wesen erkennt, andererseits um das Leben und die Ereignisse am Hofe des vielleicht schillerndsten Monarchen des 17. Jahrhunderts, und letztlich auch ein wenig um den Widerstreit zwischen Alchemie und moderner Wissenschaft. Die Szenen, in denen Marie-Josèphe und das “Monster” miteinander zu kommunizieren versuchen, sind zweifellos interessant, und der Hof von Versailles bietet einen glanzvollen Rahmen für kleine und große Gegebenheiten (und natürlich auch für eine Liebesgeschichte), aber insgesamt bewegt sich der ebenfalls mit dem Nebula Award ausgezeichnete Roman – und nebenbei bemerkt der letzte, den Vonda N. McIntyre bislang geschrieben hat – doch sehr gemächlich voran.

Anmerkung: “Of Mist, and Grass, and Sand” ist mehrfach auf Deutsch erschienen: als “Die Schlange” im Science Fiction Story Reader 11 (1979) und in der Anthologie Von Lem bis Varley (1993), als “Dunst und Gras und Sand” in der Kurzgeschichtensammlung Feuerflut (1981), und als “Von Nebel, Gras und Sand” in der Anthologie Der Plan ist Liebe und Tod (1982); die (unterschiedliche) Betitelung ist ein wunderbares Beispiel dafür, warum es für Übersetzer bzw. Übersetzerinnen manchmal sinnvoll sein kann, nicht einfach zu übersetzen, “was dasteht”, wie es manche Leser und Leserinnen immer mal wieder fordern.

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Bibliotheka Phantastika gratuliert Kerstin Ekman, die heute 80 Jahre alt wird. Manche Leser und Leserinnen mag es überraschen, diesen Namen hier zu lesen, denn die am 27. August 1933 in Risinge in der schwedischen Provinz Östergötland geborene Kerstin Lillemor Ekman ist anfangs durch Krimis, vor allem aber durch ihre literarischen Werke bekannt geworden, die sich um die mit der Industrialisierung bzw. dem Einzug der Moderne einhergehenden gesellschaftlichen Veränderungen drehen. Mit Rövarna i Skuleskogen (1988) hat sie allerdings auch einen Roman geschrieben, den man durchaus der Fantasy zurechnen kann.
Skord von Skuleskogen von Kerstin EkmanBesagter – unter dem Titel Skord von Skuleskogen (1995) auch auf Deutsch erschienener – Roman erzählt die Geschichte des Trolls Skord, der irgendwann im 14. Jahrhundert im heimatlichen Skulewald zum ersten Mal mit Menschen in Kontakt kommt. Fasziniert von diesen ihm so fremden Wesen, mischt er sich unerkannt unter sie, lebt mit Bettelkindern und Räubern, bringt es – da ein Troll viel, viel länger lebt als ein Mensch – u.a. zum Famulus eines Alchimisten, nimmt als Feldscher am 30-jährigen Krieg teil und lebt schließlich als alter Mann im 19. Jahrhundert als Medikus und Hypnotiseur in Stockholm. In all diesen Jahren ist Skord den Menschen immer ähnlicher geworden, hat lesen und schreiben und mehrere Sprachen gelernt, ohne wirklich ganz zum Menschen geworden zu sein, und sich dabei mehr und mehr von seinem ursprünglichen Selbst entfremdet. Doch ganz am Ende weist ihm eine Begegnung den Weg zurück in seine eigentliche Heimat, den Skulewald …
Kerstin Ekmans Roman besticht nicht nur durch die Geschichte Skords, durch dessen Augen wir einen Blick auf die unterschiedlichsten Menschen aus mehreren Jahrhunderten werfen können, oder durch die Auseinandersetzung mit der immer wieder gestellten und schwer zu beantwortenden Frage, was es bedeutet, ein Mensch zu sein, sondern nicht zuletzt durch die beeindruckenden Naturschilderungen, die fast schon eine Liebeserklärung an die unberührte Natur von Ekmans nordschwedischer Heimat darstellen. Skord von Skuleskogen – der unter dem Titel The Forest of Hours (1998) auch in England veröffentlicht wurde – mag am Rande des Genres angesiedelt sein, doch der Roman ist ein wunderbares Beispiel dafür, dass die europäische Folklore eine Fülle von Motiven bietet, aus denen zu schöpfen sich lohnen kann.

