Der Report der Magd

Bei manchen Büchern besteht die Gefahr, dass sie die Augen für Dinge öffnen, die lieber ungesehen, ungelesen bleiben wollen. Unser Buch des Monats Der Report der Magd von Margaret Atwood ist kein Buch, das sich beim Leser einschmeichelt. Es erschüttert zutiefst, ist verstörend menschlich und beschreibt schonungslos die Entmenschlichung eines ganzen Geschlechts. Es ist eine Dystopie mit Macht. Es ist eine Warnung. Aber vor allem ist es: ein unbedingt lesenwertes Buch.

Der Report der Magd von Margaret AtwoodDer Report der Magd erzählt das Schicksal einer jungen Frau, die in die Mühlen der religiös-fundementalistischen Militärdiktatur des Staates Gilead geraten ist. Sie trägt keinen Namen mehr, sondern eine Bezeichnung: Desfred – sie ist die Zweitfrau des Kommandanten Fred, oder Frederick? Wir erfahren auch seinen vollen Namen nie, Vornamen sind in der Welt von Gilead eine unaussprechliche Intimität. Desfred ist Besitz und Körper. Ihre Aufgabe ist es, dem Kommandanten ein Kind zu gebären, denn in diesem Amerika der Zukunft verzeichnet die „europide Rasse“ einen drastischen Geburtenrückgang durch Unfruchtbarkeit, Sterilität und der Kindestötungen von „Unbabys“, entstellt zur Welt kommenden Kindern. Desfred ist eine Magd: eine der wenigen noch fruchtbaren Frauen.

Die Instrumentalisierung des Geschlechts ist in Gilead absolut: Frauen sind unterteilt in unfruchtbare, aufrührerische „Unfrauen“, die in Arbeitskolonien auf den Tod warten, in „Marthas“, die als Hausdiener den Kommandanten dienen und in die „Mägde“, die der Reproduktion dienen. Angeleitet und -gelernt werden sie von „Tanten“: Frauen, die sich im Machtgefüge der Diktatur ein Stück Freiheit erkaufen, indem sie selbst zu Unterdrückern werden. Über allen stehen jedoch die Ehefrauen, die an der Seite ihrer einflussreichen Männer leben und dennoch gänzlich elend wirken, wenn sie am Geschlechtsakt zwischen Magd und Mann nur als Zuschauerin teilhaben.

Desfred besaß einst eine Familie: einen Ehemann namens Luke und eine namenlose Tochter. Sie selbst ist Tochter einer radikalen Feministin, die im Kampf für das Recht auf Abtreibung und sexuelle Selbstbestimmtheit Gilead nicht kommen sah. Als die Familie fliehen will, ist es zu spät – und der Leser durchlebt Desfreds Indoktrinierung, ihre Entfremdung von ihrem Körper, erlebt ihr Funktionieren, ihr Aufbegehren und ihr Scheitern. Doch auch wenn Desfred keine Kämpferin ist, eines erlebt der Leser nie: ihre Kapitulation. Es bleibt ihr die Flucht in Gedanken. Inmitten dieses Szenarios ist es das Erstaunlichste, dass uns Desfred vor allem eines lehren kann: Menschlichkeit.

Atwood zeichnet ihre Figuren trotz aller Radikalität wie graue Schatten: weder gut noch böse, undurchsichtig, facettenreich. Männer wie Frauen werden zu Marionetten, die ihre eigenen Fäden aus Angst vor der diktatorischen Gewalt nicht kappen. Das Machtgefüge Gileads scheint unumstößlich, und verführerisch erscheinen die Reden der „Tanten“: in der abgeschlossenen Welt von Gilead müssen sich Frauen nicht mehr fürchten, im Dunkeln auf die Straße zu gehen. Vergewaltiger werden gnadenlos verfolgt, Gewalt gegen (schwangere) Frauen mit dem Henkerstod bestraft. Es ist die diktatorische „Freiheit von“ – eine „Freiheit zu“ gibt es nur noch im Verborgenen, wo selbst die Kommandanten auf der Suche nach Jezebel sind. Die Instrumentalisierung ist absolut: denn wenn unfreiwilliger Sex der verordneten Arterhaltung dient, wird auch Liebe und sexuelle Erfüllung zum Regelbruch. Das Erschütternde des Buches ist nicht die Kühnheit des dystopischen Entwurfs, es ist seine Denkbarkeit.

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