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Cover von The Dispossessed von Ursula K. Le GuinVor über 100 Jahren wurde Anarres, der karge Mond des fruchtbaren Planeten Urras, besiedelt. Die Kolonisten waren Ausgestoßene, Anhänger einer marxistisch-anarchischen Bewegung (Odonianismus), die auf den Mond verfrachtet wurden, um Ruhe und Frieden auf Urras wiederherzustellen – aus Sicht urrastischer Regierungen – bzw. um dort eine ideale, neue Gesellschaft zu errichten – aus Sicht der Siedler. In dieser egalitären, regierungslosen Gesellschaft ist Shevek aufgewachsen, zutiefst geprägt von Odos Idealen, doch nun möchte der berühmte Zeitphysiker als erster Anarresti wieder zurück nach Urras.

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Redemption in Indigo von Karen LordPaamas Ehemann Ansige ist eine wandelnde Fressmaschine und sich für keine Peinlichkeit und Unhöflichkeit zu schade, wenn es darum geht, seinen nimmersatten Bauch zu füllen. Nicht einmal, als Paama ihn verlässt und ins Haus ihrer Eltern zurückkehrt, ist Ruhe – denn Ansige versteht solcherlei subtile Hinweise nicht und folgt ihr kurzerhand. In ihrem Heimatdorf Makendha tut Paama alles, um nicht zum Gespött der Leute zu werden, doch längst haben sie und ihr Mann die Aufmerksamkeit der Djombi auf sich gezogen, der gestaltwandelnden, nicht-menschlichen Mächte. Diese nutzen Menschen mitunter gern für ihre eigenen Zwecke …

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In  der zweiten Ausgabe unserer Jubiläumsaktion, zehn Kurzgeschichten in jeweils zehn Sätzen vorzustellen, widmen wir uns einem Autor, der die Grenze zwischen “Hoch-” und “Genreliteratur”, die so mancher Feuilletonist gerne scharf gezogen sehen würde, ganz erstaunlich verwischt: Jorge Luis Borges.

Jorge Luis Borges: Tlön, Uqbar, Orbis Tertius
in: Jorge Luis Borges: Fiktionen, 1992, 978-3596105816

Jorge Luis Borges ist den meisten wahrscheinlich als Autor der Erzählung Die Bibliothek von Babel ein Begriff, auf die wiederum in Umberto Ecos Der Name der Rose angespielt wird.
Borges verfasste jedoch eine ganz Reihe wunderbarer Erzählungen; eine davon, nämlich Tlön, Uqbar, Orbis Tertius sei hier näher vorgestellt. Mit der Entdeckung eines eigentlich unmöglichen Artikels über das Land Uqbar in einer (wie kann es anders sein?) alten Ausgabe der Anglo-American Cyclopedia in den 1940ern beginnt eine literarische Spurensuche nach Hinweisen, die die Faszination der Recherche, des Stöberns nach mehr Information und des Aufspürens von Querverweisen wunderbar einfängt. Was nicht zuletzt an Borges’ Sprachgefühl liegt, das einen Eintauchen lässt in die Nachforschungen zu Uqbar und den Hintergründen der wissenschaftlichen Abhandlungen zu diesem unbekannten Land, seiner Gesellschaft und Kultur.
Zugleich bricht mit dieser scheinbar banalen Entdeckung aber auch das Phantastische über Ich-Erzähler sowie Leser und Leserin herein, das zunehmend schwindelerregende Ausmaße annimmt. Denn – so viel sei verraten – der nur in dieser Ausgabe enthaltene Artikel ist keineswegs ein Einzelfall und schon gar kein Versehen gewesen. Die Erzählung ist ein wunderbares Beispiel für eines der zentralen Themen in Borges’ Œuvre, nämlich die Verflechtung von Realität und Fiktion sowie das Eigenleben, das (erfundene) literarische Werke entwickeln können. Schließlich spielt Tlön, Uqbar, Orbis Tertius selbst damit, dass Autor und Erzähler ineinanderfließen, ebenso wie sich fiktive Referenzwerke zu historischen gesellen, sodass die Spurensuche zu einer wahrhaft phantastischen wird. Wem das noch nicht genug Meta-Ebenen sind, der kann sich noch den Spaß machen, die Anspielungen auf philosophische und epistemologische Strömungen weiterzuverfolgen.
Tlön, Uqbar, Orbis Tertius ist zuletzt in deutscher Sprache im Sammelband Fiktionen erschienen, der unter anderem auch Die Bibliothek von Babel enthält sowie weitere bedeutende Erzählungen, etwa Der Garten der Pfade, die sich verzweigen oder Die kreisförmigen Ruinen.

 

Eselsohr

Bibliotheka Phantastika erinnert an Wim Gijsen, der heute 80 Jahre alt geworden wäre. Der am 20. August 1933 in Zwolle in der Provinz Overijssel geborene Wim Gijsen wollte schon von Kindheit an Schriftsteller werden und hatte neben journalistischen Arbeiten u.a. bereits Kinder- und Sachbücher (über New-Age-Themen wie Meditation, Yoga oder das Leben nach dem Tod) veröffentlicht, ehe er sich Anfang der 80er Jahre des vergangenen Jahrhunderts der SF und Fantasy zuwandte und rasch einer der bekanntesten niederländischen Autoren dieser Genres wurde bzw. in den 80ern vermutlich sogar der bekannteste und erfolgreichste war. Und er zählt zur kleinen Riege der Genre-Autoren seines Heimatlands, die es zu Übersetzungen ins Deutsche gebracht haben.
Gijsens Erstling innerhalb des Genres war De Eersten van Rissan (1980), der Auftakt eines Zweiteilers, der ein Jahr später mit De Koningen van Weleer abgeschlossen wurde. Rissan (unter diesem Titel auch als Sammelband (1987)) erzählt die Geschichte von Hirdan, dem Sohn eines einfachen Handwerkers, der in dem von einer diktatorischen Priesterkaste beherrschten Stadtstaat Lhissey durch besondere Umstände zum Priesterschüler wird, sich aber – angewidert vom Kastendenken und den Methoden der Priesterschaft – schon bald mit Rhes zusammentut, einem geheimnisvollen Fremden, der sich als Archäologe für den alten, pyramidenförmigen Großen Tempel von Lhissey interessiert. Viel mehr interessieren Rhes – der von der Erde stammt – allerdings Die Ersten von Rissan, die auch als Die Könige der Vorzeit (so die Titel der deutschen Ausgaben (beide 1987)) bekannt sind. Denn Rhes stammt von der Erde, und er hofft, auf dieser vergessenen und auf eine mittelalterliche Kulturstufe zurückgefallenen Kolonialwelt wichtige Hinweise auf eine vorher existierende nichtmenschliche Zivilisation zu entdecken. Bei der sich anschließenden gemeinsamen Reise durch die Welt lernen die beiden Land und Leute kennen, und Hirdan macht eine erstaunliche Entwicklung durch. Und am Ende wird natürlich auch das Rätsel der Ersten gelöst.
Iskander der Traumdieb von Wim GijsenWährend es sich beim Rissan-Zweiteiler noch um einen SF-Roman mit Fantasy-Elementen handelt – die vergessene Kolonie ist ja fast ein Standardmotiv der planetary romance – stehen beim Iskander-Zweiteiler eindeutig die Fantasy-Elemente im Vordergrund. In Iskander de Dromendief (1982; dt. Iskander der Traumdieb (1988)) machen wir mit dem nicht sonderlich begabten Magier Iskander Bekanntschaft, der zusammen mit seinem Freund und Diener Okke durch das Inselreich Albe zieht und sich mit einfachen Tricks seinen Lebensunterhalt verdient. Eine richtige Begabung hat Iskander allerdings: er kann in die Träume anderer Menschen eindringen und sie verändern. Und diese Begabung sorgt dann auch dafür, dass sein lockeres, leichtes Leben sich eines Tages schlagartig verändert. Denn Prinz Hamlet-Alexander, der Thronfolger von Albe, wird von Alpträumen geplagt, und die Hohepriesterin Merle bittet Iskander, sich der Träume des Prinzen einmal anzunehmen. Was der Magier tut – nur um sich in der Traumlandschaft Hamlet-Alexanders plötzlich dem Wolf gegenüberzusehen, einem mächtigen Magier, der das Inselreich Albe erobern will, und dem dazu nicht nur alle Mittel recht sind, sondern der auch über sie verfügt. Verglichen mit den Möglichkeiten und Fähigkeiten des Wolfs – der über einen ganzen Kontinent herrscht und bereits eine Flotte nach Vale, dem spirituellen Zentrum Albes ausgeschickt hat – ist Iskander kaum mehr als ein kleines Licht; doch zum einen verfügt er über durchaus mächtige Verbündete, zum anderen besitzt er sehr wohl etwas, das ihm in diesem Konflikt helfen kann, beispielsweise einen hellwachen Verstand. Den – und nicht nur den – braucht er allerdings auch dringend, wenn er sich in Het Huis van de Wolf (1983; dt. Das Haus des Wolfs (1988)) daran macht, auf dessen eigenem Territorium gegen den Wolf vorzugehen.
In der aus den Bänden Keerkringen, Bedahinne (beide 1985) und Lure (1986) bestehenden Deirdre-Trilogie erzählt Wim Gijsen die Geschichte der titelgebenden Heldin, die in einer mittelalterlichen, von Männern beherrschten Gesellschaft zunächst einmal auf der untersten sozialen Stufe ihrer Welt landet, als sie aufgrund eines harmlosen Vergehens von einer Priesterin zu einer Ausgestoßenen wird. Doch Deirdre weiß die Fähigkeiten, die sie ihrer Ausbildung im Kloster verdankt, zu nutzen und wird eine erfolgreiche Händlerin. Dem Aufstieg auf der sozialen Leiter folgt allerdings bald wieder ein tiefer Fall, da ihr Erfolg bei der männlichen Konkurrenz ebenso ungern gesehen wird wie ihre Weigerung, sich mit einem der Kaufleute zu vermählen. Doch auch ihre Zeit als Tempelprostituierte geht vorüber, als sie von der Äbtissin eines weit entfernten Deirdre: Bidahinne von Wim GijsenWüstenklosters freigekauft wird. Die Reise über das Lavendelmeer und weiter durch die Wüste zum besagten Wüstenkloster bildet den Auftakt zu dem, was sich schließlich als Deirdres wahre Bestimmung erweisen wird: die zerstrittenen und miteinander tief verfeindeten Länder rings um das Lavendelmeer miteinander zu versöhnen.
In der Deirdre-Trilogie – auf Deutsch als Wendekreise, Die Sandrose und Im Reich der Zauberinnen (alle 1999) erschienen – entwirft Wim Gijsen eine nicht unbedingt originelle, aber glaubwürdig geschilderte Welt, in deren Mittelpunkt er mit Deirdre eine – in Anbetracht des Erscheinungstermins der Originalausgabe – erstaunlich selbstbewusste und starke Frau stellt, die nicht all ihre Fähigkeiten verliert, wenn ein gutaussehender Mann auftaucht, sondern sich im Gegenteil eine gleichgeschlechtliche Liebesbeziehung gönnt. Dass er darüber hinaus den Rahmen einer Fantasy-Trilogie nutzt, um Kritik an so manchen zeitgenössischen Entwicklungen zu üben, ohne dass diese Kritik aufgesetzt wirkt oder mit der eigentlichen Handlung kollidiert, ist ein weiterer Pluspunkt.
Es ist bedauerlich, dass die weiteren Werke Gijsens – v.a. die beiden Einzelromane De Rook van duizend Vuren (1984) und De Droemenwever (1988) und die aus den Bänden Een Kring van Steenen (1989), Het groene Eiland (1990) und De Ceders van Urtan (1991) bestehende Merisse-Trilogie – nicht mehr ins Deutsche übersetzt wurden. Noch weitaus bedauerlicher ist allerdings, dass Wim Gijsen bereits am 20. Oktober 1990 im Alter von gerade einmal 57 Jahren verstorben ist (den letzten Band der Merisse-Trilogie musste sein Kollege Peter Schaap beenden), denn seine auf Deutsch vorliegenden Romane zeigen ihn als einen Autor, der sich inhaltlich und stilistisch deutlich vom Gros der angloamerikanischen Fantayliteratur unterscheidet – und Vielfalt ist etwas, das man eigentlich immer und in jedem Genre brauchen kann.

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